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Schwerpunkt "Diskriminierungssensible Pädagogik"

Potenziale der Migrationsgesellschaft nutzen

Diversität findet sich kaum in Unterrichtsangeboten wieder, es wird Zeit, das zu ändern. Ein Plädoyer

Foto: Villa Global/Jugendmuseum Schöneberg

Im September des Jahres 1964 begrüßten wir in der Bundesrepublik Deutschland den Millionsten Gastarbeiter. Viele weitere Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen und nicht immer freiwillig gekommen. Sie sind geblieben, haben ihre Familien nachgeholt oder hier neue Familien gegründet. Nach der offiziellen Definition haben heute fast 22 Millionen Deutsche einen Migrationshintergrund, nicht diejenigen mitgerechnet, die in Deutschland leben und keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Aber unser Bildungssystem spiegelt diese Tatsache inhaltlich wenn überhaupt nur unzureichend!

Unterricht mal anders

So ist das Recht auf die Herkunftssprache ein Menschenrecht. Die wissenschaftlich vielfach belegten Vorteile und Notwendigkeiten, Schüler*innen in der Schule die Möglichkeit zu bieten, diese Sprachen in Schrift und Form als Teil von Unterricht fundiert zu erlernen, sind nicht nur hier mehrfach dargelegt worden. Das vorrangig angeführte Argument, es gäbe keine Lehrkräfte für diese diversen Sprachen, ist zumindest in vielen Fällen nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ falsch. In etlichen Sprachen gibt es Menschen, die entweder Lehrkräfte nach Rechtslage des Heimatlandes sind oder andere akademische Qualifikationen nachweisen können. Darüber hinaus ist mit der fortschreitenden Digitalisierung die Möglichkeit gegeben, Schüler*innengruppen so zusammenzufassen, dass auch für eher seltene Sprachen eine adäquate Lehrkraft regional übergreifend gefunden und ein Angebot unterbreitet werden kann.

Das mag anfangs eine organisatorische Herausforderung sein. Es ist jedoch unverantwortlich, sowohl gesellschaftlich als auch individuell, diese sprachlichen Ressourcen nicht zu nutzen.

Auch in den Gesellschaftswissenschaften sollten Inhalte hinterfragt werden. So gibt es zum Beispiel bei der Projektion und Zentrierung von Karten kein Richtig oder Falsch. Es sollte aber vermittelt werden, dass es viele verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu betrachten, und dass die Form der Darstellung auch immer nach Ziel und Einsatzzweck zu hinterfragen ist. Die bei uns verwandte Europa-zentrierte Weltkarte verzerrt die Größenverhältnisse nicht so erheblich wie andere. Aber die europäischen Länder werden im Vergleich zu den afrikanischen Ländern größer dargestellt.

Ein Atlas, der verschieden zentrierte Weltkarten aufzeigt, wäre eine gute Grundlage, um an Hand der Weltsicht machtpolitische und wirtschaftliche Zusammenhänge zu erarbeiten und die implizierte Einteilung in »groß = wichtig und klein = unwichtig« zumindest zu relativieren.

Es ist der natürlichen Entwicklung geschuldet, dass der Geschichtsunterricht inhaltlich immer umfangreicher und auch globaler wird. Dennoch sind die Inhalte primär an den mitteleuropäischen Schwerpunkten und Interessen ausgerichtet. Herrschaftsstrukturen, Kriegen und der daraus resultierenden Verfolgung und Flucht liegen vielfach aber dieselben Merkmale zu Grunde und fordern die gleichen Kompetenzen. Mit den bisweilen eher rudimentär behandelten Themenbereichen »Kolonialismus/Imperialismus« ist der Globalisierung und differenzierten Sichtweise nicht genüge getan. Der Umgang mit den Ureinwohner*innen Australiens, Kanadas und Amerikas weist mehr als Parallelen auf. Das Osmanische Reich ist nicht nur »die Türk*innen vor Wien« und am Ende Kemal Atatürk. Und der Nahe Osten ist nicht erst seit der Balfour-Deklaration Spielball weltpolitischer Interessen. Und warum nicht mal den Zweiten Weltkrieg tatsächlich mit dem Schwerpunkt europäischer Geschichte behandeln, statt hauptsächlich die innenpolitischen Entwicklungen in den Blick zu nehmen? Unter den Gerechten der Völker lassen sich europaweit Beispiele finden, wie sich Menschen für ihre jüdische Mitbürger*innen eingesetzt haben. Es ließen sich auch gut Handlungsspielräume im Vergleich der europäischen Staaten während der Besatzungszeit erarbeiten. Und im Deutschunterricht? Natürlich sollten in Deutschland deutsche Schriftsteller*innen wie Brecht oder Goethe im Unterricht behandelt werden, aber wo gibt es Angebote zu Khalil Gibran, Gabriel García Márquez oder Chimamanda Ngozi Adichie? Dieses breite Spektrum abzudecken, setzt natürlich Unterrichtsformen voraus, die individualisiert und differenziert sind und eben nicht erwarten, dass alle alles zur selben Zeit wissen müssen oder an den gleichen Inhalten arbeiten. Also eigentlich all das, was wir von Unterricht erwarten sollten und was zunehmend schwerer umzusetzen ist, weil es an vielem fehlt.

Eigeninitiative reicht nicht

Unser Bildungssystem funktioniert in vielen Bereichen nur deshalb, weil viele der Kolleg*innen seit Jahren versuchen, in Eigeninitiative und mit zum Teil selbstgestalteten und zusammengetragenen Materialien diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Es bedarf aber einer professionellen, differenzierten Bereitstellung solcher Materialien und eine Öffnung der Curricula einerseits, um dieser Vielfalt Raum zu geben, und einer Zuspitzung andererseits, die die Einbeziehung solcher Inhalte festsetzt. Es gibt zwar Projekte und Materialien, die eine Multiperspektivität diesbezüglich widerspiegeln, aber diese müssen breiter gestreut und allgemein zugänglicher gemacht werden.

Es müssen Fortbildungsangebote aufgelegt werden, die auf unterschiedliche globale Inhalte eingehen und eine Auswahl und deren mögliche Umsetzung aufzeigen. Die Inhalte der Fachstudien besonders für die Lehrer*innenbildung sollten diesbezüglich gesichtet werden. Wir sind hier viele Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Wurzeln. Bildung muss den Anspruch haben, diese Vielfalt auch inhaltlich abzubilden. Und ohne jetzt das Grundgesetz und das Schulgesetz über Gebühr strapazieren zu wollen: Es hat etwas mit Gleichwertigkeit, Identitätsbildung und »dem Recht der Schüler*innen auf größtmögliche Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Fähigkeiten« zu tun. Dies kann nicht nur der Eigeninitiative einzelner Schulen oder Kolleg*innen überlassen bleiben, sondern es inkludiert in das »Wir« eben auch die zuständigen Senatsstellen.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46