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Schule

Praxislernen praktisch weggekürzt

Bewährte schulische Angebote zum praxisorientierten Lernen sind bedroht– das zieht vielen Jugendlichen den Boden unter den Füßen weg.

Foto: IMAGO

Eine Mitteilung im »Tagespiegel« ließ mich innehalten. Plätze für Praktisches Lernen sollen reduziert werden. Da geht es nicht nur um Stunden in der Werkstatt oder Küche, da sind eventuell ganze Bildungskonzepte von betroffen. So könnte zum Beispiel auch das Produktive Lernen den Kürzungen zum Opfer fallen, ein Unterrichtsmodell, das nicht mit irgendeinem Fach zu vergleichen ist.

Ein Beispiel aus meiner Berufserfahrung: Viola* war meistens eine gute Schülerin, von den Mitschüler*innen gemocht und ihr Rat gern gewünscht. Als sie in der neunten Klasse schwanger wurde und auch noch der Cousin der Vater ihres Kindes, traute sie sich nicht mehr in die Schule. Alle unternommenen Versuche von Fachleuten halfen nichts. Als die Mutter vom Produktiven Lernen  an einer Schule in Schöneberg hörte, gab es vorsichtige Annäherungen. Nach zwei Jahren hat sie mit dem Mittleren Schulabschluss die Schule verlassen.

Sie war nicht die einzige Schülerin in solch einer Situation. Es gab unzählige Gründe, warum Jugendliche nicht in die Schule gehen wollten oder darin keinen Sinn sahen, es vielleicht auch Tradition in der Familie war. »Ich kann meinen Jungen gut verstehen, ich wollte auch nicht in die Schule gehen«, sagte eine Mutter in einer Fernsehrunde. 

Als wir damals anfingen mit dem Institut für Produktives Lernen in Europa (IPLE) eine erste Klasse für PL (Produktives Lernen) an der Waldenburg-Hauptschule einzurichten, war das genau der richtige Ansatz. Und nicht nur für dieses spezielle Schüler*innenklientel. Wir merkten bald, dass auch anderen die Praxisnähe sehr guttat.

Gelebte Erfahrungen in den Praktika und die anschließenden Auswertungen und Reflektionen führten über 90 Prozent der Absolvent*innen des PL in eine berufliche Ausbildung. Viele von ihnen wären vermutlich sonst ohne einen Abschluss von der Schule gegangen.

Die Stadt als Schule

In New York hatte man in den siebziger Jahren die Kinder von der Straße geholt, indem man ihnen die Stadt zur Schule machte. Das Projekt »CityasSchool« haben die Dozent*innen der Alice Salomon Hochschule in Berlin, Ingrid Böhm und Jens Schneider, zum Grundstein für das Jugendbildungsprojekt »Die Stadt als Schule« genutzt, um ein Schul- und Bildungsprojekt in Kreuzberg zu installieren, das bald über die Landesgrenzen hinaus bekannt und geachtet wurde. 

Um es aus der Exklusivität zu befreien und einer größeren Verbreitung zugänglich zu machen, haben die Protagonist*innen das Institut für Produktives Lernen in Europa gegründet, das IPLE. Aus ihm heraus entwickelte sich das Produktive Lernen. Es wurde in den 1990ern zum Regelangebot an Berliner Schulen und in den folgenden Jahren von sechs weiteren Bundesländern eingeführt.

Folgende Kompetenzen sollten vermittelt werden: Methodenkompetenzen (beispielsweise Arbeitsprozesse planen, Informationen recherchieren und aufarbeiten, Ergebnisse präsentieren), Selbstkompetenzen (wie Selbständigkeit, Selbstvertrauen, Selbsteinschätzung, Ziele setzen) und Sozialkompetenzen (wie Regeln einhalten, konstruktive Diskussionen, Toleranz, Arbeiten im Team).

Natürlich war auch die kollegiale Chemie eine unerlässliche Notwendigkeit. Das Team war klein, in der Regel zwischen drei und sechs Personen und das schützende Kollegium mitunter weiter entfernt. 

Einschnitte haben Folgen 

Da aber das Institut IPLE heißt, Institut für Produktives Lernen in Europa, gab es natürlich noch einen anderen Bezug: Europa. Der Austausch mit anderen europäischen Ländern war und ist ein fester Bestandteil der Arbeit. Es gibt Arbeitstreffen der Pädagog*innen in den unterschiedlichsten Städten Europas. Aber den Höhepunkt bildete in jedem Jahr ein Schüler*innenaustausch in einer dieser Städte. Treffen, die mit einer enormen Motivation für die Vorbereitungen verbunden waren und mit einer Fülle an Erfahrungen und Zielwünschen für die Zukunft, in der Nachbereitung. Das Produktive Lernen war für viele der Schüler*innen der Schlüssel für eine erste selbst zu gestaltende Zukunft.

Dass dieses hochwertige pädagogische Konzept im Laufe der Schulentwicklung schon einigen Veränderungen unterlegen war, muss hier leider schmerzlich angemerkt werden. Dies hat zum einen mit der Veränderung der Schulstrukturreform und zum anderen mit den für das Modell verantwortlich handelnden Personen zu tun. Aber dieses erfolgreiche pädagogische Modell jetzt in die Berliner Pädagogik-Tonne zu treten und uns, die Schüler*innen und Pädagog*innen, mit Sprech­blasen hohlster Art abzuspeisen (»Die Maßnahmen seien weder leichtfertig noch willkürlich …«), offenbart eine grenzenlose Unwissenheit über das, was die Senatsverwaltung da anrichtet.

Einem lange entwickelten, wissenschaftlich fundierten Unterrichtsmodell wie dem Produktiven Lernen, das mit Blick auf eine großstädtische Zielgruppe von Schüler*innen schon seit Jahren erfolgreich arbeitet, einfach die begleitende Fort- und Weiterbildungzu streichen, wird nicht folgenlos bleiben. Auch wenn kleine Ersatzmaßnahmen einspringen sollen, so drängt sich mir der Vergleich auf, wir ziehen dem Quantencomputer den Stecker, mit Taschenlampen können wir ja auch Morsezeichen geben.

Betreffen werden die Kürzungen hauptsächlich Praxislerngruppen und Gruppen Produktiven Lernens, also diejenigen, die am Ende der achten Klasse eine verminderte Aussicht haben, in der neunten erfolgreich zu sein, oder bei denen es von vorneherein aussichtslos sein wird. Schüler*innen am unteren Bereich der Bildungsgerechtigkeit, nicht gerade Jugendliche, die um Zehntelnoten im Abitur ringen. Gibt uns diese punktgenaue Resektion nun einen Hinweis auf die bildungspolitische Zielrichtung dieses Senates oder buchen wir das wie üblich unter unbedachter Ahnungslosigkeit ab?

*Name wurde von der Redaktion geändert.

Das Konzept des Produktiven Lernens

Das Besondere am Produktiven Lernen ist, dass die Schüler*innen drei Tage in der Woche an selbst gesuchten Praxisplätzen tätig sind und an den beiden verbleibenden Tagen in der Schule ihre in der Praxis gemachten Erfahrungen schulisch aufbereiten. 

Klassen für Produktives Lernen gibt es mittlerweile an 24 Berliner Schulen, weitere haben Interesse daran, solche Klassen einzuführen. Es sind meist Jugendliche, die sich im Regelunterrichtnicht mehr wahrgenommen fühlten, teilweise unter Mobbing und Gewalt litten, dem herkömmlichen Frontalunterricht nicht mehr folgen wollten und schließlich ihre Schulmüdigkeit vielfach mit Schwänzen äußerten. 

In den beiden Jahren, die sie in der Regel in dieser besonderen Schulform verbleiben, suchen sich die Schüler*innen insgesamt sechs unterschiedliche Betriebe, in denen sie praktisch tätig sein können. Das Schuljahr ist in drei Trimester aufgeteilt. Jedes Trimester dauert circa drei Monate, so dass die Schüler*innen in jedem Trimester neue Erfahrungen an einem anderen Praxisplatz machen. Dort werden sie von ihrer betreuenden Lehrkraft regelmäßig besucht, um mit ihnen in einer individuellen Bildungsberatung einen eigenen Bildungsplan aufzustellen, der die jeweiligen für die Schüler*in interessanten und interessierenden Themen aufgreift, die der Praxisplatz bietet. 

An den Schultagen bearbeiten die Schüler*innen dann diese Themen. Dafür stehen ihnen in einer »Lernwerkstatt« umfangreiches Lehr- und Lernmaterial, sowie ein PC-Arbeitsplatz mit Internetzugang zur Verfügung. Es versteht sich von selbst, dass dadurch das Lernen weitgehend individualisiert ist, da jede*r Schüler*in an einem anderen Praxisplatz tätig ist. Die Schüler*innen sind für die Fertigstellung ihrer Arbeit zu einem festgelegten Termin und für eine ansprechende Präsentation ihrer Ergebnisse selbst verantwortlich. Die Rolle der Lehrkraft ändert sich entsprechend: weg von der allein Wissen vermittelnden Instanz hin zu einem Coach, der individuelle Hilfen gibt, sei es bei der Überarbeitung von Texten oder bei der Beschaffung geeigneten Informationsmaterials.