Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit
Qualität braucht Strukturen
Das bundesweite Sprach-Kita-Programm schuf Rahmenbedingungen für Teamarbeit und pädagogische Entwicklung. Eine Fachberaterin und eine Fachkraft berichten über die Impulse des Programms und die Folgen seines Endes.
bbz: Wer seid ihr, und was verbindet euch mit dem Sprach-Kita-Programm?
Simone Wahl: Ich bin seit 2017 Fachberaterin im Bundes- und Landesprogramm „Sprach-Kita“. Ich arbeite beim Dachverband DaKS e.V. für Kinder- und Schülerläden in Berlin und begleite dort zwei Verbünde mit insgesamt 25 Einrichtungen. Viele davon sind selbstorganisierte Elterninitiativen. Einer meiner inhaltlichen Schwerpunkte ist die frühkindliche Mehrsprachigkeit. Genau da konnte ich im Programm viel einbringen und entwickeln.
Azadeh Pröschild: Ich arbeite in der Kita Rütli in Berlin-Neukölln. Seit 2022 bin ich dort als zusätzliche Fachkraft im Sprach-Kita-Programm tätig, davor war ich als Erzieherin Teil des Teams. Ich habe Kindheitspädagogik studiert, mit Fokus auf Mehrsprachigkeit, und auch in einer bilingualen Kita gearbeitet. Das Sprach-Kita-Programm hat mir viele neue Impulse gegeben.
Simone, was hast du konkret gemacht?
Wahl: Meine Aufgabe war vor allem, die Verbünde aufzubauen und zu begleiten – jeweils bis zu 15 Kitas pro Verbund. Die Fachberater*innen hatten eine beratende, begleitende und qualifizierende Funktion. Das ganze Programm war wie ein Kaskadensystem aufgebaut: Es gab eine wissenschaftliche Begleitung – erst PädQuis, später die Uni Graz – die uns Fachberater*innen geschult hat. Wir haben dieses Wissen dann an die zusätzlichen Sprach-Fachkräfte weitergegeben, die es wiederum in ihre Kita-Teams getragen haben. In meinen Verbünden habe ich Austauschformate organisiert, Fortbildungen angestoßen, Prozesse begleitet – immer mit Blick auf die drei Handlungsfelder des Programms: Alltagsintegrierte sprachliche Bildung, inklusive Pädagogik und Zusammenarbeit mit Familien. Dabei ging es nie um „Schema F“, sondern um maßgeschneiderte Lösungen für jede einzelne Einrichtung. Ich war Impulsgeberin, Spiegel, Vernetzerin und oft einfach da, wenn Unterstützung gebraucht wurde.
Azadeh, wie sah dein Alltag aus?
Pröschild: Ich war gruppenfrei eingesetzt und konnte so alle Teams unterstützen. Wenn eine Gruppe zum Beispiel das Thema „Wald“ hatte, haben wir gemeinsam überlegt: Wie lässt sich sprachliche Bildung darin einbauen? Ich habe Sprachposter mit Kindern gestaltet, mit der Bibliothek kooperiert und Bilderbuchkinos gemacht. Ein weiterer Schwerpunkt war die Medienpädagogik. Wir haben zum Beispiel mit Tablets oder einem Beamer gearbeitet, um neue Wege des Erzählens zu finden. Dank des Projektbudgets konnten wir uns den Beamer anschaffen. Besonders wichtig war mir auch die Zusammenarbeit mit Eltern. Wir haben Vorlesewochen etabliert, bei denen Eltern in ihrer Muttersprache vorlesen. Heute ist das ein fester Bestandteil unseres Alltags. Das alles wäre ohne die Struktur und die Ressourcen der Sprach-Kita kaum möglich gewesen.
Hatte das Programm Auswirkungen über die Kinder hinaus?
Pröschild: Absolut. Die Fortbildungen, die Zeitfenster, die Netzwerke – all das kam nicht nur uns Fachkräften zugute, sondern dem gesamten Team. Und letztlich natürlich den Kindern und Familien.
Wahl: Das war auch meine Erfahrung. Es war dieses Zusammenspiel, das den Erfolg ausgemacht hat. Die Struktur des Bundes- und Landesprogrammes - der zusätzlichen Fachkraft im Sprach-Kita-Programm und der Fachberater*innen, die Verbindung zur Wissenschaft - hat Raum für Entwicklung geschaffen. Dass sich die Fachberater*innen ganz auf pädagogische Entwicklung konzentrieren konnten, frei von Verwaltungsaufgaben, war ein wichtiger Erfolgsfaktor. Zeit, Expertise, Ressourcen, das war der Schlüssel. Viele Kitas haben diese Chance genutzt und ihre Konzeption im Hinblick auf die drei Handlungsfelder überarbeiten.
Wie hat sich das Programm entwickelt?
Wahl: Vieles hat sich verändert. Anfangs hatten nicht alle Kitas stabile Teamstrukturen. Manche mussten erst Räume für Austausch schaffen. Das hat sich aber im Laufe der Zeit enorm verbessert. Teamprozesse wurden im Verbund auch als viertes Handlungsfeld gesehen, auf dessen Basis pädagogische Inhalte ansetzen können. Viele Leitungen haben mir zurückgemeldet, dass sie durch das Programm wieder stärker in ihre pädagogische Rolle gefunden haben. Kita-Leitung ist heute oft Management – aber durch die Arbeit mit den zusätzlichen Fachkräften haben sie sich Räume zurückerobert, für Konzeptarbeit und für inhaltliche Entwicklung. Das große Themenfeld der sprachlichen Bildung wurde in den Fokus gerückt. Es war insgesamt ein Motor für die Entwicklung pädagogischer Qualität. Die Veränderung zeigt sich daran, wie mit den Kindern gesprochen wird.
Pröschild: Genau. Es ist eine Haltung. Die entsteht nicht über Nacht, sondern durch Zeit, Begleitung und einen gemeinsamen Prozess.
Das Sprach-Kita-Programm war aber immer befristet, oder?
Wahl: Genau, das Bundesprogramm Sprach-Kita war von Anfang an befristet. Die erste Welle startete im Jahr 2016. Durch die Corona-Pandemie gab es eine zweijährige Verlängerung. Danach folgten weitere Verlängerungen. Danach folgten weitere Verlängerungen. Es war ein ständiges Hin und Her. Manchmal haben wir erst im November erfahren, ob wir im Januar noch unsere Stellen behalten. Danach sollte es eigentlich mit einem stärkeren Fokus auf Teamentwicklung weitergehen. Aber das scheiterte am Finanzministerium. Die Kampagne „Sprach-Kitas retten“ rund um Erik von Malottki hat dann bundesweit für Mobilisierung gesorgt – daraus resultierte nochmals eine Verlängerung. Einige Bundesländer haben das Programm als Landesprogramm übernommen und sogar entfristet. Andere Länder, wie Berlin, haben für zwei Jahre verlängert. Im Juli 2025 läuft das Programm in Berlin aus.
Wie war das in der Pandemie?
Wahl: Das war ein ganz zentrales Thema – sowohl im Team als auch mit den Eltern. Die Pandemie hat viele Schwachstellen, aber auch Potenziale sichtbar gemacht. Als die Kitas wieder in eine Art Regelbetrieb übergehen konnten, stand die Frage im Raum: Was machen wir mit den Erfahrungen aus der Zeit davor? Kehren wir einfach zum Alten zurück – oder überlegen wir, was sich bewährt hat und was wir loslassen können? Digitale Tools, neue Kommunikationswege, mehr Elternpartizipation wurde plötzlich wichtig. Gleichzeitig war klar, das braucht Struktur, Reflexion, Begleitung: Was war früher hilfreich? Was möchten wir behalten? Was nicht? Was kam neu hinzu? Genau das konnte das Programm leisten. Solche Fragen habt ihr euch sicherlich auch gestellt – auch mit Blick auf Strukturen, die vielleicht nicht wiederbelebt werden müssen.
Pröschild: Ja, wir haben schnell gemerkt, dass wir neue Wege brauchen, um mit Eltern und Kindern in Kontakt zu bleiben. Gleichzeitig stellte sich die Frage: Wer übernimmt diese Aufgaben, wenn alle im Gruppendienst eingespannt sind und die Leitung andere Aufgaben hat?
Es fehlte im Team eine Zwischenebene – ich habe diese Rolle übernommen und zwischen Leitung und Gruppen vermittelt. Ich habe digitale Formate ausprobiert, mehrsprachige Infos erstellt, Elternabende online angeboten. Das war herausfordernd, aber auch eine große Chance, Prozesse neu zu denken. Unser konzeptioneller Schwerpunkt war schon immer die Sprachförderung. Das Sprach-Kita-Programm hat uns Zeit gegeben, um über Inhalte nachzudenken. Das ist im Alltag keineswegs selbstverständlich. Diese Zeit für Reflexion hat unsere Arbeitswelt tatsächlich verändert.
Im Alltag bleibt oft kaum Zeit für konzeptionelle Arbeit oder gemeinsame Reflexion.
Pröschild: Ja, die Vor- und Nachbereitungszeit nutzt meist jede*r für sich. Aber wir haben die Teamzeiten gezielt eingesetzt. Ich habe unser gemeinsames Thema – das Sprachprogramm – immer wieder präsent gemacht, meine Ziele geteilt und um Unterstützung gebeten. Das Team hat eigene Erfahrungen eingebracht und wir haben unser Konzept gemeinsam weiterentwickelt.
So ist unsere Vorlesewoche entstanden. Anfangs war es meine Initiative, inzwischen bringt jede*r eine Idee mit. Diese Entwicklung ist nicht selbstverständlich – dafür braucht es jemanden, die*der Ressourcen bündelt. Und für uns war das Sprachprogramm dabei immer der rote Faden.
Was bedeutet das Auslaufen der Sprach-Kitas?
Pröschild: Es ist ein großer Verlust. Nicht nur für mich persönlich, sonder für das Team, die Familien, die Kinder. Ich kann mir unsere Kita ohne diese Funktion nicht mehr vorstellen. Die Eltern haben sogar eine Petition gestartet, weil sie gesehen haben, was dadurch möglich wurde. Natürlich geht der Alltag weiter – aber dieser ständige pädagogische Blick, dieses bewusste Nachdenken über Qualität und das Kind im Zentrum, das wird weniger. Ich wünsche mir sehr, dass Träger und Politik erkennen, wie wichtig solche Strukturen sind. Pädagogische Qualität entsteht nicht nebenbei, sie braucht Zeit, Reflexion und Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
Wahl: Ich sehe viele Dinge, die fehlen werden. Gerade in den Abschlussgesprächen wurde mir oft gespiegelt, wie sehr die regelmäßigen Fachberatungsmomente geschätzt wurden. Wir haben gemeinsam Situationen reflektiert und Lösungen gesucht. Dieses vertrauensvolle Miteinander, das über Jahre gewachsen ist, fällt jetzt weg. Und mit mir eine Ansprechperson, bei der man wusste: Man kann einfach anrufen, einen Besuch absprechen oder sich schnell rückkoppeln.
Was ich auch beobachtet habe: Viele Kolleg*innen haben als zusätzlichen Fachkraft ihre Berufung wiedergefunden. Endlich hatten sie Zeit für die pädagogische Weiterentwicklung. Die Arbeitszufriedenheit war hoch, die Personalbindung wurde gestärkt. Viele wissen nicht, wie es weitergeht. Manche bleiben, andere verlassen das Feld. Kolleg*innen mit befristeten Verträgen können sich oft nicht vorstellen, in die reguläre Erziehertätigkeit zurückzukehren. Das betrifft nicht nur die zusätzlichen Fachkräfte, sondern auch uns als Fachberater*innen. In Berlin stellt sich die Frage: Wo können wir mit unserer Expertise jetzt hin? Unsere Arbeit war nicht nur „Sprachberatung“ – ich habe beispielsweise auch viel Organisationsentwicklung gemacht. Diese Breite wird oft unterschätzt. Es fehlt außerdem der Transfer. Zehn Prozent aller Kitas bundesweit, in Berlin rund 300 von etwa 3.000, waren Sprach-Kitas. Doch wie wurde dieses Wissen weitergegeben? Einige Träger haben versucht, das intern zu übertragen, auch für Kitas, die nicht am Programm teilnahmen. Manche Fachberater*innenteams haben das auch unterstützt. Aber flächendeckend? Nein, das war nicht leistbar. Nicht in dieser Struktur. Es fehlt nun an Anschlussstrukturen, an Strategien. Dabei war das Wissen da, aber es wurde nicht systematisch gesichert. Das ist ein großer Verlust.
Pröschild: Generell wurde über das Sprach-Kita-Programm wenig gesprochen – auch in Fachzeitschriften. Dabei war es ein Feld, mit dem man sehr viel im pädagogischen Alltag bewirken konnte. Es ging nicht nur darum, Alltagsprobleme zu lösen, sondern langfristige Perspektiven zu schaffen. Ich kenne eine Kita meines Trägers im sozialen Brennpunkt. Dort haben zum ersten Mal seit Jahren 40 Prozent der Kinder die Sprachstandserhebung erfolgreich abgeschlossen. Das ist eine Zahl – aber der Prozess dahinter, wie viele Jahre die Kita daran gearbeitet hat, wie sie mit den vorhandenen Ressourcen an diesen Punkt gekommen ist – das ist eine enorme Leistung. Das Sprach-Kita-Programm hat dabei einen wichtigen Beitrag geleistet. Diese Aspekte müssen festgehalten und reflektiert werden. Das Thema pädagogische Qualität ist präsent – und dieses Programm war ein Teil davon. Warum also jetzt all diese qualifizierten Fachkräfte ohne Perspektive ins Feld zurückschicken?
Versuchen Träger, die Stellen zu erhalten?
Wahl: Ja, einige – aber das ist oft schwierig. Gerade kleine Einrichtungen wie Kinderläden können nur wenige Stunden finanzieren, aber das ist dann keine feste, tragfähige Position, sondern eher ein Zusatzangebot. Gleichzeitig ändert sich die Finanzierungslage: Zuschläge fallen weg, die Neuregulierung mit dem sogenannten „Partizipationszuschlag“ ist noch unklar – weder die Höhe noch die Vergabekriterien sind derzeit bekannt. Viele Träger stehen vor einer Phase großer Unsicherheit und das erschwert langfristige Planung, sowohl für Kitas als auch für die Fachkräfte, gerade in dieser Übergangsphase.
Pröschild: Es stellt sich die Frage: Was machen wir mit unserer Expertise? Ich weiß noch nicht, wie es nach dem Sommer weitergeht. Ich hoffe, dass ich meine Schwerpunkte weiter einbringen kann. Aber sicher ist das nicht.
Was müsste passieren, damit das Erreichte bleibt?
Wahl: Ich bin gespannt, was sich bis Sommer 2026 zeigen wird. Dann wird man zurückblicken und sehen, was sich verändert hat. Besonders in den Kitas, in denen – wie bei Azadeh – viel passiert ist, wird der Unterschied spürbar werden. Das Programm hatte immer das Ziel, Kompetenzen ins Team zu transferieren – und in vielen Kitas trägt dieser Transfer jetzt noch. Ist die Konzeption Thema bei Teamsitzungen? Bringt jemand fachliche Impulse ein? Es braucht eine Strategie – keine Einzelmaßnahmen. Kita ist ein sozialer Ort, an dem Selbstwirksamkeit erfahren werden kann. Gerade in einem so diversen Bundesland wie Berlin braucht es eine fundierte Mehrsprachigkeitsstrategie. Das Berliner Bildungsprogramm greift die Thematik zwar auf, doch ohne praktische Umsetzung, ohne Menschen, die das ins Team tragen, bleibt es Theorie.
Pröschild: Ich hoffe sehr, dass sich unser Blick auf Kita verändert. Es geht darum, Kita als sozialen Ort ernst zu nehmen – als Raum, in dem Kinder wachsen, sich ausdrücken, sich zugehörig fühlen. Das Sprach-Kita-Programm war ein Beispiel dafür, wie man gezielt in Qualität investieren kann. Jetzt müssen wir entscheiden: Wollen wir diesen Weg weitergehen – oder lassen wir die Erfahrungen verpuffen?
Du hast auch Kooperationen mit Bibliotheken erwähnt – solche Netzwerke bringen viel Leben in die Kita.
Pröschild: Absolut. Solche Kooperationen bereichern den Alltag sehr. Aber die Frage ist: Wer hat überhaupt die Kapazitäten, das umzusetzen?
Das Thema Fachartikel ist vielen vertraut – man hat oft Material zur Verfügung, aber kaum Zeit, sich wirklich damit zu befassen.
Pröschild: In meiner Rolle musste ich mich damit auseinandersetzen – bei jeder Dienstbesprechung sollte ich ein neues Thema einbringen. Also habe ich Artikel gelesen, zusammengefasst und in fünf Punkten aufbereitet. Das war kein Frontalvortrag, sondern ein Impuls für die Diskussion im Team. Solche kleinen Anstöße wirken langfristig und verbessern die pädagogische Qualität.
Wahl: Dass nicht erkannt wurde, wie sehr dieses Programm zur Personalbindung beigetragen hat, ist ein Fehler. Viele Kitas wollten genau deshalb mitmachen – um bestimmte Teammitglieder halten zu können. Und das hat funktioniert. Aber durch die ständigen Unsicherheiten sind auch viele Fachkräfte verloren gegangen – zumindest für die jeweilige Kita. Wir müssen uns fragen: Wie machen wir Kitas zu attraktiven Arbeitsorten?
Pröschild: Genau. Viele meiner Kolleg*innen sind seit 20 Jahren dabei – die haben eine andere Perspektive. Aber junge Fachkräfte sagen oft: „Wie soll ich das 20 Jahre machen?“ Ich sage ihnen: So darf man nicht über den Beruf denken. Aber wir müssen das Berufsfeld attraktiver machen. Die jungen Leute sind digital, vernetzt, mehrsprachig. Und dann kommen sie in Kitas, in denen sie nach drei Jahren aufhören wollen. Dabei sind sie eine riesige Ressource.
Wahl: Es gibt in Kitas wenig Entwicklungsmöglichkeiten. Aber diese Rolle als Fachkraft war auch eine Form von Karriere. Früher hatten Kitaleitungen noch Zeit für diese Kernaufgabe. Entweder man entlastet sie – oder schafft neue Rollen wie die Fachkraft Spach-Kita. Sonst bleibt eine Lücke. Und diese Lücke kostet letztlich das System viele gute Leute.
Vielen Dank für eure Einblicke – und eure engagierte Arbeit. Man merkt, wie viel euch das Thema bedeutet.