Schule
Raus aus der KI-Hilfslosigkeit
Künstliche Intelligenz stellt die Schule vor gewaltige Herausforderungen. Wir müssen uns ihnen stellen und die Art des Lernens verändern.
Dass der Einzug von KI in unsere Lebenswelt die Schule auf den Kopf oder zumindest vor erhebliche Herausforderungen stellt, versuchen mittlerweile die allerwenigsten zu negieren. Wenn also Frau Bundesbildungsministerin in diesem Sinne mal wieder einen zitierfähigen Einzeiler zum Besten gibt, ist das nicht etwa sozial-diskursive Avantgarde, sondern gesellschaftlicher Konsens. Bravo!
Schule muss nunmehr auf ein mündiges Zusammenleben mit dieser Realität vorbereiten, das stimmt sicherlich. Aber ich frage mich allen Ernstes, ob unsere Zunft es sich da vielleicht an der einen oder anderen Stelle nicht gerade zu einfach macht und wir uns die problematischen Facetten mit schlag- aber auch leichtfertiger Jargon-Eloquenz vom Leibe zu reden versuchen. Das ist übrigens das Geheimnis hinter dem Überdauern des Brontosauriers, der preußischen Institution Schule, bis in die Gegenwart: den rasanten Wandel der realen Welt immer wieder dahingehend einzuordnen, sich selbst möglichst wenig verändern zu müssen.
Ich beschränke mich zunächst auf mein eigenes Metier: Fach Deutsch, eine der fünf Kompetenzen, das Schreiben. Genau das kann diese KI ja so unfassbar autonom. Natürlich sind die Texte nicht perfekt, jedoch definitiv um einiges besser als das, was optimistisch geschätzt berlinweit 80 Prozent der Lernenden in der Mittelstufe selber produzieren könnten und/oder wollten. Die Lernenden wissen das natürlich auch und entsprechend groß ist da die Verlockung, Schreibaufträge aller Art per Prompt an den Chatbot outzusourcen.
Texte schreiben old school lernen
Da, wo Not ist, kommen jedoch schnell die rettenden Epiphanien der pädagogisch Handelnden auf den Plan: »dann sollen sie halt KI-generierte Texte analysieren oder gar beurteilen«. Das ist alles schon so hoch angesiedelt im Universum der Anforderungsbereiche und hört sich so geil an, dass man sich fast einen Anflug von Größenwahnsinn bei den Exzellenzerwartungen an den eigenen Unterricht gönnen möchte. Einige sagen es ja wiederum ganz offen: die Hoffnung ist, dass die Lernenden dann eben so, also auf diesem Wege, das Produzieren von Texten erlernen. Kann das aber wirklich funktionieren?
It’s not gonna happen – und es ist ja eigentlich auch so trivial, dass ich dabei struggle, meinen Standpunkt ohne einen Anschein von Überheblichkeit darzulegen. Vielleicht hilft ja dieses Bild: Zum Schreiben braucht man einen Bleistift und der ist eben nur dann zum Schreiben geeignet, wenn er nicht stumpf, sondern angespitzt ist. Der Anspitzer steht hier für das Erlernen des Schreibens, und zwar von der Pike: zuerst der Hauptsatz (ihn selber schreiben können, versteht sich), dann das Satzgefüge (kriegen Jonas und Lena aus deiner 8. Klasse das syntaktisch überhaupt im formalen Register mit mehr als zwei Sätzen zusammengebaut?), dann erst die Kohärenz und Kohäsion im Absatz und viel, viel später dann im längeren, wirklich zusammenhängenden Text der Feinschliff, zum Beispiel in Form so einer geschickt gesetzten, subtil ironischen Pointe am Textende, die auf den Anfang verweist und den Textkreis schließt? (Sorry, mitten im Delir ertappt!) Wortschatz und Grammatik haben wir nebenbei ganz ausgelassen.
Warum dieses durch repetitives, konditionierendes Üben, was übrigens die psychologische Definition von »Lernen« ist, verinnerlichte Wissen denn überhaupt nötig sei und man es all die Jahre überhaupt so gehandhabt hat mit dem Texteschreiben in Schule? Nun ja, genau aus dem gleichen Grund, warum man für eine Zeitung erst viele Texte geschrieben haben muss, bevor irgendwann der erste so gut ist, dass er veröffentlicht wird; oder bevor man erst viel, viel später als Redakteur*in zielführend über die Texte anderer urteilen kann. Und nun sollen Schüler*innen Texte analysieren und auf diesem Wege Texte schreiben lernen?
Mehrwert gesucht
Nein, eigentlich stellt uns die KI vor ein ganz anderes Problem: da sie es den Lernenden nämlich nunmehr technisch ermöglicht, binnen Sekunden nahezu jegliche unliebsamen Arbeitsaufträge in unserem textlastigen Lerndispositiv loszuwerden, werden sie unsere Aufträge nur dann für sich annehmen und eigenhändig ausführen wollen, wenn sie in ihnen für sich selbst einen Mehrwert erkennen. Und eben das tun sie sehr oft nicht. Aber nicht erst, seitdem es Chat-GPT gibt, sondern schon seit Langem. Die Verantwortung für dieses neue alte Problem nun einzig auf die Lehrkraft zu übertragen mit dem Auftrag, ihre Klassen so mitreißend zum Verzicht auf die KI zu motivieren, dass unter den Stiften plötzlich die Funken fliegen, erscheint mir daher der falsche Ansatz. Das ist nämlich nicht das entscheidende Problem.
Ein entscheidendes Problem ist, dass Schüler*innen gelernt haben, Leistungen als eine Währung im Tausch für Noten im Tausch für was auch immer zu begreifen und diesen Tauschhandel als den Sinn von Schule verstehen. An einigen sogenannten alternativen Schulformen, zum Beispiel Montessori oder Finnland, macht man hingegen wohl ganz gute Erfahrungen damit, Noten erstmal für bis zu neun Jahre ganz außen vor zu lassen, weil dann unter Einräumung entsprechender individueller Freiräume so etwas wie eine intrinsische Motivation für das Lernen entstehen und sich dauerhaft als Lernantrieb festigen kann. Wäre das vielleicht was für uns?
Ein anderes Problem ist, dass weite Teile des unsere Lehrpläne imprägnierenden bürgerlichen Bildungskanons in der Schüler*innenschaft in etwa auf so viel Resonanz stoßen wie das deutsche Steuerrecht in Panama. Ausgerechnet an einem Netz elitärer Privatschulen in Hessen wurde daher ein alltagsbezogenes Fach »Fit for Life« eingeführt – Aufnahme bei den Jugendlichen durchweg positiv.
Lernen mit Lebensführung verbinden
Oder da war doch vor einigen Jahren mein Q3-Schüler, nennen wir ihn Julius, der dienstags immer wieder zu spät zu seiner ersten, meiner dritten, Stunde kam, wohl von Depression geplagt war und diese eben mit Cannabis-Konsum regulierte, wie er mir im Gespräch anvertraute. Ich erklärte ihm daraufhin das Zusammenspiel zwischen Drogenkonsum und dem Umgang mit den eigenen Bedürfnissen, die Wirkungsweise von Downern sowie einige Indikatoren für die Einschätzung des eigenen Konsums auf dem Gradienten Gebrauch – Missbrauch – Sucht; und er fragte mich geradeheraus, warum das alles nicht Thema in seinem Unterricht der Oberstufe gewesen sei.
Ich würde sagen, dass Julius – so er dieses Jahr Abitur machte – für seine 5. Prüfungskomponente eine KI mit der Recherche zum Thema Neurotransmitter X und Substanz Y beauftragen würde, aber alles zu geben bereit wäre, wenn er die Fragestellung für sich als wirklich lebensrelevant betrachtete.
Will Schule die Möglichkeit, Lernen und Lebensführung bedeutungsvoll miteinander zu verbinden, wirklich nicht wahrnehmen? Ist es nicht schlichtweg dumm, eine Ressource mit solcher Hebelwirkung einfach zu verwerfen?
Anstatt uns inmitten der neuen, realen KI-Hilflosigkeit mit einer schönen Mär der tollen Potentiale in den nächsten fatalen Fehlschluss zu retten, sollten wir dankbar sein für diese Veranlassung, die tief gelagerten Systemprobleme mal wirklich an der Wurzel zu packen. Wir – das sind übrigens nicht die Pädagog*innen alleine: denn wir sind so sehr mit Arbeit zugeschüttet, dass uns für auf unseren fundierten Visionen fußenden Transformationsbestrebungen kaum Zeit bleibt.
Systemisch ist so ein modernes Grassroot-Gedöns ja eh weder gewollt noch möglich – zumindest solange man Frankenstein in Bezug auf unser monströses, preußisches Bildungssystemrelikt mit dem Zitat »it’s alive« bemühen kann. Da ist Chat-GPT durchaus näher an der Gegenwart und hat uns einiges voraus. Als Gesellschaft sollten wir uns also sputen mit dem Umdenken und dem Handeln, wenn nicht auch dieser Zug ohne uns abfahren soll.