Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit
Ruheoasen im Kita-Alltag
Achtsamkeitsübungen schaffen Entlastungen für Pädagog*innen und helfen Kindern, ihre Gefühle wahrzunehmen und miteinander sensibel umzugehen.
Montagmorgen, 8:00 Uhr. Sylvia ist bereits mit sieben Kindern im Alter von zwei bis fünf Jahren allein. Ein Kollege hat sich krankgemeldet und sie wartet auf Verstärkung, während vier Kinder ihr mitgebrachtes Frühstück essen. Bei einem Kind kippt der Becher um und das Wasser bahnt sich seinen Weg. Das Kind weint. Sylvia tröstet, beruhigt und wischt. Währenddessen fangen zwei Kinder am Tisch an, sich zu hauen. Kind X fand die Frühstücksbox von Kind Y einfach interessanter als die eigene und hat beherzt zugegriffen. Sylvia versucht zu schlichten. Sofort wird das nächste Kind gebracht, das gerade erst eingewöhnt wurde und am liebsten sofort auf Sylvias Arm möchte. Der Vater hat einige Infos für Sylvia und ist selber noch unsicher. Der Abschied fällt auch ihm schwer. Gleichzeitig kommt es auf dem Bauteppich der Kinder, die nicht frühstücken, zu einem Streit, weil Kind A den Turm von Kind B umgekippt hat. Zum Glück kommt jetzt die Kollegin.
Sylvias Herz schlägt schneller und sie bemerkt erste Anzeichen von Kopfschmerzen. Sie nimmt bunte Tücher aus dem Schrank und verteilt diese an alle Kinder. Kleine Hände knüllen die Tücher wie zerknittertes Papier zusammen. »Jetzt pusten wir«, sagt Sylvia. Die Kinder kennen das schon. Sie pusten in die zusammengefalteten Hände hinein und öffnen sie dann sachte und langsam. Die Tücher bewegen sich wie in Zeitlupe und füllen die Kinderhände wie aufgehende Blüten. »Blume!«, ruft ein Kind. Sylvia atmet tief durch. Im Raum ist es kurz still. Was hat Sylvia gemacht? Eine kindgerechte Achtsamkeitsübung. In diesem Fall eine Notlösung und eine Erleichterung für alle. Sylvia nutzt Achtsamkeitsübungen, um Ruhe und einen sensibleren Umgang miteinander zu schaffen. Sie baut die Übungen in den Morgenkreis, in die Snackpausen, vor dem Basteln oder spontan in Belastungssituationen, wie dieser, ein. Aber was bedeutet »Achtsamkeit«?
Gefühle spüren und loslassen
Das Konzept der Achtsamkeit geht maßgeblich auf den buddhistischen Mönch Thich Nhat Hanh zurück. Achtsamkeit sollte dazu dienen, meditative Haltungen für alle zugänglich zu machen, ohne sich vom Leben zurückziehen zu müssen. Laut Thich Nhat Hanh ist »die erste Funktion der Achtsamkeit, Emotionen zu erkennen, nicht gegen sie zu kämpfen«. Kinder bekommen im Alltag des Öfteren zu verstehen, dass ihre Gefühle nicht gut oder erwünscht sind (»Hör auf zu weinen!«). Oftmals haben die Erwachsenen selber Schwierigkeiten, starke Gefühle zuzulassen und zu verarbeiten und können deshalb schwer mit starken Emotionen bei Kindern umgehen. Durch Achtsamkeit lernen die Kinder ihre Gefühle zu spüren, diese ohne Wertung anzunehmen und anschließend loszulassen, oft mit Hilfe des Atems oder von Körperbewegungen.Durch die Achtsamkeit sich selbst gegenüber wird der Selbstwert der Kinder gesteigert. Den Kindern wird vermittelt: Du bist okay so, wie du bist.
Atme ein, atme aus
In unseren Schulen und Kitas herrscht ein hoher Druck, der strukturelle Veränderungen erfordert. Während dieser Prozess läuft, stehen die Pädagog*innen mitten im Trubel und sind häufig allein für zu viele Kinder verantwortlich. Auch die Bedürfnisse der Familien müssen im Sinne einer gelungenen Erziehungspartnerschaft berücksichtigt werden. Den Pädagog*innen wird dabei viel abverlangt, oft gleichzeitig.
Achtsamkeitsübungen können hier Abhilfe schaffen, indem sie kleine Ruheoasen schaffen, in denen Kinder und Erwachsene durchatmen, sich spüren und ihre Umgebung bewusster wahrnehmen. Dies führt zu weniger Reaktivität und Konflikten. Für Pädagog*innen bedeuten diese kleinen Veränderungen eine spürbare Reduktion des wahrgenommenen Stresses. Wer für Kinder da sein will, muss auch für sich selbst sorgen können – Atemzug für Atemzug.
Übungen für Achtsamkeit
Neben zahlreichen Fortbildungsmöglichkeiten zum Thema »Achtsamkeit mit Kindern« sowie der Möglichkeit, externe Lehrende für Kinderyoga oder Achtsamkeitseinheiten in die eigene Praxis einzubinden, existieren zahlreiche Übungen, die sofort im Kita-Alltag umgesetzt werden können. Wer Achtsamkeit in den Kita-Alltag integrieren möchte, kann auf folgende Übungen mit oder ohne Material zurückgreifen.
Rachel Brooker und Anne-Christin Künzer teilen gerne ein PDF mit weiteren Achtsamkeitsübungen für den Kita-Alltag auf Anfrage per Email. www.turiya.berlin, info(at)turiya(dot)berlin
Wackelpudding
»Kennt ihr Wackelpudding? Wunderbar! Dann zeigt mir doch, wie es aussieht, wenn ihr wie ein Wackelpudding wackelt. Schüttelt euch von Kopf bis Fuß. Schüttelt, wackelt, vielleicht auch das Gesicht? Dann komm wieder zur Stille. Wie fühlt sich dein Körper jetzt an?«
Mut-Mudra
Affirmationen (positiv formulierte und autosuggestive Sprüche) können wunderbar in den Kindergarten-Alltag integriert werden.
Mudras sind Fingerhaltungen (»Yoga für die Finger«), die Kraft und Ruhe verleihen können, wenn es vielleicht mal wieder etwas drunter und drüber geht. Ein Beispiel ist das »Mut-Mudra«. Aber vielleicht findet ihr, möglicherweise auch gemeinsam mit den Kindern, noch weitere positive Sprüche, die besser zu euch passen.
Findet, wenn möglich, einen bequemen Sitz. Legt jeweils Zeigefinger und Daumen zusammen. Die übrigen Finger sind locker gespreizt. Sprecht laut »Ich«. Jetzt berühren sich Mittelfinger und Daumen. Sprecht laut »bin«. Nun legt ihr den Ringfinger auf die Daumen. Sprecht laut »ganz«. Als letztes verbindet ihr die kleinen Finger mit dem Daumen. Sprecht laut: »mutig«. (vgl. A. Helten, S. 106)
Vulkan
»Kennt ihr das, wenn ihr richtig wütend seid? Dann hat man manchmal das Gefühl, dass man gleich explodieren müsse. Auf friedliche Weise können wir als Vulkan Dampf ablassen.
Wir stellen uns alle hin und führen die Arme vor dem Brustkorb zusammen, so dass die Fingerspitzen sich berühren.
Wir hüpfen hoch und landen mit geöffneten Armen und Beinen. Jetzt legen wir die Handflächen vor der Brust zusammen (»Namaste«), atmen ein und heben die Hände über den Kopf. Wir atmen aus und lassen die Hände explodieren, indem wir sie lang zu beiden Seiten ausstrecken.
Anschließend lassen wir die Hände seitlich sinken, legen sie wieder vor dem Herzen zusammen und explodieren erneut. Ihr könnt laute Explosionsgeräusche machen, hoch hüpfen, rufen, worüber ihr euch geärgert habt (keine Schimpfwörter!). Wenn euer Ausbruch zu Ende ist, schließt ihr wieder eure Füße und kommt in die Berghaltung.«