Schule
Schule als datengetriebenes System
Die neue Koalition will bundesweit Schüler-IDs einführen. Diese könnten bald Selektion und Förderung steuern – mit weitreichenden Konsequenzen.
Ärzt*innen sorgen sich um den Schutz von Gesundheitsdaten in der elektronischen Patient*innenakte (ePA). Anlass sind unter anderem Sicherheitslücken, die der Chaos Computer Club aufgedeckt hat. Praxen und Kliniken müssen Arztbriefe in die Patient*innenakte hochladen, die oft sensible Informationen zur Krankheits- und Lebensgeschichte enthalten. Haben Sie diese Meldung Anfang des Jahres wahrgenommen? Und wissen Sie, dass Sie aktiv gegen die Einspeisung Ihrer Gesundheitsdaten in die E-Akte widersprechen müssen? Es geht in diesem Artikel nicht um Gesundheitspolitik. Dennoch lohnt sich ein Blick in ein anderes Politikfeld, um abzuschätzen, in welche gesellschaftspolitische Richtung wir uns bewegen.
Unter dem Titel »Lehren und Lernen in der digitalen Welt« hat die Kultusministerkonferenz (KMK) schon im Dezember 2021 weitreichende Überlegungen zum Thema »Monitoring und Bildungsdaten« angestellt. Ein Monitoring der zentralen Kompetenzen der Schüler*innen wird länderübergreifend empfohlen. Darüber hinaus sollte diskutiert werden, inwieweit auch die Kompetenzen der Lehrkräfte in einem länderübergreifenden Monitoringkonzept verankert werden können. Im Beschluss der KMK wird vorgeschlagen, möglichst viele Aspekte des Lernens und Lehrens in quantifizierbare Daten umzuwandeln, die digital verfolgt, überwacht und analysiert werden können. Im Klartext heißt das: Die Schule soll zu einem datengesteuerten Unternehmen umgebaut werden und die Schüler*innen werden das Produkt.
Das Schulsystem Großbritanniens unterliegt bereits seit Jahrzehnten marktwirtschaftlichen Mechanismen. Dort ist es üblich, Zielvereinbarungen – sogenannte target settings – zwischen Schulen und Schüler*innen auf der Basis von digitalen Leistungsdaten zu treffen. Die Schüler*innenleistungen werden jeweils beim Erreichen der Altersstufen 7, 11 und 14 Jahre nach einer von der Zentralregierung vorgegebenen Acht-Punkte-Skala bewertet. Die Ergebnisse und die Noten bilden die Grundlage für eine Leistungsbewertung sowohl der Schüler*innen als auch der Lehrkräfte. Diese werden in Form von Ranglisten veröffentlicht. Da damit die Schulen selbst und die Lehrkräfte unter dem Druck von Leistungsvergleichen stehen, gibt es einen Interessenkonflikt. Hinter ehrgeizigen Leistungszielen für Schüler*innen verbergen sich mitunter nicht minder ehrgeizige Ziele der Schulen, ihr Leistungsimage in der Öffentlichkeit zu verbessern.
Der optimierbare Mensch dient als pädagogisches Menschenbild
In einer Veröffentlichung der Wübben-Stiftung haben sich die derzeitigen Bildungsministerinnen Theresa Schopper (Grüne), Karin Prien (CDU) und Stefanie Hubig (SPD) parteiübergreifend auf messbare Bildungsziele verständigt, die bis 2035 bessere Bildung garantieren sollen. Kernpunkt ihres Impulses ist die digitale datengestützte Überwachung von Schüler*innenleistungen.
In ihrer Darstellung handelt es sich bei dem Paradigmenwechsel um die Hinwendung zu einer »Kultur der Evaluation und Verantwortung«: »Wir etablieren eine Kultur der Evaluation und der Verantwortung und wechseln zu einer datengestützten Entwicklungs- und Lernverlaufsdiagnostik, die den gesamten Bildungsverlauf im Rahmen einer kohärenten Datenstrategie berücksichtigt, und stellen sicher, dass in den Bundesländern die rechtlichen und technischen Voraussetzungen dafür geschaffen werden.«
Bildungsministerinnen träumen von Bildungs-ID für jedes Kind
Ideal wäre für sie »eine Bildungs-ID für jedes Kind, die anonymisiert den Bildungsverlauf dokumentiert. Diese „Bildungs-ID“ hat es inzwischen in den Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD geschafft. Darin heißt es auf Seite 72: “Die Einführung einer zwischen den Ländern kompatiblen, datenschutzkonformen Schüler-ID unterstützen wir.”
Daneben könnten Förderbedarfe oder bereits in Anspruch genommene Hilfs- und Unterstützungsangebote vor allem für den Übergang dokumentiert werden, um die Kinder im multiprofessionellen Team an der Schule, aber auch mit den weiteren Hilfs- und Unterstützungsangeboten etwa der Kinder- und Jugendhilfe noch gezielter begleiten zu können.«
Die Vorteile der Datenstrategie werden am Beispiel der Hilfen für förderbedürftige Schüler*innen erläutert. Doch sind nicht auch andere bildungspolitische Anwendungen denkbar? Ist die Vorstellung zu weit hergeholt, dass für Selektionsentscheidungen im selektiven Schulsystem, das die drei Schulministerinnen übrigens nicht infrage stellen, zukünftig Daten auch ganz praktisch benutzt werden könnten?
Entscheidungen zum Übergang nach der Grundschule zu den weiterführenden Schulen lösen immer wieder Kritik aus. Sollen die Entscheidungen bei den Eltern oder den Lehrkräften liegen? Wie verbindlich sollen die Empfehlungen der Schulen sein? Digitale Lernverlaufs- und Entwicklungsdaten könnten dazu beitragen, Selektionsentscheidungen evidenzbasiert zu begründen und amtlich festzulegen.
»Bessere Bildung 2035«
Wie kann Bildung in Deutschland besser werden? Mit dieser Frage haben sich die Bildungsministerinnen aus Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz beschäftigt. Entstanden ist ihr Impuls »Bessere Bildung 2035«, in dem messbare Ziele, Indikatoren und Maßnahmen für die nächsten zehn Jahre vorgeschlagen werden.
www.wuebben-stiftung-bildung.org/publikation-bessere-bildung-2035