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Schule

Schule neu denken – eine politische Aufgabe der GEW

Praktische berufliche Fähigkeiten spielen in Schulen nur selten eine Rolle. Im Sinne einer auf soziale Gleichheit ausgerichteten Bildungspolitik sollte sich das dringend ändern.

Foto: Reinhold Hoge

Es ist nicht so, als ob die Kolleg*innen in der allgemeinbildenden Schule die Frage nach der Einbeziehung praktischer Arbeit und damit die situative Verankerung des Gelernten in das System des schulischen Lernens nicht beachten würden. Ihr Einsatz zeigt sich in einer beeindruckenden Fülle von Anregungen und allgemeinen Überlegungen, in der Gründung von Schüler*innenfirmen bis hin zu schulischen Projekten zur praktischen Umsetzung von Klimaschutz in der Schule selbst. Dabei wird deutlich, wie situatives Lernen im schulischen Leben eine Rolle spielen kann und vielfältige Kompetenzen von Jugendlichen entwickelt werden, die in der traditionellen schulischen Leistungsbewertung unberücksichtigt bleiben. Dabei könnten sie aber für den Lebensweg, akademisch oder nicht, hilfreich sein. 

Alle diese Initiativen haben eines gemeinsam: es sind freiwillige Initiativen an der Schule oder in deren Umfeld, aber nicht ausreichend integriert in das System Schule. Lehrkräfte wie Schüler*innen leisten zusätzliche Arbeit. Die Lehrkräfte werden häufig nicht dafür bezahlt, die Schüler*innen können ihre Leistungen in aller Regel nicht in ihre Gesamtqualifikation einbringen. Situatives Lernen steht neben dem Schulsystem – am meisten im Gymnasium, das nicht einmal das ausgebaute System von Wahlpflichtkursen hat, an denen sich in den Integrierten Sekundarschulen (ISS) und Gemeinschaftsschulen anknüpfen ließe. Praktische Arbeit als situative Verankerung des Gelernten findet kaum Eingang in das System der schulischen Bildung.

 

Praktisches Lernen nur freiwillig und umsonst

 

Das war schon in früheren Zeiten Thema der bildungspolitischen Auseinandersetzung. Ohne bis zu Wilhelm von Humboldt zurückgehen zu wollen, sei hier der damalige GEW-Bundesvorsitzende Erich Frister zitiert, der schon 1973 festgestellt hat, dass man die berufliche Bildung als »Stätte der Benachteiligung« und die allgemeine Bildung als »Stätte der Bevorteiligung« verstehen müsse. Er betont den Unterschied zwischen der »Integration beider Bildungsbereiche« und einer bloßen »Verbesserung der Berufsbildung« und konstatiert: »Integration bedeutet Vorrechte abbauen, bloße Reform der Berufsbildung heißt Benachteiligung zu stabilisieren.«

Hier wird sehr deutlich, dass wir in den letzten Jahrzehnten in Richtung eines Verständnisses von Bildung, das allgemeine und berufliche Bildung einschließt, nicht viel vorangekommen sind. Die von Frister eindrucksvoll formulierte gesellschaftspolitische gewerkschaftliche Perspektive für eine auf soziale Gleichheit ausgerichtete Bildungspolitik haben wir, hat die GEW im Zuge der Diskussion von Einzelfragen aus den Augen verloren. In dieser Schärfe hat das nach Frister kein GEW-Vorstand mehr formuliert. 

In der aktuellen sozialwissenschaftlichen Diskussion wird das Thema wieder aufgegriffen. So weist beispielsweise der in den Medien hoch gehandelte Soziologe Andreas Reckwitz in seinem 2019 erschienenen Buch »Das Ende der Illusionen« darauf hin, dass unsere Gesellschaft in ihrer Funktionsfähigkeit von der praktischen Arbeit geringer qualifizierter Arbeitskräfte genauso abhängig ist wie von der Tätigkeit Hochqualifizierter und Akademiker*innen. Ihnen steht dann auch gesellschaftliche Anerkennung zu.

 

Gesellschaft braucht »geringer« qualifizierte Arbeitskräfte 

 

Bedarf es dann nicht auch einer entsprechenden Wertschätzung praktischer beruflicher Fähigkeiten als eines wesentlichen Bestandteils von Bildung?

Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in Berlin kritisierten schon 2020 im Tagesspiegel, dass das Abitur »nicht mehr zeitgemäß fürs 21. Jahrhundert sei«, denn: »Die einseitige Orientierung des Abiturs auf ein herkömmliches akademisches Studium wird den veränderten Anforderungen beruflicher Qualifikationen in einer Wissensgesellschaft mit starker digitaler Komponente nicht mehr gerecht.« Sowohl Absolvent*innen der gymnasialen Oberstufe sollten die betriebliche Berufsausbildung in Betracht ziehen als auch ausbildende Betriebe Abiturient*innen als Azubis. 

Das tun beide Seiten ohnehin schon. Duale Studiengänge, überwiegend in privater Trägerschaft, boomen. Zugleich beklagen laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung 44 Prozent der Jugendlichen an höheren Schulen eine unzureichende Orientierung auf die Berufswahl und -ausbildung. 

Muss das nicht auch inhaltliche Konsequenzen für die Schule haben? Folgen daraus nicht Veränderungen für unsere Arbeit und damit die Notwendigkeit, eine kohärente gewerkschaftliche Position zur Frage der Integration beruflicher und allgemeiner Bildung zu entwickeln, hinter die sich die gesamte Mitgliedschaft stellen kann, egal an welcher Stelle des Bildungssystems sie arbeitet? Das muss eine gesellschaftspolitisch klare Position sein. Bildung wie sie die GEW versteht, darf nicht als Instrument zur Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchie verstanden und schon gar nicht der Privatwirtschaft überlassen werden. Dazu müssen Konzeptionen entwickelt werden, die an bestehende Ansätze, wie den Wahlpflichtbereich der ISS und der Gemeinschaftsschulen und das Konzept von Schüler*innenfirmen, anknüpfen. Oder man blickt über die Grenzen hinaus: Schweden verlangt von allen Fachbereichen einen Beitrag zu Berufsorientierung und praktischer Arbeit im Rahmen der Schulentwicklung. Das ist nachhaltig nur möglich, wenn die notwendigen Personal- und Sachmittel zur Verfügung stehen. 

 

Position zur Berufsorientierung beziehen

 

Die aktuelle Politik wird die GEW BERLIN ohnehin zwingen, dazu noch stärker Position zu beziehen, denn der Senat hat sich eine lange Liste schulpolitischer Maßnahmen vorgenommen, darunter die Berufsorientierung für nicht-akademische wie akademische Berufe an allen Schulen zu intensivieren. Nur weiß er oder will noch nicht wissen wie. Was er aber schon weiß: er will Mittel kürzen, vor allem die wenigen Verfügungsmittel, die eventuell für die innere Schulentwicklung genutzt werden könnten. Derweil konzentriert sich der Reformeifer der Schulsenatorin auf verbindlichen Religionsunterricht und Zehntelnoten am Ende der Grundschule, die den Zugang zum Gymnasium erschweren sollen

Da sind die schulischen Fachgruppen und die Initiativen in der Mitgliedschaft gefordert, den Vorstandsbereich Schule der GEW BERLIN im Rahmen der Arbeit an den schulpolitischen Positionen bei der Entwicklung einer kohärenten Position zur Integration allgemeiner und beruflicher Bildung zu unterstützen.

Die AG Duale Schule will dafür die Diskussion um ein Bildungsverständnis voranbringen, das der gesellschaftspolitischen Position der Gewerkschaften entspricht. Dazu hofft sie auf das Interesse bei und sucht die Unterstützung von Kolleg*innen aus allen Bereichen der GEW.

 

Kontakt zum Autor: isenth(at)t-online(dot)de

 

Situiertes Lernen 

Situiertes Lernen ist anwendungsbezogen, lebensweltlich orientiert und selbstgesteuert. Probleme der Praxis sollen in einem realen Kontext bearbeitet werden. Schüler*innen erlangen ihr Wissen, indem sie sich aktiv mit dem Thema befassen und nicht einfach nur das Wissen ihrer Lehrperson »eingeflößt« bekommen.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46