Schwerpunkt „Soziales unter Kürzungsdruck“
Selbsthilfeorganisationen brauchen Unterstützung
Entgegen dem Koalitionsvertrag des Berliner Senats wird der Rotstift weiter bei der sozialen Infrastruktur der Stadt angesetzt. Gleichzeitig fehlen Gelder für Räume, Angebote und Personal.
Selbsthilfeorganisationen haben in Deutschland ihre Wurzeln bereits im 19. Jahrhundert. Ab den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als die Bevölkerung sich zunehmend politisierte, wurde die Kritik am etablierten Medizinsystem sowie an als unzureichend empfundenen sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen lauter. Immer mehr Betroffene schlossen sich daraufhin in Selbsthilfegruppen zusammen. Das Konzept, die eigenen Herausforderungen selbstständig anzugehen und innerhalb der eigenen Möglichkeiten aktiv zu handeln, gewann rasant an Unterstützung. Die Selbsthilfebewegung entwickelte sich zur vierten Säule im deutschen Gesundheitswesen, neben der ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgung.
In Berlin wurde die Selbsthilfe schon seit der Gründung der Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle (SEKIS) im Jahr 1983 vom Senat unterstützt. Die Selbsthilfebewegung erhielt mit SEKIS ein bundesweit beachtetes Zentrum und zahlreiche von erkrankten Menschen selbst organisierte Beratungsprojekte.
Selbsthilfe ist wesentlich
Die aktuelle Berliner Regierungskoalition sieht Selbsthilfe ebenfalls als wesentlich an. So werden im aktuellen Koalitionsvertrag Stadtteilzentren, Selbsthilfekontaktstellen, Senior*innenfreizeitstätten und soziale Beratungsangebote als wichtige Angebote genannt. Der Ausbau der sozialen Infrastruktur in den Sozialräumen mit hohen Unterstützungsbedarfen und hoher Armut werde vorrangig verfolgt. Entsprechend sind tatsächlich in diesem Jahr neue Stadtteilzentren entstanden und die mobile Stadtteilarbeit wurde gestärkt.
In die Selbsthilfestruktur wurde leider noch nicht ausreichend investiert und die Aussichten für Stadtteilzentren und Selbsthilfe-Kontaktstellen ab dem kommenden Jahr sind, wie für fast alle sozialen Projekte in Berlin, eher schlecht – auch wenn es im Koalitionsvertrag heißt: »Die Wohlfahrtsverbände, gemeinnützige und freie Träger sind Dienstleister und starke Partner für den sozialen Zusammenhalt in unserer Stadt.« Der soziale Zusammenhalt in einer Großstadt wie Berlin kann jedoch nur dann weiter funktionieren und verbessert werden, wenn die Politik diese Äußerung im Koalitionsvertrag nicht nur als Feigenblatt versteht, sondern danach handelt. Dazu sollten die Träger der sozialen Einrichtungen dahingehend unterstützt werden, dass die überbordende Bürokratie endlich massiv abgebaut wird. Dem Koalitionsvertrag zufolge wird das Zuwendungsrecht entbürokratisiert und vereinfacht. Noch sehen wir hier leider keine Ergebnisse.
Darüber hinaus werden die Mitarbeitenden in den Selbsthilfe-Kontaktstellen und Kontaktstellen PflegeEngagement weiterhin mit einer Vergütung nach Entgeltgruppe 9 TV-L abgespeist. Für gut ausgebildete Arbeitnehmer*innen mit einem Hochschulabschluss war dies in den 1980er und 90er Jahren vielleicht noch ein auskömmliches Einkommen. In der heutigen Zeit, bei den insbesondere in Berlin stark gestiegenen Lebenshaltungskosten, ist damit kaum noch eine qualifizierte Mitarbeiter*in zu finden. Und so stehen wir als Träger dieser Einrichtungen vor dem großen Problem, dass die Anforderungen an die Mitarbeitenden ständig steigen, es aber kaum noch Menschen gibt, die bereit sind, für eine solche Einstufung fast ohne jegliche Aufstiegsmöglichkeiten zu arbeiten.
Krankenkassen zur Förderung verpflichtet
Seit 1992 erhält die gesundheitliche Selbsthilfe in Deutschland durch die gesetzlichen Krankenkassen eine finanzielle Förderung. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass Selbsthilfe in vielfältiger und wirksamer Weise die professionellen Angebote der Gesundheitsversorgung ergänzen kann. Seit 2008 sind die Krankenkassen sogar zur Förderung der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe verpflichtet.
Die Aufteilung der Förderung erfolgt auf Landesebene in Berlin in einem Arbeitskreis mit Akteur*innen der Selbsthilfe und Vertreter*innen der Gesetzlichen Krankenkassen. Auch hier schlägt die überbordende Bürokratie leider zu und die auszufüllenden Anträge für die Förderung von Selbsthilfegruppen und Selbsthilfe-Organisationen stellen die oft chronisch kranken und beeinträchtigten Menschen vor Probleme. Hinzu kommt die oft zu enge Auslegung der Förderkriterien durch Verwaltungsmitarbeitende in den Krankenkassen. Auch wenn die Zusammenarbeit mit der Mehrzahl der Mitarbeitenden gut läuft, sind ihnen manchmal durch zu viele Vorgaben die Hände gebunden.
Sorgen macht uns hier insgesamt auf allen Ebenen und in allen Bundesländern, dass zunehmend das Gefühl entsteht, dass die Krankenkassen die Inhalte von zu fördernden Projekten vorgeben wollen. Dabei liegt das Expert*innenwissen, was einzelne Gruppen oder Organisationen für ihre Arbeit benötigen, nicht bei Verwaltungsmitarbeitenden von Krankenkassen, sondern bei den Menschen, die mit einer Erkrankung leben müssen und die mit anderen Betroffenen gemeinsam versuchen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern.
Psychische Probleme bei jungen Menschen nehmen zu
Die COVID-Pandemie scheint für viele von uns vorbei und in den Hintergrund gerückt zu sein – aber längst nicht für alle. So haben die Mitarbeiter*innen in den Selbsthilfe-Kontaktstellen in Berlin seit etwa drei Jahren mit den Auswirkungen der Pandemie zu tun. Da sind die von Long/Post-Covid und Post-Vac Betroffenen, die mit einer Vielzahl an gesundheitlichen und sozialen Problemen zu kämpfen haben.
Und wir erleben eine massive Zunahme vor allem an jungen Menschen, die sich mit psychischen Problemen wie Ängsten, Depressionen und Einsamkeit an uns wenden und für die wir versuchen, Angebote zu schaffen. Hier ist der notwendige zeitliche Aufwand für Gespräche, Gruppenbegleitung in der Anfangszeit und Unterstützung im Allgemeinen so hoch, dass in allen Bezirken die personellen und räumlichen Kapazitätsgrenzen mehr als erschöpft sind. Die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten für Selbsthilfegruppen ist hier eine unserer Aufgaben. Für den personellen Engpass besteht im Moment wenig Aussicht auf Besserung, da es absehbar wohl keine finanzielle Unterstützung für eine dringend notwendige Ausweitung der Stellen gibt. Der Stellenschlüssel hat sich in den Selbsthilfe-Kontaktstellen seit den 1990er Jahren nicht verändert – und das bei komplett veränderten Rahmenbedingungen der Lebenswirklichkeit von mittlerweile fast vier Millionen Einwohner*innen.
Und so ist unser größter Wunsch in der Selbsthilfe, dass Politik, Verwaltung und Krankenkassen nicht immer nur in Sonntagsreden betonen, wie wichtig die Selbsthilfe ist, sondern dass den Reden Taten folgen! Nichts ist wertvoller als Menschen, die sich mit anderen zusammentun, um gemeinsam ihre Situation zu verbessern und sich gegenseitig zu unterstützen. Davon brauchen wir in diesen schwierigen Zeiten mehr denn je und das sollten die Verantwortlichen auf allen Ebenen erkennen und entsprechend handeln.
Eine Übersicht der SelbsthilfeKontaktstellen in Berlin: hier
Suche nach einer Selbsthilfegruppe: hier
Studie zur Wirkung von Selbsthilfe: hier