Tendenzen
Silvester- und andere Krawalle
Durch Kürzungen im Bildungsbereich werden junge Menschen systematisch vernachlässigt. Misstrauen in den Staat und extremistische Gewalt werden dadurch befördert.
An Silvester 2022/23 kam es zu erschreckenden Übergriffen auf Feuerwehr und Polizei. In Reaktion darauf wurden mehrere Jugendgewaltgipfel veranstaltet.
Auf dem letzten Jugendgewaltgipfel im Oktober 2023 versprach Schulsenatorin Günther-Wünsch: »Mit kiezorientierter Jugendsozialarbeit, Schulsozialarbeit und Elternarbeit schaffen wir die Basis für präventive Jugendarbeit vor Ort.«
Kai Wegner, der regierende Bürgermeister, bemerkte dazu anerkennend, Prävention sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Wie ist es nun um den langen Atem für den Marathon bestellt? Wie blicken wir auf das Jahr 2024 zurück?
Bereits Anfang des Jahres standen in Berlin Kürzungen im sozialen Bereich an: verschiedene Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie Familienzentren sollten geschlossen werden. Allein im Bezirk Mitte wurden 97 Einrichtungen der Jugend- und Familienhilfe mitgeteilt, dass sie nur noch bis Ende April finanziert werden können. Durch Proteste ließen sich diese Kürzungen vorerst verhindern.
Die Kürzungen nehmen kein Ende
In der Zwischenzeit ist die endgültige Haushaltsplanung für 2025 kurz vor Jahreswechsel an die Öffentlichkeit gekommen. Es trifft alle Ressorts, auch den Bildungsbereich. Sieben Millionen Euro weniger gibt es für die freie Jugendarbeit, eine Kürzung um 17 Prozent. Gestrichen wird die Brennpunktzulage für Lehrkräfte. Der geplante Neubau von zwei Grundschulen wird erst mal nicht realisiert, die Mittel für den Kitaausbau um 14 Millionen Euro gekürzt. Ein Bildungssystem, das bereits marode ist, wird damit noch weiter in die Dysfunktionalität getrieben.
Auch auf der Ebene des Bundes fehlt es an Maßnahmen, die den sozialen Ausschluss verhindern und soziale Teilhabe ermöglichen. Etwa jedes fünfte Kind in Deutschland erlebt Armut. Durch den Bruch der Koalition ist das Projekt der Kindergrundsicherung vom Tisch. Was aus den bundesweiten Vorzeigeprojekten Kitaqualitätsgesetz und Startchancen-Programm wird, ist ebenso fraglich.
Jugendliche werden hinten angestellt
Als es 2022 zu den Silvesterkrawallen kam, sprachen Politiker*innen von »Chaoten« (Merz) und »Integrationsverweigerern« (Faeser). Vorschnell schrieb man die Störung individualisierend dem jugendlichen Täter zu. Als lägen endogene Eigenschaften vor, die sich in kriminellen Taten äußern. Mehrere Studien weisen jedoch auf einen Zusammenhang zwischen Austeritätspolitik und Stimmengewinnen für extremistische Parteien hin.
Der Abbau des Sozialstaats führt bei potentiell Betroffenen zum Gefühl der Trennung vom Staat, seinen Institutionen und Repräsentant*innen. Im Schulalltag erleben Pädagog*innen immer wieder, dass bei zu großen Klassen Beziehungsarbeit zu Schüler*innen nicht mehr ausreichend möglich ist. Dadurch fehlt die Unterstützung für eine stabile Identitätsentwicklung und für eine positive Verankerung in der Gesellschaft. Gerade auf Jugendliche aus prekären sozialen Milieus wirkt sich eine Vernachlässigung negativ aus. Mittelfristig kann Verarmung und die Angst davor zum Vertrauensverlust gegenüber der demokratischen Ordnung führen. Perspektivlosigkeit und die Konkurrenz um wenige Ressourcen machen anfällig für allerlei vereinfachende Versprechen. Rechte oder islamistische Propaganda gewinnt dadurch enorm an Anziehungskraft. Nur ein Staat, dessen Sozial- und Bildungssystem Ängste vor Abstieg und Ausschluss reduzieren hilft, kann gegen demokratiefeindlichen Extremismus wehrhaft sein. Das aktuelle Wahlergebnis in den USA muss in diesen Kontext eingeordnet werden.
Für den Bereich des Bildungssystems wird im Jahr 2025 die Aufgabe fortbestehen, Heranwachsenden Wertschätzung und Anerkennung zu vermitteln. Ohne personell und materiell gut ausgestattete Schulen und Kitas ist das nicht zu leisten.
Moralische Appelle, wir müssten uns alle um die Integration kümmern, suggerieren, alles hänge vom guten Willen ab. Selbst »Super«-Pädagog*innen können nicht kompensieren, was objektiv im Argen liegt.