Berufliche Bildung
Soziale Ungleichheiten im Berliner Schulsystem
Rita Nikolai ist Professorin für Pädagogik an der Universität Augsburg. Mit der bbz sprach sie über die Berliner Schulstrukturreform 2010/2011 und die fehlende Anerkennung beruflicher Bildung.
Zusammen mit deinem Kollegen, Marcel Helbig, hast du 2017 ein Diskussionspapier über die Folgen der Berliner Schulstrukturreform 2010/11 veröffentlicht. Du schreibst darin, dass die alte Schulstruktur verdeckt im neuen Schulsystem weiterwirke und mit dafür verantwortlich sei, dass sich an der sozialen Aufteilung der Schüler*innen wenig ändere. Woran liegt das?
Nikolai: Es sind verschiedene Aspekte, die dabei eine Rolle spielen, dass das alte System sich in den neuen Strukturen zeigt. Als es 2008 -2010 darum ging, aus den Gesamtschulen, Realschulen und Hauptschulen Integrierte Sekundarschulen (ISS) zu machen, da sind in erster Linie immer mehrere Hauptschulen miteinander verbunden worden, gelegentlich eine Hauptschule mit einer Realschule, aber niemals Gesamtschulen mit einer Hauptschule. Das kann man ein Stück weit damit erklären, dass es unterschiedliche Unterrichtskonzepte in den Schulen gab, aber auch unterschiedliche Raumkapazitäten. Eine ehemalige Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe ist nicht mit einer Hauptschule zu vergleichen. Die hätte nicht einmal die Räume gehabt, um eine gymnasiale Oberstufe anzubieten. Der damalige Schulsenator Jürgen Zöllner konnte diese Reform nur durchsetzen, weil er zusicherte, dass die ISS die Standards der Gesamtschulen erreichen würden. Es ging ihm in erster Linie darum, die Hauptschule loszuwerden, die sich immer mehr zur – noch dazu sehr teuren – Restschule entwickelt hatte, mit immer weniger Zuspruch von Schüler*innen.
Könnte nicht auch die fehlende Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung mitverantwortlich für das Misslingen der Reform gewesen sein?
Nikolai: Das Thema der Integration beruflicher und allgemeiner Bildung spielte bei der Reform überhaupt keine Rolle, das war für die Verantwortlichen im Ministerium nicht wichtig. Aus der Schulgeschichte wissen wir: es gab immer eine strikte Trennung von beruflicher und akademischer Bildung. Warum solle es dann bei der integrierten Sekundarschule anders sein? Hauptsache war, das Problem der Hauptschule zu lösen.
Dabei war der Haken, dass die Jugendlichen, die im Sozialverhalten und in der Leistung herausfallen, an die ISS abgeschoben wurden.
Nikolai: Das ist für bildungsnahe Eltern gar nicht so wichtig oder gar abschreckend. Den Eltern aus der Mittelschicht oder höheren Schichten, die vor der Frage stehen, soll ihr Kind aufs Gymnasium oder auf eine ISS gehen, ist es wichtig, ob die Schule eine eigene gymnasiale Oberstufe hat. Wenn man nach der 10. Klasse an eine kooperierende Oberstufe wechseln muss, ist das abschreckend für die Eltern, wenn sie ihrem Kind noch offenhalten wollen, ob es in die berufliche Bildung geht oder doch die Hochschulzugangsberechtigung anstrebt. Am besten soll alles an der gleichen Schule stattfinden. Die Frage nach dem Verhältnis von beruflicher und allgemeiner Bildung ist da nicht so wichtig.
Wenn das Eltern nicht so wichtig ist, fehlt dann auch politisch der Anreiz, sich mit der Integration beruflicher und akademischer Bildung zu befassen?
Nikolai: Nein, so ist es nicht. Die Diskussion dazu gibt es ja: wie können wir berufliche und akademische Bildung zusammenführen? Mehr Akademiker*innen oder weniger Akademiker*innen? Wie kann es eigentlich gelingen, berufliche Bildung mit der akademischen Bildung zusammenzubringen? Deshalb sind in den letzten Jahren auch viele duale Hochschulen entstanden. Warum sollte die Schule sich weigern, darüber nachzudenken? Angesichts der Diskussion über die Qualifizierung im Hinblick auf die Digitalisierung müssen beide Bereiche eigentlich zusammengebracht werden. Schließlich erfasst die Digitalisierung auch das Handwerk und den Dienstleistungsbereich. Es wäre möglich, dass im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Schule, die durch die COVID-19-Pandemie mehr Relevanz erhalten hat, stärker daran gearbeitet werden wird. Berufliche und akademische Bildung müssen zusammengedacht werden, so wie es Erich Frister, der damalige GEW-Vorsitzende, schon in den siebziger Jahren angedacht hat.
Die Diskussion wird also vom Druck der objektiven gesellschaftlichen Entwicklung angeschoben. Aber ein politischer Druck hat sich daraus nicht entwickelt, oder?
Nikolai: Nein, leider nicht. Ich denke schon, dass hier eine jahrhundertelange Tradition der strikten Trennung zwischen den beiden Bereichen wirkt. Schon Wilhelm von Humboldt ist an dieser Frage gescheitert, und diese Abschottung hat sich im Deutschen Reich, im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik bis heute durchgesetzt.
Wird in Wissenschaft und Forschung an der strikten Trennung festgehalten oder wird über die Integration allgemeiner und beruflicher Bildung hin zur Entwicklung eines anderen Bildungsbegriffs aktuell geforscht und diskutiert?
Nikolai: Diese Trennung zwischen akademischer und beruflicher Bildung spiegelt sich auch in der Aufstellung der Lehrstühle wider. Es gibt die Lehrstühle für berufliche Bildung, meistens in der Wirtschaftspädagogik, und die klassischen pädagogischen Fächer in der Erziehungswissenschaft. Es gab immer mal wieder Initiativen zur Zusammenarbeit verschiedener Lehrstühle, aber nicht so durchgehend, wie man sich das wünschen würde. Der Bildungsbegriff als solcher hat sich über die Jahrzehnte immer wieder stark gewandelt. Aber diese Trennung zwischen beruflicher und allgemeiner Bildung, die zieht sich bis heute durch.
Wie schätzt du die Aufstellung der weiteren Akteur*innenlandschaft in diesem Bereich ein?
Nikolai: Bei der GEW zum Beispiel ist die berufliche Bildung eher ein Randthema. Sie ist sehr stark an der allgemeinen Bildung orientiert. Das gilt auch für die Presselandschaft. Etwa in der Zeit – einem eher akademischen Blatt – geht es meistens um allgemeine Bildung. Man findet ganz, ganz selten einen Artikel zur beruflichen Bildung oder zum Ausbildungsmarkt. Man merkt schon, wo die Leute herkommen. Und das wird auch als Diskussionspunkt aufgegriffen. Das erklärt vielleicht auch, warum auch heute noch beim wissenschaftlichen Diskurs um den Bildungsbegriff beide Aspekte strikt getrennt sind.
Dann gibt es also keine Perspektive auf eine rasche Veränderung?
Nikolai: Wie der Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth es einmal formuliert hat, das Gymnasium steht immer noch im Zentrum unserer Vorstellungswelt. Am Gymnasium orientiert sich alles. Die Politik ist momentan maximal bereit, an der »zweiten Säule« etwas zu ändern, sprich an Gesamtschule, Hauptschule, Realschule, vielleicht noch mit einer gymnasialen Oberstufe, wie es in Bremen, Hamburg, Berlin oder auch in Schleswig-Holstein passiert. Aber es ist ganz klar: das Gymnasium wird nicht angefasst. Was Politiker*innen passiert, die an diesem Aspekt irgendetwas verändern möchten, zeigt die Schulgeschichte. Man verliert die Volksabstimmung wie die schwarz-grüne Koalition in Hamburg mit ihrer Idee der auf sechs Jahre verlängerten Grundschulzeit. Das war eigentlich undenkbar, weil die CDU doch schon zugestimmt hatte. Daran merkt man, egal was man macht, sobald das Gymnasium irgendwie tangiert wird, scheitert man in der deutschen Politik. Der Aspekt der Integration beruflicher und allgemeiner Bildung wird, wenn überhaupt, in der zweiten Säule des Schulsystems ein Thema sein und das Gymnasium nicht berühren. Die Ideen von Erich Frister aus den 70er Jahren bleiben damit Utopie.
Danke für das Gespräch!