Schule
Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf
Ein GEW-Fachtag beschäftigt sich mit den Herausforderungen des Erwachsenwerdens Wie schaffen es Jugendliche, das Erwachsenwerden zu bewältigen? Wie können sie in der Schule dabei unterstützt werden? Dies waren die zentralen Fragen, die den Fachtag »Erwachsen werden heute – Herausforderungen für die Schule« der Fachgruppe Integrierte Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen am 15. Februar 2018 begleiteten. Den einleitenden -Vortrag hielt Heiner Keupp, Professor für Sozialpsychologie der LMU München. Nach seinen Erkenntnissen gelingt es den meisten Jugendlichen, nämlich 80 Prozent, den Weg ins Erwachsenleben gut zu meistern. Die wichtigste Unterstützung dabei sei, -Jugendliche zu Freiheit und Selbstständigkeit anzuleiten, damit sie -ihren eigenen Weg gehen und ihre eigenen Entscheidungen treffen können. Im Anschluss an den Fachtag haben wir mit Rudolf Kemmer, dem Schulleiter der Heinrich-Mann-Schule, über seine praktischen Erfahrungen gesprochen.
Rudi, du hast eine Montessori Schule in Bayern geleitet, mehrere Jahre als Schulentwickler in Lateinamerika gearbeitet, seit 2011 leitest du eine sogenannte Brennpunktschule in Neukölln. Was hältst du von der Berliner Schule?
Rudolf Kemmer: Die Berliner Schule ist ein schneller Fluss. Ich habe das Gefühl, dass die Schule in Berlin heutzutage darum kämpfen muss, ihr eigenes Tempo zu finden, da sich alles sehr schnell verändert. Was meine Schule betrifft, sind wir mit einem Tempo-Home, also temporären Wohnunterkünften in Containern, für Geflüchtete konfrontiert, wir müssen Stellung dazu beziehen, dass Entwicklungsaufträge im neuen Rahmenlehrplan neu definiert sind, dass Output-Orientierung in den Vordergrund rückt. Wir sind ständig im Fluss und ich vermisse Zeiten, in denen man einfach kurz aussteigen und am ruhigen Ufer sitzen kann.
In diesen schnellen Zeiten ist es für Jugendliche nicht einfacher geworden, den Weg ins Erwachsenenleben zu finden. Bist du auch der Meinung, dass Jugendliche zur Freiheit anzuleiten, eine der wichtigsten Unterstützungsmöglichkeiten dabei ist?
Rudolf Kemmer: Die Frage ist, was genau wir als Freiheit bezeichnen. Ich glaube, dass alle Menschen im Übergang zwischen Kindheit und Jugend Selbständigkeit anstreben und ihren Platz suchen. Die Möglichkeiten dazu sehe ich bei Jugendlichen nichtdeutscher Herkunft als verhältnismäßig eingeschränkter, weil sie in einer kulturellen Doppelwelt leben, die sie bestimmten Zwängen aussetzt. Der Raum, in dem sie sich entwickeln, ist von Anfang an mit einem Spannungsverhältnis besetzt. Auch die Zugänge zu den freiheitlichen Elementen, die Kinder heutzutage so genießen – wie tolle Freizeitangebote oder Reisemöglichkeiten – sind für solche Kinder aus sozioökonomischen Gründen oftmals eingeschränkt. Ich staune immer wieder, dass viele Jugendliche aus sogenannten Brennpunktschulen nur ihren eigenen Kiez kennen und kein Bedürfnis danach zu verspüren scheinen, die ganze Stadt zu erkunden.
Einer der wichtigsten Aspekte bei der Identitätssuche ist laut Heiner Keupp »Urvertrauen als Basis für Selbstvertrauen«. Wie viel Selbstvertrauen bringen die Schüler*innen an ihrer Schule mit?
Rudolf Kemmer: Da ist die Streuung bei unseren Schüler*innen sehr groß: Von Kindern mit einem gesunden Vertrauen in stabilen Familien über Kinder, die geflüchtet sind und all die Ängste des Krieges, der Flucht und der Entwurzelung mitnehmen bis zu Kindern, die in indifferenten Familienverhältnissen aufwachsen. Grundsätzlich ist das Selbstvertrauen in die eigene Wirksamkeit beim Lernen und in leistungsfordernden Situationen beim größeren Teil unserer Schüler*innen geringer ausgebildet.
Jugendliche brauchen das Gefühl, sich zugehörig zu fühlen. Aber identifizieren sich Schüler*innen, die sich solchen Einschränkungen stellen müssen, wie du sagst, mit ihrer Schule? Wie kann die Schule ihnen das Gefühl der Zugehörigkeit vermitteln?
Rudolf Kemmer: Die zentrale Frage ist: Welche Kultur kann ich als Schule aufbauen, von der sich die Schüler*innen getragen fühlen? Meiner Meinung nach ist das Entscheidende, dass die Schule eine grundsätzliche Akzeptanz der Person vermittelt. Ein grundlegender Respekt, eine Offenheit, anderseits aber auch eine Klarheit darüber, dass wir ein gutes Zusammenleben wollen – und das ist mit Regeln verbunden. Die Schulkultur ist bei uns durch eine Anerkennung der Vielfalt geprägt. Da entsteht natürlich eine Spannung, an der sich die Jugendlichen reiben. Wir haben beispielsweise erlebt, dass Schüler*innen nicht akzeptieren wollten, dass eine Lehrkraft eine andere Form von Beziehung lebt, als sie von zu Hause kennen.
Angeblich scheuen Eltern, Lehrer*innen und Erzieher*innen heutzutage immer häufiger Konflikte und setzen keine Grenzen mehr. Inwiefern gelingt es den Schüler*innen deiner Schule, mit Grenzen umzugehen?
Rudolf Kemmer: Das fällt vielen unserer Schüler*innen schwer. Sie tendieren eher dazu, die Grenzen der kulturellen Freiheit, die wir bieten, zu überschreiten, als diejenigen, die in dieser Freiheit von Anfang an aufgewachsen sind. Für viele dieser Kinder ist eine liberalere Lehrkraft eine schwache Lehrkraft. Ich sehe den Wunsch gerade bei vielen unserer Schüler*innen, die Schwierigkeiten haben, auf der einen Seite eine strengere Lehrkraft zu haben, die sie entlastet eigenverantwortlich zu handeln. Auf der anderen Seite sehe ich auch eine stärkere Rebellion gegen Strenge, wenn sie nicht in ihrem Sinne ist.
Noch einmal zurück zum Zugehörigkeitsgefühl und der Akzeptanz der Person. Ist dafür nicht auch eine einbettende Schulkultur wichtig? Wie stellst du dir die im Alltag konkret vor?
Rudolf Kemmer: Unter einer einbettenden Schulkultur verstehe ich, dass in der Schule zusammen Mittag gegessen wird, was wir tun, und dass die Schüler*innen Zeit und Raum dafür haben, etwas gemeinsam zu machen. Unser Ganztag ist, personell und räumlich bedingt, nicht ideal aufgestellt. Unsere Schüler*innen können in den Pausen nicht sagen, wir gehen jetzt bei schlechtem Wetter 20 Minuten in die Turnhalle Basketball spielen. Mein Traum wären mehr organisierte Räume, die den Schüler*innen sowohl in den Pausen als auch nach der Schule Angebote machen, sodass sie ihre Stärken ausleben können. Viele unserer verhaltensoriginelleren Schüler*innen haben Schwierigkeiten, sich auf das Lernen einzulassen, andererseits haben sie Kompetenzen, wie beispielsweise ellenlange Rap-Songs rezitieren zu können, die sie im Schulalltag nicht einbringen können. Diese Kompetenzen weiter zu fördern kommt bei uns zu kurz. Dafür bräuchten wir »Lebensräume« wie einen betreuten Musikraum, in dem auch laut Musik gemacht und gehört werden kann, vielfältige Bewegungsmöglichkeiten, einen Schlaf-raum, in dem sich die Schüler*innen ausruhen könnten. Schüler*innen haben mir gegenüber den Wunsch nach einem Erste-Hilfe-Raum mit einer Pflegekraft geäußert, in dem sie betreut werden könnten, wenn sie sich nicht wohl fühlen – mit einem warmen Tee, aber auch durch persönliche Ansprache.
Die Schule als Institution wird für vieles, was in unserer Gesellschaft schief läuft, verantwortlich gemacht. Welche Strategie muss ein*e Schulleiter*in fahren, damit die Schule auf die Herausforderungen der Gesellschaft angemessen reagiert?
Rudolf Kemmer: Die Schule ist überfordert, den Jugendlichen all die Lebensräume zu geben, die sie für ihre Entwicklung bräuchten. Uns muss klar sein, dass wir nicht alles schaffen können, was die Gesellschaft im Ganzen nicht schafft. Unser Beitrag kann nur ein Teilbeitrag sein. Die Frage ist nicht »Wie viel muss die Schule idealerweise leisten?«, sondern »Wie viel können wir unter den gegebenen Bedingungen leisten?« Wir müssen lernen auszuhalten, dass nicht alles klappt. Ein Sprichwort sagt: Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf. Die Schule ist bloß ein Teil des Dorfes. Es ist eine fatale Entwicklung, zu denken, dass die Schule immer mehr Erziehungsaufgaben übernehmen soll. Und wenn es gesellschaftlich denn so gewollt wird, müssten wir die Schule anders denken, gestalten und ausstatten – eben nicht wie eine Schule, sondern wie ein ganzes Dorf!