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Sprachakrobat*innen

Unser Gehirn hat Platz für viele Sprachen

Eine Logopädin gibt Tipps für die mehrsprachige Erziehung.

Foto: GEW BERLIN

In den meisten Ländern der Erde wachsen Kinder zweisprachig oder sogar mehrsprachig auf. Wir denken dabei an Länder wie die Schweiz, Belgien, Kanada oder Südafrika, wo es elf Amtssprachen gibt. Auch in Deutschland nimmt die Zahl von Kindern zu, die mit zwei oder mehr Sprachen groß werden. Mehrsprachigkeit ist die Folge von Migration und Globalisierung. Auch das Zusammenwachsen Europas spielt eine Rolle. Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verpflichtet in Artikel 22 ausdrücklich dazu, Sprachenvielfalt zu achten.

Lange wurde Mehrsprachigkeit nicht als Chance ge-sehen, sondern eher als Risiko. Das hat auch mit dem Prestige der Sprachen zu tun. So wird die Beherrschung von Englisch oder Französisch als Vorteil betrachtet, während beispielsweise Türkisch, Arabisch oder Russisch eher als Problem wahrgenommen wird.

Die Sprachwissenschaft hat in den letzten drei Jahrzehnten viele Untersuchungen vorgelegt, die beweisen, dass unser Gehirn Platz hat für mehrere Sprachen. Vor allem in der frühen Kindheit ist es bestens darauf vorbereitet, Sprachen zu lernen. Natürlich können wir das auch später, aber meist nicht mit dem gleichen Erfolg.

Mehrsprachig aufwachsende Kinder sind wie andere Kinder auch

Kinder, die zweisprachig aufwachsen, lernen ihre Sprachen nicht prinzipiell langsamer und sind auch nicht dümmer als einsprachige Kinder. Klüger als einsprachige Kinder sind sie jedoch auch nicht. Sie entwickeln sich nicht schlechter und haben keine Nach-teile in der sozialen Entwicklung, sie sind so unterschiedlich wie einsprachige auch. Mehrsprachiges Aufwachsen bietet neben dem Erlernen der Sprache auch Einblick in andere Kulturen und Denkweisen.

Dabei unterscheidet man simultanen Spracherwerb, wenn beide Elternteile von Anfang an unterschiedliche Muttersprachen mit dem Kind sprechen, sowie den frühen oder sukzessiven Zweitspracherwerb, bei dem das Kind zuerst die Familiensprache als Muttersprache lernt und später in der Krippe oder im Kindergarten Deutsch als Zweitsprache. Diese Kinder lernen Deutsch im »natürlichen Zweitspracherwerb«.

Sprache ist Mittel zur Kommunikation. Wir lernen Sprache über das Sprechen und über die Kommunikation. Das Sprachverhalten der Erzieher*innen hat daher eine zentrale Bedeutung. Wichtig für den Erfolg des Zweitspracherwerbs ist, dass die Kinder die Einrichtung regelmäßig besuchen. Außerdem, dass die Kinder genügend Gelegenheit haben, ihre sprachlichen Fähigkeiten in der Erst- und Zweitsprache einzusetzen, sie also genügend deutschsprachige Spielpartner*innen in der Einrichtung haben.

Auch der Zweitspracherwerb ist ein kreativer Prozess. Die Kinder nehmen einen Schwall fremder Schall-wellen auf, die sie anfangs nicht verstehen können. Sie sehen Menschen sprechen, versuchen hinzuhören und fangen an, erste Wörter herauszufiltern. Das Verstehen geht der aktiven Sprache voraus. Sie lernen zuerst Wörter und Redewendungen, die in eindeutigem Sinnzusammenhang stehen, oft wiederholt werden und eine persönliche Bedeutung haben.

Nur 25 Stunden Bilderbucherfahrung

Meist sind es zuerst Ein-Wort-Äußerungen, die nach und nach erweitert werden. Kindergartenkinder verfügen bereits über Erfahrungen mit der Erstsprache und haben Fähigkeiten, auf die sie beim Erlernen der Zweitsprache zurückgreifen. Es kann deshalb vorkommen, dass sie einzelne Phasen überspringen. Einzelne Kinder sprechen erst nach mehreren Monaten, wenn sie bereits vieles verstehen und sich sicher fühlen. Andere Kinder kommunizieren bereits mit wenigen Wörtern.

Neben der Kita ist die Familie entscheidend für die sprachliche und kognitive Entwicklung der Kinder. Eine amerikanische Studie hat festgestellt, dass Kinder aus Mittelschichtfamilien im Vorschulalter 1.000 bis 1.700 Stunden Bilderbuch-Leseerfahrung mitbringen. Bei Kindern aus benachteiligten Familien waren es nur 25 Stunden.

Besonders wichtig ist daher die Zusammenarbeit der Erzieher*innen mit den Eltern zur gemeinsamen Förderung der Mehrsprachigkeit. Es geht dabei um die Förderung beider Sprachen. Mehrsprachigkeit ist grundsätzlich keine Ursache für Sprachschwierigkeiten. Natürlich können mehrsprachige genauso wie einsprachige Kinder eine Sprachentwicklungsstörung erwerben, die dann von Logopäd*innen oder Sprachtherapeut*innen behandelt werden kann. Auch in diesem Fall kann das Kind weiter in beiden Sprachen aufwachsen.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46