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Tendenzen

Unseren Kindern verpflichtet

Gewaltsame Konflikte sind nie so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Das gilt für Kriege wie in Gaza, aber auch für Prügeleien auf dem Pausenhof.

Foto: IMAGO

Unsere Bildungseinrichtungen liegen nicht in Bullerbü. Alle Probleme, Konflikte und Krisen unserer Gesellschaft finden ihren Niederschlag im Bildungssystem und besonders in den staatlichen Schulen. Armut, Arbeitslosigkeit, Pandemien, Kriege und Migrationsströme, alles landet hier. Und hier müssen auch alle Beteiligten mit der Situation klarkommen. Und das klappt oft erstaunlich gut!

In Neukölln erlebte ich, wie meine arabischstämmigen Schüler*innen den jüdischen Kollegen, der dort für ein Jahr arbeitete, voll akzeptierten. Aktuell erlebe ich an meiner Marzahner Grundschule, wie russische Schüler*innen den neu angekommenen ukrainischen Schüler*innen helfen und für sie übersetzen oder einfach mit ihnen spielen. Würden sich die Erwachsenen und Politiker*innen so verhalten wie meine Schüler*innen, es gäbe kaum Kriege! 

 

Konfliktmotive sind oft verworren

 

Als langjähriger Lebenskundelehrer weiß ich, dass die Konflikte nie so einfach sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Oft kommt im gemeinsamen Gespräch heraus, dass der geschlagene Schüler möglicherweise vorher den anderen beleidigt oder provoziert hat. Möglicherweise verbirgt sich hinter dem Konflikt eine lang anhaltende »unsichtbare« Fehde mit wechselseitigen unverarbeiteten Kränkungen, die plötzlich und unerwartet eskaliert. Oft ist den Beteiligten erst einmal selbst nicht klar, wie es zu dem Gewaltausbruch kommen konnte. Die Hilfestellung von erfahrenen Pädagog*innen und Sozialarbeiter*innen ist dann nötig, um den Kindern Einsicht in die verworrene Motivlage des Konfliktes zu ermöglichen und die oft wechselseitigen Verletzungen zu erkennen und abzubauen. Mediation ist hier gefordert, um heilend einzugreifen und den Teufelskreis wechselseitiger Gewalt zu durchbrechen.

Kriege sind natürlich keine Pausenhofschlägereien. Und dennoch haben beide etwas gemeinsam. Sie sind gewalttätige Entladungen von tiefer liegenden, oft lang-anhaltenden, Konflikten. Egal welchen aktuellen Krieg wir betrachten, die Konfliktlinien reichen oft bis in die Zeit vor oder nach dem 1. Weltkrieg zurück. Den Konflikt Israel-Palästina mit dem Massaker am 7. Oktober beginnen zu lassen oder den Ukraine-Krieg mit dem Überschreiten der Grenze zur Ukraine, ist insofern verkürzt und hilft nicht, die Situation überhaupt zu verstehen.

 

Einseitigkeit ist keine Lösung

 

Sehr schnell nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs wurde ich von Schüler*innen gefragt, ob ich für Putin oder für Selenskyj sei. Ich antwortete immer das Gleiche: Für keinen von beiden! Das machte meine Schüler*innen oft fassungslos. Ich müsse mich doch für eine der beiden Seiten entscheiden. Ich fragte, »wieso?« Ich bin für den Frieden und dafür, dass Kinder vor Krieg geschützt werden. 

Ich kann daher sehr gut den grauenhaften Anschlag der Hamas verurteilen und gleichzeitig den mörderischen Krieg, den die israelische Armee im Gazastreifen führt. Ich kann Putin neben vielen anderen Dingen natürlich für den Überfall auf die Ukraine brandmarken! Aber ich kann auch Herrn Selenskyj hart kritisieren, der ständig mehr und schwerere Waffen fordert und die jungen Männer von der Straße wegfangen lässt, um sie in den Krieg zu schicken. 

Wo sind Politiker*innen wie Willy Brandt, Egon Bahr, Olof Palme, Jitzchak Rabin, Nelson Mandela oder Michail Gorbatschow? Die über alle Grenzen und Konflikte hinweg den Weg zum Frieden einschlugen und den Weg zur Versöhnung ebneten? Mir fällt aktuell weltweit niemand ein, der dazu in der Lage wäre. Warum soll ich mich auf die Seite eines Benjamin Netanjahu schlagen oder eines Wolodymyr Selenskyj? Menschen, deren politische Mandate daran hängen, dass die Kriege weitergehen und die daher nichts dafür tun, sie zu beenden. Und wenn ich mir unser eigenes politisches Personal ansehe? Selbst ein Konrad Adenauer, der die Aussöhnung mit Frankreich vorantrieb oder ein Helmut Kohl, der die historische Gelegenheit des Zwei-plus-Vier-Vertrags erfasst und sowohl mit den Russen als auch mit den Westmächten gemeinsam den Kalten Krieg beendete, hatten doch mehr Format, als eine Annalena Baerbock oder ein Olaf Scholz. 

 

Mäßigung ist geboten

 

In dem Konflikt zwischen Israel und Palästina wird auf das »Recht auf Selbstverteidigung«, welches Israel angeblich ausübt, verwiesen. Das gleiche Recht könnte man natürlich auch der Ukraine zubilligen. Das funktioniert aber nur, wenn man willkürlich den Beginn des Konfliktes dann festsetzt, als die Gegenseite gerade mit einem Angriff begann. Das würden wir Pädagog*innen doch mit Schüler*innen auch nicht tun, dass wir uns einfach gegen den oder die Schüler*in stellen, der gerade mit dem Schlagen begonnen hat. Da fragen wir doch auch nach Ursachen. Und uns ist doch auch klar, dass es nach der Schlägerei irgendwie weitergehen muss und dass man die Situation unbedingt befrieden muss. Denn wir sitzen doch alle im gleichen Klassenraum und in der gleichen Welt. Da kommt es nicht darauf an, Recht zu haben, zu siegen oder zu gewinnen, sondern zu verstehen, zu befrieden und auch zu versöhnen.

Schüler*innen lernen bei mir ganz schnell, dass das Recht auf Selbstverteidigung nur dazu dient, den unmittelbaren Angriff abzuwehren. Rache ist keine Selbstverteidigung! Wenn das israelische Militär gerade im Gazastreifen – von den besetzten Gebieten will ich hier gar nicht anfangen – über 40.000 Menschen tötet, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, dann ist das keine Selbstverteidigung! Selbst nach alttestamentarischen Maßstäben, die das Moment der Rache noch kannten, ist der aktuelle Konflikt nicht gerechtfertigt: Die Tora fordert »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Das ist durchaus als Gebot der Mäßigung zu verstehen! 

Abschließend ist dem »Totschlagsargument« zu widersprechen, welches da lautet, die jeweils andere Seite – die man »natürlich« als die allein schuldige ausgemacht hat – müsse doch nur aufhören, dann wäre sofort Frieden. Also die Russen müssten sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen oder die Hamas müsse die Geiseln freilassen. Historisch hat jedoch kein offen kriegerischer Konflikt jemals so geendet und kann auch nicht so enden. Kriege enden mit der Unterwerfung einer Partei oder mit der Ermüdung beider Parteien und niemals anders. Schon Clausewitz hat festgestellt, dass die Dinge, die im Frieden so einfach sind, im Krieg ungeheuer schwer sind. Solches Gerede vom »einfach aufhören« berücksichtigt nicht die Dynamik und innere Logik kriegerischer Konflikte.

 

Radikal auf Seiten aller Kinder

 

Ich wünsche mir als Pädagoge und Gewerkschafter, dass wir uns immer radikal auf die Seite der Kinder stellen. Egal ob es jüdische oder palästinensische Kinder, russische oder ukrainische Kinder sind. Und natürlich stehen wir an der Seite unserer friedliebenden Kolleg*innen in den Kriegsgebieten. Alleine die Tatsache, dass wieder hunderttausende Kinder weltweit mit dem Gift des Nationalismus geimpft werden, der die Saat für neue Kriege birgt, sollte uns empören. Und selbst bei uns verbreitet sich das Gift des Nationalismus in rasender Geschwindigkeit, wie die aktuellen Wahlergebnisse belegen. 

Das Einzige, was Staatsraison sein sollte, ist die Würde und Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens, unabhängig von Hautfarbe, Konfession, sexueller Identität oder Präferenz, ethnischer Zugehörigkeit und anderer wirklicher oder eingebildeter Unterschiede. Unser Berufsethos verpflichtet uns nicht einer Nationalität, sondern allen Kindern und Menschen.

 

Debatte zu Antisemitismus und Gaza-Krieg

 

Seit dem 7. Oktober 2023 hat der Konflikt um Israel und Palästina eine neue, tragische Eskalation erreicht, in deren Folge auch der politische Diskurs in Deutschland intensiver und komplexer geworden ist. Auch innerhalb der GEW und der Bildungsinternationale äußern sich die unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen in sehr divergierenden Debattenbeiträgen, wie diese Linksammlung veranschaulicht:

www.gew-berlin.de/zeitschrift-bbz/beitraege-zu-antisemitismus-und-gaza-krieg

Zuletzt erschien in der September/Oktober-Ausgabe der bbz der Artikel »Ohrenbetäubendes Schweigen« von Nadine Wintersieg, auf den Olaf Schäfer mit dem Artikel »Unseren Kindern verpflichtet« reagiert. Unter Wintersiegs Artikel wurde auf eine Erklärung des Geschäftsführenden Vorstands der GEW zum Thema verwiesen. Dieser war eine redaktionelle Ergänzung und der Autorin nicht bekannt.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
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