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blz 02/2015

Unter dem Deckmantel des Kinderschutzes

Gefährdet Aufklärung über sexuelle Vielfalt die Kinder?

Unter der Schlagzeile »Unter dem Deckmantel der Vielfalt« ist am 14. Oktober 2014 ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen, der davor warnt, dass eine »neue Aufklärungswelle« in immer mehr Schulen und Jugendeinrichtungen Einzug halte. Die Autorin Antje Schmelcher begründet ihre Warnung insbesondere mit den »sexuell grenzverletzenden Methoden«, denen die Kinder und Jugendlichen dabei ausgesetzt seien. Die von Schmelcher umrissenen Methoden seien eine »Form sexualisierter Gewalt«. Beunruhigend sei zudem, dass diese Entwicklungen aktuell politisch gewollt seien. Der Artikel reiht sich geradezu mustergültig in immer wieder aufkommende Beiträge vornehmlich rechts-konservativer Medien ein.

Reaktionäre Berichterstattung

Darin wird politischen und pädagogischen Bestrebungen, die Akzeptanz von sexueller Vielfalt zu fördern, vorgeworfen, dass diese weit über ein legitimes Ziel hinausschießen würden. Zudem würde es zum Aufbrechen der Schamgrenzen von Kindern und Jugendlichen kommen. Im Fokus der Kritik steht dabei insbesondere die Arbeit der LesBiSchwulen Aufklärungsprojekte. In Projekten wie beispielsweise SchLAU NRW oder abqueer engagieren sich junge Erwachsene ehrenamtlich, die selbst lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder intersexuell (kurz lsbti) leben. Sie arbeiten auf Einladung mit Schulklassen und dem Ziel, den Unterricht zu Antidiskriminierung sowie zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt zu ergänzen. Die Aufklärungsprojekte betonen, dass ihre Workshops eben kein spezifisches Angebot zur Sexualaufklärung darstellen. Sie wollen einen Beitrag zur Antidiskriminierungs- und Bildungsarbeit zur Akzeptanz von Vielfalt im Sinne von Diversität leisten. Die Arbeit der Projekte geht somit weit über eine Aufklärung über Identitäten jenseits der Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit hinaus: Durch den autobiografischen Ansatz und der direkten Begegnung werden bestehende Vorurteile und Klischees hinterfragt und abgebaut. Somit wird eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Homo- und Transphobie ermöglicht.

Droht eine »Übersexualisierung« der Kinder?

Die Klagen sind stets verbunden mit dem Vorwurf der Kindeswohlgefährdung vor allem durch eine drohende oder bestehende »Übersexualisierung«. Was genau eine »Übersexualisierung« ist, erklären AutorInnen wie Schmelcher jedoch nicht. Es scheint jedoch so, dass sich dahinter eine Vorstellung verbirgt, dass (zu viel) Sexualität nicht förderlich für die kindliche Entwicklung sei. Um dies zu untermauern, werden Teile von Methoden, die in Handbüchern zur Sexualerziehung beschrieben sind, unvollständig zitiert, aus dem pädagogischen Zusammenhang gerissen dargestellt oder unter völlig falscher oder fehlender Einordnung in Bezug auf das Alter als unangemessen kritisiert.

Einhergehend mit diesen Verkürzungen und Verfälschungen wird der Begriff der sexuellen Vielfalt nicht als Vielfalt im Sinne von sexuellen Identitäten aufgefasst und dargestellt. Sexualität sowie sexuelle Vielfalt wird reduziert auf die Vorstellung, dass Menschen auf unterschiedliche Weise miteinander Sex haben können. Dadurch produzieren AutorInnen wie Schmelcher eine völlig unangemessene und falsche Vorstellung davon, dass die Arbeit der Aufklärungsprojekte Kinder und Jugendliche »verführen« würde, sich sexuell zu betä-tigen. In dessen letzter Konsequenz wird dann Aufklärung über sexuelle Vielfalt mit angeblichen pädosexuellen Bestrebungen gleichgesetzt.

Dadurch, dass auf diese Weise die Arbeit der Aufklärungsprojekte in die Nähe von Pädosexualität gerückt wird, werden Ressentiments und Ängste um das Kindeswohl geschürt: Lange Zeit nahm man unter anderen als Ursache für Homosexualität frühe homosexuelle Kontakte an. Diese Vorstellung gipfelte in der sogenannten »Verführungshypothese«. Nach dieser würden homosexuelle Missbrauchserfahrungen in der Kindheit eine spätere homosexuelle Identität begünstigen. Insofern haben homophobe Positionen, die männlicher Homosexualität einen Hang zur Pädophilie unterstellen, durchaus eine gewisse Tradition, auf die in Artikeln wie von Schmelcher zurückgegriffen wird.

Schlecht getarnte Homophobie

Wer versucht auf eine verunglimpfende Art und Weise eine moderne, emanzipatorische und eine Vielfalt bejahende Sexualerziehung aus den Schulen zu verdammen, kriminalisiert in alter Tradition homosexuelle Männer. Zudem bewirkt es in Bezug auf das Kindeswohl genau das Gegenteil: Kinder und Jugendliche, die sexuell nicht aufgeklärt sind, unterliegen einer wesentlich größeren Gefahr Opfer sexueller Übergriffe und Missbrauchs zu werden. Ihnen fehlen sowohl das Wissen über die menschliche Sexualität, die Wahrnehmung ihrer eigenen Bedürfnisse als auch die Mittel zur Kommunikation darüber. Insofern erscheint unter dieser Perspektive die Vorstellung einer »Übersexualisierung« geradezu absurd. Altersangemessenes und sachliches Wissen über die Sexualität des Menschen leistet vielmehr einen Beitrag zur Entwick-lung von Kindern und Jugendlichen.

Inzwischen ist empirisch belegt, dass lsbti Lebensweisen weit von einer gleichberechtigten Darstellung in Schule, Unterricht sowie Lehrbüchern entfernt sind. Lsbti-Personen sind nach wie vor weitestgehend unsichtbar in der Schule und finden im regulären Unterricht kaum Berücksichtigung als selbstverständlich dazugehörig. Schimpfwörter wie »Lesbe« oder »Schwule Sau« sind an Schulen bereits ab Klasse 6 weit verbreitet. Lehrkräfte sind zu wenig informiert über die curricularen Vorgaben, die einen gleichberechtigten Umgang mit lsbti-Lebensweisen in Schule und Unterricht fordern. Umso berechtigter ist von daher die Förderung von Akzeptanz sexueller Vielfalt im Rahmen der als Querschnittsaufgabe von Schule gesetzlich verankerten Sexualerziehung.

Ein Thema der BildungsGEWerkschaft!

Als Teil der GEW macht sich die AG Homo-sexuelle Lehrer seit über 30 Jahren dafür stark, dass alle Kinder und Jugendlichen unabhängig von ihrer geschlechtlichen Identität und ihrer sexuellen Orientierung gleichberechtigt in Schule sichtbar werden, an den Bildungsprozessen teilhaben können und in ihrer Entwicklung gefördert werden.

Mit ihrem Beschluss auf dem Gewerkschaftstag 2013 positioniert sich die GEW deutlich »gegen Diskriminierung von LSBTI, sodass alle Kinder und Jugendlichen in der Schule ihr Potential besser entfalten können«. Die GEW macht deutlich, dass für sie Antidiskriminierungsarbeit ein wesentlicher Baustein auf dem Weg hin zu einer Schule ist, in der Vielfalt und Uneindeutigkeit respektiert und wertgeschätzt werden. Dazu muss im Sinne von gewerkschaftlicher Bildungsarbeit ein Beitrag zur Aufklärung und Sichtbarkeit geleistet werden, sodass ein Bewusstsein für Diskriminierung geschaffen werden kann. Homo- und transphobe Argumentationsmuster müssen benannt und enttarnt werden.
Nur durch ein entschiedenes Eintreten gegen derartige Bestrebungen wird es möglich sein, dass KollegInnen in die Lage versetzt werden sich auch selbst überzeugt und aktiv für eine diskriminierungsfreie Schule einzusetzen.