bbz 07-08 / 2018
Verletzte Grundausstattung
Die angeblich verlässliche Grundausstattung für die zukünftige sonderpädagogische Förderung in den Berliner Schulen wird falsch berechnet. Die Umwandlung der tatsächlichen Förderquote in eine fiktive ist verantwortungslos und schadet den Schwächsten.
Zu Beginn des Schuljahres 2017/18 begann schrittweise die Einführung der sogenannten »verlässlichen Grundausstattung« für sonderpädagogische Förderung in den sonderpädagogischen Förderschwerpunkten Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache (LES). Diese Einführung erfolgte anhand eines fehlerhaften Umkehrschlusses und mehrerer Denkfehler bei der Berechnung einer fiktiven Förderquote und wird enorme negative Auswirkungen in der Sekundarstufe haben. Aus einem falschen Idealismus bezüglich der Inklusion erzwingen die GEW und die Senatsverwaltung ein Inklusionskonzept, das für die Kinder mit besonderen Bedürfnissen schlecht ausgehen wird.
Da viele Kolleg*innen die heutige Verteilung der Förderstunden und der Inklusion nicht gut kennen, schildere ich zum Anfang den Ist-Zustand. Für den Förderstatus LES gibt es 2,5 Stunden pro Kind in der Grundstufe und 3 Stunden pro Kind in der Mittelstufe. Ab der Jahrgangsstufe drei ist die Anzahl der Kinder mit einem Förderstatus, egal welchem, auf fünf begrenzt. In der Mittelstufe ist die Anzahl auf vier Schüler*innen pro Klasse begrenzt. Die Überschreitung dieser Grenze durch Kinder ohne Diagnose, mit fahrlässig ausgelaufener Diagnose oder mit einer späteren Diagnose ist an vielen Schulen bekannt. Jedoch ist diese Begrenzung auf vier Kinder pro Klasse für die Verteilung der Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf innerhalb eines Bezirks essentiell. Inklusion funktioniert nur bei einer Mischung der Jugendlichen. Ohne Begrenzung der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf würden sich Schulen, die sich zur Inklusion bekennen, zu verkappten Sonderschulen entwickeln, während andere Schulen Kinder mit Förderstatus gezielt wegberaten könnten.
Neue Förderquote enthält eine Reihe von Denkfehlern
Im Laufe der nächsten sechs Jahre soll die verlässliche Grundausstattung dieses System ablösen. Eine fiktive Förderquote ersetzt langsam die tatsächliche Förderquote. Die fiktive Förderquote setzt sich zusammen aus der Quote der von Zuzahlung zu Lernmitteln befreiten Schüler*innen (lmb-Quote), aus der durchschnittlichen Förderquote für LES in allen Berliner Grundschulen (3,9 Prozent) sowie aus dem Umfang der sonderpädagogischen Förderung der Einzelschule auf Grundlage der Daten des Schuljahres 2016/17. Was in den Sekundarschulen in 2023/24 stattfinden soll, wenn die ersten Schüler*innen aus diesem System ankommen, ist noch nicht entschieden.
Diese fiktive Förderquote enthält eine Reihe von Denkfehlern. Erstens: Aus der lmb-Quote wird ein extrem geringer Anteil von Schüler*innen mit Förderbedarf berechnet (siehe Tabelle). Für eine Schule mit einer lmb-Quote von 40 Prozent wird angenommen, dass 3,5 Prozent der Schüler*innen Förderbedarf haben. In einer Grundschulklas-se von 22 Schüler*innen ergibt das weniger als ein Kind pro Klasse. Erst mit einer lmb-Quote von über 50 Prozent wird angenommen, dass mindestens ein Kind pro Klasse Förderbedarf hat. Es ist eindeutig, dass diese Berechnung absurd gering ist. Das kommt davon, wenn man berlinweite Durchschnittswerte verwendet.
Im Schuljahr 2018/19 werden fast alle neuen siebten Klassen an Integrierten Sekundarschulen (ISS) und Gemeinschaftsschulen in Neukölln das Maximum von vier Schüler*innen mit Förderbedarf aufnehmen. Das ergibt an einer ISS mit einer Klassengröße von 26, eine Förderquote von 15 Prozent. Selbst wenn die Schüler*innen mit Förderbedarf zu gleichen Teilen auch an Gymnasien verteilt würden, läge die Quote weit über 5,5 Prozent, was die Senatsverwaltung als höchsten angenommenen Anteil angibt.
Zweitens: Die Senatsverwaltung will diese Differenz durch eine Nachsteuerungsreserve in Bezug auf die Förderquote des Schuljahres 2016/17 ausgleichen. In diesem Jahrgang jedoch hatten nur wenige Sekundarschulen in Neukölln die Maximalzahl von vier Jugendlichen pro Klasse. Aufgrund der zu geringen Ausstattung mit Sonderpädagog*innen hatten nicht alle Schulen die Ressourcen, ausreichend zu diagnostizieren. Das heißt, an vielen Grundschulen ist der diagnostizierte Förderanteil in 2016/17 geringer als der echte Anteil gewesen. Diese Schulen werden jedoch aus der Nachsteuerungsreserve keine Hilfe bekommen. Darüber hinaus wird hier das bestehende System aus mehr inklusiven und weniger inklusiven Schulen fossilisiert. Die Schulen, die schon 2016 viele Schüler*innen diagnostiziert haben, werden im neuen System besser mit Inklusion umgehen können. Die Schulen, die 2016 zu wenig diagnostiziert haben, müssen mit weniger Stunden auskommen, egal wie viele Kinder mit besonderen Bedürfnissen die jeweilige Schule besuchen.
Drittens: Es ist ein falscher Umkehrschluss, die Förderquote an die lmb-Quote zu hängen. Es gibt zwar eine Korrelation zwischen lmb-Quote und Förderquote. Viele Kinder mit Förderstatus sind lernmittelbefreit. Das heißt aber nicht, dass alle lernmittelbefreite Kinder einen Förderstatus haben. Wenn dieses Prinzip auf die Sekundarstufe ausgeweitet wird, ist seine Absurdität besonders deutlich. Es gibt viele Gymnasien in Berlin mit einer hohen lmb-Quote. Sie haben aber qua Schulform nur eine sehr geringe Anzahl an Schüler*innen mit Förderstatus. Es gibt auch wiederum inklusive Grundschulen, Integrierte Sekundarschulen und Gemeinschaftsschulen, die eine geringere lmb-Quote haben.
Die Etikettierung schützt
Die Befürworter*innen dieser verlässlichen Grund-ausstattung in der GEW und in der Senatsverwaltung erwidern, dass es das Ziel sei, von der Etikettierung weg zu kommen. Die Etikettierung sei eine Belastung für das Kind und eine Diskriminierung. Man hat Angst, »behindert« genannt zu werden, egal mit welchem Euphemismus. Da es aber keine ausreichenden Ressourcen für eine universelle individuelle Förderung gibt, wird eine andere Quote für die Verteilung der geringen Förderstunden benutzt. Diese Annahme ist logisch fehlerhaft, zu gering eingeschätzt und wird dazu führen, dass manche Schulen zu wenige Förderstunden zugeteilt bekommen.
Die Abschaffung der Koppelung der Förderstunden an die Diagnostik zeigt auf, dass die Befürworter*innen der verlässlichen Grundausstattung von einer Art »Beschaffungsdiagnostik« ausgehen. Die Schulen diagnostizierten nur, um Förderstunden zu bekommen. Wenn man keine Förderstunden für die Diagnose bekommt, wird weniger diagnostiziert werden. Schließlich wird weder die Diagnose noch der Förderstatus abgeschafft, nur die Koppelung an die Diagnostik. Die Verkomplizierung der Diagnostik in diesem Jahr spricht ebenfalls für dieses Ziel, dass weniger diagnostiziert werden soll. Das ist einerseits Hohn für die vielen engagierten Kolleg*innen, die sehr aufwendige diag-nostische Arbeit leisten und andererseits im Angesicht der Vorteile einer Diagnose für die Jugendlichen nur ignorant.
Zum einen haben viele Kinder mit LES in der Grundschule schlechte Noten. Kinder mit Förderstatus werden gesondert in die Mittelstufe aufgenommen. Ohne Status haben diese Kinder keine Chance, von den »besseren« Integrierten Sekundarschulen mit einem inoffiziellen Notendurchschnitt aufgenommen zu werden und werden an die de facto Hauptschulen verbannt.
Zum anderen sind die Status »Sprache« und »Emotional-soziale Entwicklung« bei den Verhandlungen gegenüber außerschulischen Partnern, insbesondere dem Jugendamt, besonders hilfreich für die Gewährung der rationierten Leistungen.
Zuletzt und am wichtigsten, wird von den Inklusionsidealist*innen der Status »Lernen« am heftigsten kritisiert, denn er sei ein deutscher Sonderfall. Der Status ist aber das Produkt des gesamten deutschen Schulsystems. Selektion in der Mittelstufe führt zur Benotung in der Grundschule. Ohne Status werden diese Kinder schon in den jüngsten Jahren zu einer schlechten Benotung wegen der Selektion verdammt.
Das demotiviert und führt in der Mittelstufe zu Schuldistanz. In der Mit-telstufe schützt der Status diese Jugendlichen davor, die Schule ohne Abschluss zu verlassen. Er ermöglicht den Besuch von weiterführenden Schulen, die diesen Schüler*innen noch zu einem regulären Schulabschluss verhelfen. Wie zu erwarten ist, sind die Plätze an diesen Schulen denkbar knapp und deshalb nur für Schüler*innen mit Förderstatus vorgesehen.
Die Idealist*innen werden erwidern, dass das System eben fehlerhaft und diskriminierend an sich sei. Dem stimme ich vollkommen zu. Man beginnt jedoch bei der Reform eines Systems nicht bei den Schutzmechanismen für die Schwächsten. Bis alle Schulen eine ausreichende Ausstattung an Sonderpädagog*innen haben, bis die Inklusion in die Lehrkräfteausbildung praxisnah integriert wird, bis die Schulbuchverlage die Inklusion umgesetzt haben, bis die Benotung in der Mittelstufe anhand eines inklusiven Rahmenlehrplans umgesetzt ist und bis alle Grundschulen die Benotung zwecks Selektion abgeschafft haben, ist die Diagnose von Förderstatus weiterhin notwendig. Die Etikettierung muss bleiben und die Förderstunden, egal wie knapp, müssen sich weiterhin am Kind orientieren. Das aktuelle Vorgehen ist nichts Weiteres als eine Kürzung für die Sonderpädagogik in der naiven Hülle einer Pseudoemanzipation der Bedürftigsten.