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Tendenzen

Verweigerte Solidarität

Ein Interview mit Tabea Adler von der Fachberatungsstelle OFEK e.V. darüber, was jüdische Schüler*innen seit dem Überfall der Hamas auf Israel erleben.

Foto: IMAGO

Rosa Fava: Wie sieht die Arbeit bei OFEK aus? 

Tabea Adler: OFEK ist die erste Fachberatungsstelle in Deutschland, die sich auf Antisemitismus und Community-orientierte Beratung spezialisiert, eine Antwort auf die Zunahme antisemitischer Vorfälle und einen lange übersehenen Bedarf an qualifizierter Unterstützung. Wir beraten, begleiten und unterstützen Betroffene, ihre Angehörigen sowie Zeug*innen antisemitischer Vorfälle und Gewalttaten in oft mehrsprachigen Formaten: Einzelfallberatung, Gruppenangebote, wir bieten eine tägliche bundesweite Hotline an sowie in fünf Bundesländern Unterstützung vor Ort. Die Beratung von Jugendlichen, Familien und Studierenden sowie von Schulen und anderen Bildungsinstitutionen stellen wichtige Schwerpunkte unserer Arbeit dar. 

Wie hat sich eure Arbeit seit dem Überfall der Hamas auf Israel verändert? 

Adler: Seit dem 7. Oktober 2023 arbeiten alle OFEK-Standorte im Krisenmodus: Zeitweilig haben wir die Zeiten unserer Hotline verlängert und unsere Angebote der Einzelfallberatung, der Krisenintervention, der psychologischen Beratung von Einzelpersonen und Gruppen und der rechtlichen Erstberatung erweitert, ebenso pädagogische und psychologische Angebote für Familien, Jugendgruppen, Studierende und Bildungseinrichtungen. In Kooperation mit dem Kompetenzzentrum für antisemitismuskritische Bildung und Forschung haben wir digitale Sprechstunden für Lehrkräfte durchgeführt. Der hohe Bedarf offenbart Lücken im Bereich von Intervention, Prävention und Opferschutz. Die Fachberatung von Organisationen zu Krisenintervention, Umgang mit Gewalt und Trauma, zu Schutzkonzepten und Notfallprotokollen wurde ebenfalls ausgeweitet; zusammen mit weiteren Safer Spaces, also Gesprächsräumen zur Entlastung und Stärkung, für Studierende und Hochschulen, für Schulen und Kitas.

Was waren typische Erfahrungen von jüdischen Schüler*innen vor dem letzten Herbst? 

Adler: Jüdische Schüler*innen haben oft antisemitische Kommentare und Mobbing bis hin zu körperlichen Angriffen erlebt, häufig verbunden mit Vorurteilen und Unwissenheit über das Judentum. Viele fühlten sich unter Druck gesetzt, da sie mit dem Nahostkonflikt in Verbindung gebracht wurden. Schulen boten oft unzureichende Unterstützung bei antisemitischen Vorfällen, was das Gefühl von Isolation verstärkte. Aus Angst vor negativen Reaktionen verbargen einige Schüler*innen ihre jüdische Identität. Diese Erfahrungen führten zu einem Gefühl der Ausgrenzung und Unsicherheit. Insgesamt war der Schulalltag von Belastungen, dem Übersehen von Bedarfen, der Annahme von Nichtpräsenz und mangelndem Verständnis geprägt. 

Was hat sich seit dem 7. Oktober 2023 dann verändert? 

Adler: In den ersten sechs Monaten nach dem Anschlag haben wir insgesamt 1.333 Beratungsanfragen bearbeitet, davon 987 Fälle mit Bezug zu einem oder mehreren antisemitischen Vorfällen. In weiteren 316 Fällen ging es um psychische und soziale Folgen des Massakers und Krieges in Israel/Gaza, Angst und Sorge um Kinder und Angehörige, Ungleichbehandlung und Diskriminierung. Die aktuelle Zahl übertraf die Gesamtzahl aller Beratungsanfragen seit der Gründung von OFEK e.V. im Juli 2017. 

Wie viele der Anfragen betrafen Erlebnisse in Verbindung mit Schulen? 

Adler: Etwa jede siebte Anfrage bezog sich auf die Schule. Die Intensität, die Direktheit und der Gewaltgehalt des Erlebten haben sich enorm verstärkt. Jüdische Schüler*innen vermeiden nicht nur, diesen Teil ihrer Identität offenzulegen, sondern wägen im Einzelfall ab, wem sie es vielleicht doch schon gesagt haben und was das für Konsequenzen haben könnte. Sie erleben eine extreme Solidaritätsverweigerung. In den ersten Wochen fragten uns dutzende besorgte Eltern, ob sie ihr Kind überhaupt in die Schule schicken können. Zudem sind die antisemitischen Vorfälle auch an Schulen sprunghaft angestiegen. Häufig kam es zu körperlicher oder unzweideutiger verbaler Gewalt. In Chatgruppen wurde Hamas-Videomaterial geteilt und Schüler*innen gedroht, ihnen solle dasselbe passieren. Rechte Symboliken und Grußformeln waren extrem häufig Thema, auch rote Dreiecke. 

Können Sie dabei eine Entwicklung feststellen? 

Adler: Die erste Zeit war geprägt von einem riesigen Unsicherheitsgefühl: Wie erkläre ich meinem Kind, dass es nicht allein nach Hause gehen kann? Wie erkläre ich, was am 7. Oktober passiert ist und warum ich das ganze Wochenende geweint habe? Wie spreche ich über Krieg? Dies wurde zusätzlich durch die aufgeheizten, hasserfüllten und zum Teil äußerst antisemitischen Demonstrationen, dem Ausrufen von internationalen »Tagen des Zorns«, Markierungen von Häusern mit Davidsternen et cetera verstärkt Dem folgte eine noch anhaltende Phase von vielen gewaltvollen, hasserfüllten Vorfällen. Schüler*innen berichten uns, dass sie sich nicht mehr auf den Schulhof trauen, sich in den Pausen auf der Toilette verstecken, antisemitische Kommentare Alltag geworden sind, sie nicht mehr Teil des Klassenchats sind. Es gibt selten Vertrauenspersonen oder eine adäquate Reaktion, die Solidarität und Schutz vermittelt. 

Wie verarbeiten die Schüler*innen die Erfahrungen? 

Adler: »Verarbeiten« ist hier ein großes Wort. Wir wissen, dass all diese Erfahrungen, Einzel- wie Kollektiverfahrungen, Menschen immer begleiten werden. Dass Ratsuchende einen ermächtigten Umgang damit finden, ist Ziel unserer Beratungen. Mehrfachbetroffenheiten, wie ein Migrationshintergrund aus der Ukraine, verstärken das Erlebte noch zusätzlich. Eine Abwanderung auf jüdische Schulen war schon immer nach antisemitischen Vorfällen sehr stark zu verzeichnen, jetzt noch einmal mehr. 

Gibt es auch Solidarität und Unterstützung? 

Adler: Ja, aber ehrlich gesagt sind die solidarischen Kreise um Jüdinnen und Juden sehr, sehr klein geworden. In vielen vormals solidarischen Gruppen offenbarte sich ein tiefer Antisemitismus. In Beratungsgesprächen werden mitunter unterstützende und engagierte Personen genannt, insgesamt aber leider selten. 

Was können Schulen tun? 

Adler: Der Umgang von Lehrenden und Schulleitungen mit Antisemitismus ist meistens von Unsicherheit, Distanz, Unentschlossenheit und Passivität gekennzeichnet. Meist wird der Vorfall als alleinstehendes Einzelereignis beschrieben. Alle sind schockiert, dass so etwas geschehen konnte und lagern es auf eine Gruppe Schuldiger aus. So begreift man nicht die strukturelle Dimension. Es braucht eine klare Haltung gegen Antisemitismus, es bedarf einer schnellen und sicheren Reaktion auf Vorfälle, Konzepte, die Sicherheit über Zuständigkeiten und Reaktionswege geben, regelmäßiger Sensibilisierungstrainings für die Lehrenden und damit eine Selbstpositionierung und Auseinandersetzung mit dem Thema. Also Kompetenzentwicklung in einer kontinuierlichen Evaluation und Anpassung. Daraus entsteht im besten Falle ein inklusives und solidarisches Klima, in dem sich jüdische und alle Schüler*innen sicher fühlen können. 

Wie kann man den Nahostkonflikt behandeln? 

Adler: Wir brauchen hier zunächst eine systematische Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen. Es zeichnet sich deutlich ab, dass Unsicherheiten nicht mit rein wissensvermittelnden Formaten auflösbar sind. Es bedarf also zunächst Räume, in denen Lehrende eine Selbsterfahrung durchlaufen, bevor sie sich konstruktiv mit den Schüler*innen auseinandersetzen können. Häufig wird davon ausgegangen, dass gar keine Schüler*innen mit Betroffenheiten anwesend sind oder nur von einer »Seite«. Die Annahme der Nichtexistenz kann hierbei etwas sehr Verletzendes sein und Schüler*innen vielleicht zu einem »Outing« nötigen. Die lehrende Person würde sicherlich und sollte definitiv den Unterricht anders gestalten, wenn sie um Betroffenheiten wüsste. Denn das, was Nicht-Betroffene sehen und erleben, ist überhaupt nicht das, was Betroffene sehen und erleben. Diese Diskrepanz muss reflektiert werden. Was jüdische Schüler*innen gebraucht hätten, wären Anteilnahme und eine klare Einordnung und Verurteilung des Massakers gewesen. So aber wurde, wie auch durch den eklatanten Anstieg von Antisemitismus, eine ganz deutliche Botschaft an Jüdinnen und Juden gesendet.

ofek-beratung.de

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46