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Schwerpunkt "Mehr Lehrkräfte gut ausbilden"

Von nichts kommt nichts

Abzeichen am Schulgebäude, Selbstverpflichtungen in Schulleitbildern oder punktuelle Fortbildungen machen eine Schule noch lange nicht frei von Diskriminierungen. Lehrkräfte müssen hierfür bereits im Studium geschult werden.

Foto: Adobe Stock

Was muss eine Lehrkraft wissen? Sollte ein*e Grundschullehrer*in im Mathematikstudium sich mit Matrizen, Infimum und Supremum auseinandersetzen? Muss ein*e Sekundarschullehrer*in im Germanistikstudium mittelhochdeutsche Literatur gelesen haben? Sicherlich tragen derartige Inhalte zum Gesamtverständnis des Faches bei, doch der Beruf von Lehrer*innen ist so komplex, dass eine vorrangige Ausbildung zu Fachwissenschaftler*innen allein nicht zielführend ist. Didaktische und pädagogische Aspekte kommen im Studium immer noch zu kurz, wodurch der Transfer zwischen Fach- und Lehrtätigkeit nicht hinreichend gewährleistet und Schule nicht als aktiv mitzugestaltender Ort vermittelt wird. Ich kann noch so umfangreiches germanistisches, historisches oder biologisches Fachwissen mitbringen – was bringt es mir, wenn ich mich nicht ausreichend damit auseinandergesetzt habe, wie ich es überhaupt vermitteln kann, wie ich diagnostizieren, differenzieren und fördern kann oder wie ich das im Berliner Schulgesetz festgeschriebene Recht auf »diskriminierungsfreie schulische Bildung« erfüllen und meinen erzieherischen Auftrag zur Demokratiebildung umsetzen kann?

Worauf das Studium kaum vorbereitet

Der Schulalltag besteht nicht nur aus Unterricht. Und auch im Unterricht passieren Dinge, die vom Plan abweichen und auf die unter hohem Zeit- und Handlungsdruck reagiert werden muss. Wenn ich im Referendariat – theoretisch angeleitet, praktisch eher allein – eigene Lerngruppen zugeteilt bekomme, Klassenarbeiten stelle und korrigiere oder Noten vergebe, stellen sich etliche Fragen, die sich allein nicht lösen lassen. Darüber hinaus kommt es dann aber auch zu solchen Situationen: Ein*e Schüler*in fragt im Geschichtsunterricht, ob er*sie heute noch so etwas wie »du Jude« sagen dürfe. Wie reagiere ich als Lehrkraft auf Aussagen, die ich nicht direkt einordnen kann? Wie gehe ich mit Beleidigungen um, die sich innerhalb der Klasse gegenseitig zugeworfen werden? Was tue ich, wenn ein*e Schüler*in mit einer Russlandfahne zur Schule kommt – ausgerechnet an dem Tag, an dem aufgrund des Angriffskriegs auf die Ukraine als Zeichen der Solidarität ein Friedenszeichen auf dem Schulhof gebildet werden soll? Welche Optionen habe ich, wenn mir zugetragen wird, dass in der Klassen-WhatsApp-Gruppe rassistische Bilder geteilt werden?

Als Lehrkraft stelle ich innerhalb der Klasse die Autoritätsperson dar. Ich stehe, ob ich es will oder nicht, hierarchisch über den Schüler*innen und werde als umfangreich gebildete Person wahrgenommen. Mein Einfluss ist enorm und die Schüler*innen empfangen Signale: Je nachdem, wie ich auf solche kritischen Situationen reagiere, werden diese als akzeptiert oder als Grenzüberschreitung wahrgenommen. Diese Machtposition muss im Studium und Referendariat kritisch reflektiert werden.

Diskriminierende Strukturen entdecken und Handlungsoptionen entwickeln

In den wenigen bildungswissenschaftlichen Modulen des Lehramtsstudiums geht es sehr allgemein um die Institution Schule, im Fokus stehen standardisierte Lernpsychologie und Input-Output-Steuerung. Um auf gegenwärtige Herausforderungen adäquat reagieren zu können, muss das Lehramtsstudium aber auch auf gesellschaftliche Konflikte wie beispielsweise Diskriminierung eingehen und sozial beziehungsweise kulturwissenschaftliche Zugänge zu Bildung und Schule aufzeigen. Bislang liegt es an einzelnen Dozierenden, die sich mit derartigen Themen beschäftigen und passende Lehrveranstaltungen anbieten. Das heißt, dass nur wenige Studierende die Chance bekommen, sich mit diesen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Und dass es ohnehin oft keine wirkliche Wahlmöglichkeit gibt, sondern jede*r froh ist, überhaupt in irgendeinem der Seminare einen Platz zu ergattern, ist definitiv kein Geheimnis.

Was konkret fehlt, sind Ansätze aus der Diversitäts- und Intersektionalitätsforschung im Lehramtsstudium, was auch Maisha Auma, momentan Audre-Lorde-Gastprofessorin in der Berlin University-Alliance, fordert. Dies würde beispielsweise bedeuten, in partizipativ gestalteten Seminaren diskriminierende Strukturen gemeinsam zu entdecken und Handlungsoptionen zu entwickeln. Am besten gelingt dies anhand von Fällen aus der Praxis: Aus den oben genannten Beispielen wird klar, dass es keine »einfache« Standardlösung gibt und oft in Sekundenbruchteilen reagiert werden muss. Allerdings ist es möglich, in Supervisionen oder Fallberatungen die vielfältig vorhandenen Praxiserfahrungen der Lehramtsstudierenden in die universitäre Lehre zu integrieren – und diese auch diskriminierungskritisch zu beleuchten. Mehr Praxis allein macht das Studium nicht besser, kann sogar unerwünschte Effekte haben, wenn zum Teil diskriminierende Schulpraktiken einfach übernommen werden und unreflektiert bleiben. Individuelle Reflexionen beanspruchen jedoch Ressourcen im ohnehin vollgepackten Lehramtsstudium: Der Umgang mit Heterogenität lässt sich nicht in Vorlesungen auswendig lernen und hinterher per Kreuzchen-Klausur abprüfen, sondern erfordert auch Zeit für die Studierenden, sich intensiv mit ihren eigenen Bildungserfahrungen auseinanderzusetzen.

Das Recht auf diskriminierungsfreie Bildung ermöglichen

Konkret hat sich die aktuelle Koalition vorgenommen, in dieser Legislatur die Gesetze und Verordnungen zur Lehrkräftebildung zu aktualisieren und hierbei den Umgang mit unterschiedlichen Diskriminierungsformen im Studium zu verankern. Gerade im weiterführenden Lehramt müssen deutlich mehr Räume für erziehungswissenschaftliche Module und individuelle Vertiefungen geschaffen werden – einfach noch mehr Stichpunkte in die übervollen Modulkataloge zu schreiben, so wie heute schon »Inklusion« als Querschnittsthema überall einbezogen werden soll, führt nur dazu, dass Themen meist höchstens beiläufig in den Blick genommen werden. Die (psychologische, sozialwissenschaftliche und Praxis reflektierende) Auseinandersetzung mit Bildung und vor allem Schule als professionellem Handlungsort von Lehrkräften muss im Studium mindestens den gleichen Anteil bekommen wie die Fachwissenschaften. Noch zielführender wären ihre konsequente Verzahnung und eine echte Integration der unterschiedlichen Perspektiven statt eines bezugslosen Nebeneinanders. Insbesondere im Reformprozess der nächsten Jahre, den die Berliner Regierungskoalition anstoßen will, ist es entscheidend, dass wir als GEW BERLIN mit den vielfältigen intersektional arbeitenden, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen gemeinsam auf den Prozess einwirken und unsere Forderungen durchsetzen: Dann stehen die Chancen gut, dass künftige Lehrkräfte stärker dazu befähigt werden, Kindern und Jugendlichen ihr Recht auf diskriminierungsfreie Bildung zu ermöglichen. 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Privat:  030 / 219993-46