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Kinder,- Jugendhilfe und Sozialarbeit

Von »Sprachdefiziten« und anderen Mythen

Mehrsprachigkeit bei Kindern oder Mitarbeiter*innen wird in Kitas oft beargwöhnt. Dabei sollte sie als Chance betrachtet und gefördert werden.

Foto: Adobe Stock

Bundesweit haben etwa 28 Prozent der Kinder unter sechs Jahren in Kitas einen ›Migrationshintergrund‹. Diese Tendenz ist seit Jahren steigend. Wenngleich Mehrsprachigkeit als Mehrwert in Bildungs- und Erziehungsplänen betrachtet wird, spiegelt sich diese Realität kaum in den elementarpädagogischen Konzepten und Förderansätzen wider. Vielmehr scheinen Pädagog*innen ihre vorrangige Aufgabe darin zu sehen, den Erwerb der deutschen Sprache als einzig legitime Sprache im monolingualen Kontext der Frühpädagogik zu fördern. Diese Perspektiven sind eingebettet in einen jahrzehntelangen wirkmächtigen Neo-Linguizismus im deutschen Bildungssystem. Darunter ist eine Benachteiligung beziehungsweise Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Herkunftssprache zu verstehen. Dieser Blick auf Sprache zeigt sich beispielsweise darin, dass die Mehrsprachigkeit der Mehrheit der Kinder mit ›Migrationshintergrund‹ als ‚störend‘ definiert wird, wenn sie nicht die in Schulcurricula enthaltenen Sprachen wie Englisch oder Französisch umfasst sowie keine ökonomistische Verwertbarkeit der jeweiligen Sprachen für Bildungs- und Berufsverläufe angenommen wird.

Mehrsprachigkeit frühpädagogischer Fachkräfte

Monolingualer Habitus und Neo-Linguizismus zeigt sich auch im Umgang mit der Mehrsprachigkeit der frühpädagogischen Fachkräfte. 2016 lag der Anteil an Beschäftigten mit ›Migrationshintergrund‹ im frühpädagogischen Bereich bei 13 Prozent. Auch die Verbleibsquote fällt signifikant geringer aus: Nur die Hälfte der Kinderpfleger*innen, Sozialassistent*innen und Erzieher*innen mit ›Migrationshintergrund‹ verbleiben nach ihrer Ausbildung im Berufsfeld. Zudem sind sie überproportional häufig von Befristung ihrer Beschäftigungsverhältnisse und atypischen Arbeitsbedingungen wie geringfügiger Beschäftigung und Sicherung des Lebensunterhalts über Transfergeldleistungen und Einkommensarmut betroffen.

Die Studie »Von Sprachdefiziten und anderen Mythen« untersucht die Ursachen der unterschiedlichen Teilhabechancen von Fachkräften mit ›Migrationshintergrund‹ in der Frühpädagogik.

Anerkennung migrationsbedingter Mehrsprachigkeit

Für die Studie war die folgende Fragestellung von zentraler Bedeutung: Unter welchen Bedingungen werden linguizistische Normgebungen im frühpädagogischen Handlungsfeld erzeugt und inwieweit wird migrationsbedingte Mehrsprachigkeit anerkannt und als fördernd im pädagogischen Alltag eingebunden?

Unter Einsatz sowohl quantitativer als auch qualitativer Forschungszugänge wurden Kindertagesstätten-Leitungskräfte und pädagogische Fachkräfte mit ›Migrationshintergrund‹ in Kindertagesstätten befragt.Die Ergebnisse der Studie bestätigen sowohl die Unterrepräsentation von Fachkräften mit ›Migrationshintergrund‹ im elementarpädagogischen Berufsfeld als auch ihre schlechteren Berufs- beziehungsweise Aufstiegsperspektiven. Als Ursachen konnten neo-linguizistische Bevorzugungen von Fachkräften mit westeuropäischen Sprachen und institutionelle Formen der Benachteiligung von Bewerber*innen entlang der Kategorie Sprache bei Einstellungs- und Beförderungsverfahren identifiziert werden. Begleitet werden diese Praxen der Diskriminierung zum Teil durch kulturrassistische Kollektivannahmen, wie zum Beispiel, dass Fachkräfte mit russischem ›Migrationshintergrund‹ »autoritär« seien. Für die Einrichtungen in kirchlicher Trägerschaft ist zudem anzumerken, dass Leitungspositionen mit der Begründung einer »verkündigungsnahen« Tätigkeit nur Fachkräften mit christlichem Bekenntnis zugänglich sind. Vor dem Hintergrund, dass Kindertageseinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft regional teilweise einen hohen Anteil ausmachen, stellt die ‚Bekenntnis-Anforderung‘ für nicht-christliche Fachkräfte eine weitere Zugangs- und Aufstiegsbarriere dar.

Die in der Studie beobachteten Aufstiegs- und Beschäftigungsbedingungen machen das Berufsfeld Elementarpädagogik für Fachkräfte mit ›Migrationshintergrund‹ in spezifischer Weise unattraktiv und führen zum niedrigen Verbleib. Ihre Mehrsprachigkeit wird kaum anerkannt und in die pädagogische Arbeit eingebunden. Zudem findet die Unterstützung zum berufsbegleitenden Lernen der deutschen Sprache kaum Beachtung. Bei der derzeitigen Situation im elementarpädagogischen Berufsfeld kann davon ausgegangen werden, dass ein Beharren auf dem B2/C1 Deutschsprachniveau sich perspektivisch als nicht funktional für die pädagogischen Institutionen erweisen wird. Akzentfreies Deutsch sagt nichts über die fachlichen Kompetenzen der Personen aus.

Die kritischen Auseinandersetzungen mit Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen, die sich zum Beispiel darin zeigen, dass Leitungspositionen hauptsächlich von Fachkräften ohne ›Migrationshintergrund‹ besetzt werden und Mehrsprachigkeit kaum Anerkennung findet, halten wir für eine wesentliche Voraussetzung von migrationsgesellschaftlichen Öffnungsprozessen. Dies gilt auch für den Umgang mit religiöser Zugehörigkeit in einer multireligiösen und zunehmend konfessionsfreien Migrationsgesellschaft.

Durch migrationsgesellschaftliche Öffnung können kulturalisierende und diskriminierende Zuschreibungen bei Aufnahme- und Einstellungsverfahren sowie im beruflichen Alltag thematisiert und unterstützende Instrumente angeboten werden. Die Ausbildungsstätten können dabei einen wichtigen Beitrag zum Paradigmenwechsel beitragen. Das Einläuten eines Perspektivwechsels hin zur Migrationspädagogik ist aus unserer Sicht für das Berufsfeld nicht nur hilfreich, sondern auch notwendig. Verbunden ist damit auch eine inhaltliche und konzeptionelle pädagogische Ausrichtung in den Ausbildungs- und Weiterbildungscurricula, die rassismuskritische Ansätze aufgreift.     

Um die problematische Konstruiertheit und die provisorische Verwendung des Begriffs ›Migrationshintergrund‹ anzuzeigen, markieren die Autorinnen ihn mit einfachen Anführungszeichen.

 

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46