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bbz 03 / 2019

Vorurteile können hartnäckig sein

Sinti*zze und Rom*nja werden häufig nur als soziale Randgruppe wahrgenommen. Jedoch bilden sie mit mehr als zehn Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa. Wo liegen ihre historischen Wurzeln? Wie sieht ihre Lebenssituation aus und warum halten sich Vorurteile so hartnäckig?

Für die neuen EU-Staaten Bulgarien und Rumänien stellte eine UNICEF-Studie fest, dass die dort lebenden Rom*nja zu einer nicht geringen Zahl ohne Anbindung an die öffentliche Infrastruktur leben. Die populistische Maßnahme der französischen Regierung, in Frankreich Rom*nja auszuweisen, kam nicht etwa von einer rechtsextremen Partei, sondern von der bürgerlichen Regierung Nicolas Sarkozys. Ressentiments gegen Sinti*zze und Rom*nja sitzen tief in Europas Mitte und verhindern, dass Migration und Verschiedenartigkeit als Normalität begriffen wird. Das ist schade, denn Sinti*zze und Rom*nja haben in Europa eine lange, wenn auch nicht immer glückliche, Geschichte.

Migration hat Ursachen

Zunächst ist festzuhalten: Die Menschheitsgeschichte kennt eine nicht geringe Zahl von Migrationsprozessen. Zu den bekanntesten gehört die Völkerwanderung. Zu den wichtigsten Ursachen solcher Wanderungsbewegungen zählen Krieg und Hungersnöte sowie bessere Lebensbedingungen im Einwanderungsland. Selbstverständlich gelten diese Ursachen für die historische Migration der Sinti*zze und Rom*nja wie auch für die derzeitige Migration osteuropäischer Rom*nja nach Westeuropa.

Aufgrund sprachlicher Verwandtschaft des Romanes, der Sprache der Sinti*zze und Rom*nja, mit den nordwestindischen Sprachen gilt die indische Herkunft der Rom*nja mittlerweile als gesichert.

Einen historischen Einschnitt erlebten die Vorfahren der heutigen Sinti*zze und Rom*nja durch den afghanischen Fürsten Mahmud von Ghazni im 11. Jahrhundert. Er eroberte damals die nordwestindischen Regionen Punjab, Sindh und Rajastan. Die dortige Bevölkerung geriet in die Sklaverei oder wurde vertrieben. Diese Ereignisse führten zu ersten Migrationsbewegungen von Sinti*zze und Rom*nja nach Europa. Dort wurden sie zunächst geduldet. So erhielten sie im Heiligen Römischen Reich sogar königliche Schutzbriefe. Diese Periode fand jedoch mit den Reichstagen der Jahre 1496 und 1498 ein Ende: Sinti*zze und Rom*nja wurden angesichts der osmanischen Expansion für vogelfrei erklärt, denn sie galten nun als türkische Spion*innen und Feind*innen der Christenheit. Im 18. Jahrhundert waren unter der Kaiserin Maria Theresia Eheschließungen zwischen Rom*nja untersagt. Kinder der Rom*nja wurden ihren Eltern weggenommen, um sie christlichen Pflegeeltern zu übergeben.

Auch in Spanien gab es im selben Jahrhundert Assimilationsversuche: Den dort lebenden Rom*nja war es untersagt, ihre Muttersprache zu sprechen. Im Nationalsozialismus wurde es ausgenutzt, dass Sinti*zze und Rom*nja aufgrund von strukturellem Rassismus behördlich erfasst wurden. So war die Verfolgung durch die Nazis einfacher zu bewerkstelligen. Im Jahr 1936 wurde das »Zigeunerlager« Marzahn in Berlin geschaffen, um Rom*nja und Sinti*zze zu stigmatisieren und auszugrenzen, in Auschwitz gab es einen eigenen Lager-Bereich, um sie der schnelleren Vernichtung zuzuführen. Ressentiments gegen Rom*nja und Sinti*zze hielten sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich. Selbst in unserem demokratischen Zeitalter stellte das Europäische Parlament erst im Jahr 2005 fest, dass Rom*nja Opfer ethnischer Säuberungen, wie auch Vertreibungen in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens gewesen sind.

Die Rom*nja sind keine einheitliche Gruppe

Sinti*zze und Rom*nja haben im Verlauf ihrer Geschichte neben ihrem historisch-indischen Erbe auch kulturelle und sprachliche Prägungen der europäischen Nationalstaaten übernommen. Daher kann mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Rom*nja eine heterogene Gruppe sind. Sie bilden keine geschlossene Gemeinschaft, sondern teilen sich in zahlreiche unterschiedliche Gruppen mit vielfältigen, von der Sprache, Religion, Kultur und Geschichte der jeweiligen Dominanzgesellschaft geprägten, Besonderheiten. Ihre Lebenssituation ist häufig davon abhängig, wie sie sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft positionieren, um das eigene Überleben und die Identität zu sichern. In den meisten EU-Staaten, die die Sinti*zze und Rom*nja als Minderheit formal anerkennen, werden Rom*nja auch heute noch diskriminiert und so wie die Rom*nja selbst vielfältig sind, so sind es auch die Formen der Diskriminierung.

Ressentiments sind leider salonfähig

Die Zuwanderung aus Südosteuropa wird in den Medien und im politischen Diskurs oft bewusst falsch dargestellt, um auf Kosten von Sinti*zze und Rom*nja politische Stimmungsmache zu betreiben. So wird es nicht selten so dargestellt, als würden in Massen Rumän*innen und Bulgar*innen nach Deutschland einwandern, um »unsere Sozialkassen zu plündern«. Dass Rom*nja auch in diesen Ländern eine Minderheit darstellen und nicht jede*r Bulgar*in Rom*ni ist oder nicht jede*r Rom*ni automatisch bulgarisch oder rumänisch ist, wird hierbei gerne übersehen. Auch kann nicht von einem massenhaften Zuzug die Rede sein. So machen laut dem Ausländerzentralregister 145.000 bulgarische und 262.000 rumänische Staatsangehörige nur etwa 5,5 Prozent der ausländischen Bevölkerung in Deutschland aus.

Außerdem ist Deutschland nicht das Top-Zielland von bulgarischen und rumänischen Zuwander*innen. Tatsächlich sind es Länder wie Spanien und Italien, in denen jeweils eine Million Bulgar*innen und Rumän*innen leben.

Auch das Märchen von den ewig umherziehenden »Zigeuner*innen«, unfähig zur Anpassung und zur ewigen »Wanderung« verdammt, hält sich im medialen und politischen Diskurs. Das negiert, dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Rom*nja keinesfalls »nomadisiert«, sondern seit langem ortsfest lebt und nicht anders als andere regionale Bevölkerungen auf eine lange Geschichte fester Ansiedlung in regionalen Räumen zurückschauen kann. Die Vorstellung vom »Nomadenvolk« hat tatsächlich keine empirische Grundlage. So wird auch übersehen, dass Migration strukturelle, nicht aber ethnische Ursachen hat. Weitere, sich hartnäckig haltende Stereotype, sind Eigenschaften wie Leichtsinn, Treulosigkeit, Verschlagenheit, Boshaftigkeit, Unehrlichkeit, Rücksichtslosigkeit, Unverschämtheit, Neigung zu Bettelei und Diebstahl, magische und wahrsagerische Fähigkeiten, große Freiheitsliebe, starke erotische Ausstrahlung, besondere rhythmische und musikalische Fähigkeiten. Dieser Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja wird als Antiziganismus bezeichnet. Da der Fachbegriff das abwertende Wort »Zigeuner« beinhaltet, ist er nicht umstritten.

Im aktuellen öffentlichen Diskurs werden Rom*nja vor allem mit »Armutszuwanderung« in Zusammenhang gebracht. Der Begriff ist im politischen Diskurs fast zu einem Synonym für Rom*nja geworden. Insbesondere CSU-Politiker*innen haben genau das forciert. Ich erinnere an den ehemaligen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der ausgerechnet am Tag der Einweihung des »Denkmals für die ermordeten Sinti und Roma Europas« vor Zuwanderung in deutsche Sozialkassen gewarnt hat. Ein Vorurteil, dass nicht nur am rechten Rand Wähler*innenstimmen »fischen« soll. Anfang des Jahres 2014 begannen erneut CSU-Politiker auf die angebliche Zuwanderung in deutsche Sozialkassen im Rahmen ihrer Wahlkampagne hinzuweisen und propagierten dabei die Parole »Wer betrügt, der fliegt«.

Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma verwies in einer Pressemitteilung, dass demokratische Parteien mit solchen Kampagnen rechtsextremistische Positionen salonfähig machen und Fremdenfeindlichkeit bestärken. Erinnert sei hier an das Wahlplakat der NPD: »Mehr Geld für die Oma statt für Sinti und Roma.« Hinzu kommt, dass trotz parlamentarischer Anfragen der Linksfraktion die Bundesregierung bisher keinen Beleg für Sozialmissbrauch vorlegen konnte. Stattdessen erklärte EU-Justizkommissarin Viviane Reding in diesem Zusammenhang, »dass wir sehr niedrige Zahlen von EU-Bürger*innen haben, die nach Deutschland kommen und im sozialen Bereich etwas empfangen. Die meisten zahlen ein und bekommen nichts heraus.« Auch die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström bezeichnete die Klagen über Sozialmissbrauch als »hoch übertrieben«.

Die Rede von der »Armutszuwanderung« impliziert auch, dass Zuwanderer*innen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten Rumänien und Bulgarien alle bildungsfern sind oder keiner Beschäftigung nachgehen. Die Fakten widerlegen auch dieses Vorurteil. Dennoch ist im Koalitionsvertrag explizit festgehalten worden, dass die Bundesregierung dem illegalen Zugang zur Sozialhilfe von »Armutszuwanderung« entschieden entgegenwirken wird. Eine reine Symbolpolitik! So sind ein Fünftel der Zuwanderer*innen aus Rumänien und Bulgarien im Alter zwischen 25 und 44 Jahren Hochschulabsolvent*innen. Auch erklärt der Sachverständigenrat, dass eine Zuwanderung in die Sozialsysteme nicht vorliegt, zumal fast drei Viertel der Bulgar*innen und Rumän*innen im Alter zwischen 25 und 44 Jahren einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Natürlich ist das der Bundesdurchschnitt, in bestimmten Städten ist diese Beschäftigungsquote deutlich niedriger. Hierzu zählen Städte wie Dortmund, Duisburg oder Mannheim, die immer wieder mit Negativschlagzeilen in den Medien sind, da sie einen hohen Zuzug von Bulgar*innen und Rumän*innen in verarmte Stadtviertel aufweisen. Die Armut dort war allerdings schon vorher da und die meisten dieser Städte sind überdurchschnittlich verschuldet. Die sozialen Probleme können diese Städte letztlich ohne finanzielle Unterstützung der Länder oder des Bundes nicht lösen. Was die Finanzkrise angeht, müssen wir uns als Europäer*innen die Frage stellen, wie es sein kann, dass europäische Regierungen nahezu vorbei an der parlamentarischen Souveränität Sonderhaushalte zur Rettung von Banken beschließen, aber gleichzeitig Städte wie Duisburg keine finanziellen Mittel für ihre sozialpolitischen Herausforderungen zur Verfügung gestellt bekommen.

Nach vorne schauen

Es gibt aber auch Positives zu berichten. Immer mehr Rom*nja ergreifen die Möglichkeit eines akademischen Werdegangs. Ein interessantes Beispiel ist hierbei Elli Jonuz, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland emigrierten. Als Erzieherin schaffte sie es, über den zweiten Bildungsweg zu promovieren. In Hamburg ist sie Professorin. In ihrer Dissertation hat sie belegt, dass der soziale Aufstieg der als »Gastarbeiter*innen« eingewanderten Rom*nja erst unter Geheimhaltung der eigenen Herkunft möglich war. Sozialer Aufstieg muss in Deutschland auch für Minderheiten möglich werden, ohne dass das Verstecken der eigenen Identität notwendig ist. Uns muss klar sein, dass Aus- und Zuwanderung – oder genauer gesagt die europäische Binnenmigration – ein Normalzustand ist, weil Menschen schlichtweg auf der Suche nach besseren Lebens- oder Arbeitsbedingungen sind. Hierbei dürfen wir ihnen aufgrund ihrer Herkunft oder Identität keine Steine in den Weg legen, denn europäische Rechte gelten für alle Europäer*innen gleich.

Leider ist die Diskriminierung vor allem ausländischer Rom*nja trotz Aktionsplan auch in Berlin nicht zurückgegangen. Eine Analyse des Senates zeigte auf, dass Rom*nja bei der Job- und Wohnungssuche nach wie vor kaum eine Chance besitzen, weil sie von vornherein als Problemfälle behandelt werden.

Außerdem fehlt zum Beispiel Personal für juristische Auseinandersetzungen mit Behörden, bei denen sich Rom*nja oft diskriminiert fühlen. Auch die Kommunikation mit Ämtern sei oft schwierig, weil Formulare beispielsweise nur auf Deutsch vorhanden sind oder in den Behörden Übersetzer*innen für Rumänisch und Bulgarisch fehlten. Diese fehlen als kulturelle oder Sprachmittler*innen bekanntlich auch an den Berliner Schulen. Die Organisation Amaro Foro fordert, dass nachgewiesene Diskriminierung von Rom*nja durch Berliner Behörden endlich sanktioniert wird – was derzeit nicht der Fall ist. Eine eigene Diskriminierungsstelle für Sinti*zze und Rom*nja wäre wünschenswert, denn sie scheint leider notwendig zu sein.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „In Vielfalt vereint - Sichtweisen von Rom*nja und Sinti*zze“  [zur gesamten Ausgabe]