bbz 12 / 2016
Warum eine kurdische Gewerkschafterin in Essen auf Asyl hofft
Sakine Esen Yilmaz war bis vor kurzem Generalsekretärin der türkischen Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen. Aus Erdoğans Türkei geflohen, lebt sie seit Oktober in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Essen
Es wird diesen Moment geben, an einem nicht sehr fröhlichen Tag mit einer sehr zierlichen Frau in einer nicht sehr fröhlichen Lage, in dem Sakine Esen Yilmaz dann doch lächeln muss. Dann nämlich, als wir mit ihr auf eine vielleicht drei Meter breite Fußgängerbrücke über die Ruhr treten – und ihr erklären, das sei nun der Bosporus von Essen. Wenig später bleibt ihr, nach dem Üben einiger deutscher Wörter (»Brücke«, »Fluss«) doch wieder das Lachen im Hals stecken. Nicht zum ersten, und auch nicht zum letzten Mal an diesem Tag.
Sakine Esen Yilmaz ist nicht freiwillig in Essen. Bis zum Frühsommer war sie Generalsekretärin der Lehrergewerkschaft Eğitim Sen, einer der wenigen demokratisch verfassten Gewerkschaften in der Türkei. »Ich habe mir nie vorstellen können, die Türkei zu verlassen«, erzählt sie, an ihrem 30. Tag im Ruhrgebiet, »nicht als meine Heimat, und nicht als das Land, in dem ich politisch arbeite.«
Mehr als zehn Jahre hat die 39-jährige Kurdin SchülerInnen unterrichtet; zunächst in Adıyaman im Südosten, später in Izmir an der Westküste. Während der gesamten Zeit engagierte sie sich in der Bildungsgewerkschaft, mit der die GEW seit Jahren eng kooperiert. Mit nur 37 Jahren wurde Yilmaz, die sich zuvor als Frauensekretärin vor allem für mehr Bildung für Mädchen eingesetzt hatte, zur Generalsekretärin gewählt. Wie entschlossen sie ihre Positionen vertritt, ist im Internet, etwa auf CNN Turk, festgehalten: Ob gegen Kinderarbeit oder für das Recht auf Bildung für syrische Flüchtlinge, gegen die Islamisierung des Schulsystems oder für das Recht auf muttersprachlichen Unterricht: Mit fester Stimme, überzeugend im Auftreten, vertrat die kleine, resolute Frau die Interessen ihrer KollegInnen.
Es drohen 22 Jahre Haft
Unter Druck stand sie deswegen – wie viele GewerkschafterInnen – immer. Bereits 2009 kam sie nach einer Durchsuchung zahlreicher Gewerkschaftsbüros zusammen mit 35 KollegInnen ins Gefängnis, nachdem sie das Recht auf muttersprachlichen Unterricht für die kurdische Bevölkerung gefordert hatten. Ein halbes Jahr wartete die damals 32-Jährige dort auf den Prozessbeginn. »Wir waren zu zwölft in einer Zelle für sechs Personen«, erinnert sie sich, »wir mussten reihum auf dem Boden schlafen und wurden psychisch gefoltert.« Am Ende wurde sie entlassen, ohne dass die Anklage fallengelassen wurde.
Drei Jahre später kam sie mit 72 Gewerkschaftsmitgliedern in Haft, dieses Mal für zehn Monate und unter dem Vorwurf der Unterstützung terroristischer Organisationen. Als sie freikam, saßen 30 GewerkschafterInnen aus neun Staaten der Europäischen Union in Ankara im Gerichtssaal – unter ihnen der damalige GEW-Vorsitzende Ulrich Thöne und der GEW-Referent für Internationales, Manfred Brinkmann.
Es war nicht das einzige Mal, dass führende GEW-lerInnen sich auf die Gerichtsbänke setzten. Brinkmann: »Wenn aus dem Einsatz für Unterricht in der Muttersprache Anklagen wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung konstruiert werden, können wir nicht untätig zusehen.« Auch zeitigte die Anwesenheit internatio-naler BeobachterInnen bisher mitunter Wirkung: »Freisprüche gab es zwar selten«, erklärt Brinkmann, »aber immerhin kamen inhaftierte Gewerkschafter manchmal auf freien Fuß, wenn wir dort waren.« Konkret bedeutet das, dass die Angeklagten das Gefängnis unter der Auflage verlassen dürfen, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Auch das Land verlassen dürfen sie nicht, solange der Prozess nicht offiziell abgeschlossen ist. Keine leichte Situation – und dennoch, sagt Sakine Esen Yilmaz, habe sie bis zum Schluss gehofft, dass bessere Zeiten kommen. Sie kamen nicht.
Im April erfuhr Yilmaz, dass eines der Urteile gegen sie nun rechtskräftig ist; drei Jahre und vier Monate hätte sie in Haft gemusst. Das war zu der Zeit, als im ganzen Land Hunderte UnterzeichnerInnen der Petition »Akademiker für den Frieden« angeklagt wurden, weil sie sich für ein Ende des Militäreinsatzes gegen die kurdische Bevölkerung im Südosten der Türkei einsetzten.
»Was wir nach dem Putschversuch erleben, ist nur eine weitere Eskalationsstufe einer regelrechten Jagd auf kritische Köpfe«, sagt Yilmaz, »ich konnte nahezu sicher sein, dass ich für Jahre nicht mehr freikomme«. Insgesamt, zählt sie die gesammelten Anklagen zusammen, hätten ihr 22 Jahre Haft gedroht. Die Generalsekretärin einer Gewerkschaft mit mehr als 120.000 Mitgliedern tauchte erst unter, dann floh sie.
Seit Mitte Oktober lebt sie in einem Zwei-bettzimmer der Erstaufnahmeeinrichtung in Essen-Fischlaken – fernab städtischer Infrastruktur, auf dem Gelände eines ehemaligen Milchproduktionsbetriebs, auf dem rund 800 Asylsuchende in sogenannten »Modulen« leben und das ohne Voranmeldung nicht betreten werden darf.
In Deutschland empfangen wurde sie von Süleyman Ateş, Lehrer in Köln und Mitglied des Bundesausschusses für multi-kulturelle Angelegenheiten in der GEW (BAMA). Ateş stammt selbst aus der Türkei und musste das Land nach einem Militärputsch im Jahre 1971 verlassen. Nach einigen Jahren, in denen er sich nicht traute, seine Heimat zu betreten, ist er heute – als GEW-Aktiver wie privat – wieder regelmäßiger Gast. Nach dem Putschversuch war auch er aber nicht dort. »Und ich bin nicht sicher, dass es nicht auch für mich gefährlich werden könnte.«
Säuberungen der türkischen Regierung
Sakine Esen Yilmaz kann nahezu täglich neue Horrormeldungen berichten. Via WhatsApp, Facebook & Co. ist sie in Kontakt mit denen, die geblieben sind – und erfährt nur Schlimmes: Von bis zu 70.000 Lehrkräften, die seit dem Putschversuch suspendiert wurden, darunter mehr als 11.000 Eğitim-Sen-AktivistInnen; von Fragebögen, die ausfüllen muss, wer eine der frei gewordenen Stellen besetzen will: »Welche Zeitungen und Kolumnisten lesen Sie?«, heißt es da, und: »Wie bewerten Sie die Gezi-Proteste im Jahr 2013?« Mindestens letztere ist dabei eine Frage, die mit der Nähe zur Gülen-Bewegung oder zur kurdischen PKK gar nichts zu tun hat, um die es der türkischen Regierung vorgeblich bei ihren Säuberungen geht.
Die 39-Jährige erfährt von Heldenverehrungsliedern, die im Unterricht auf den türkischen Präsidenten gesungen werden müssen, von umgeschriebenen Curricula. Und von Angst im Lehrerzimmer: »Die Kollegen stehen unter ungeheurem Druck«, erzählt sie, »die Einschüchterungen werden immer schlimmer. Viele berichten mir, dass sich die Lehrer nicht einmal mehr trauen, pädagogische Themen anzusprechen.« Wohin es führen kann, wenn man sich äußert, haben ReporterInnen der ARD-Tagesschau eindrücklich festgehalten: Als sie zum Schuljahresbeginn einen Lehrer im südosttürkischen Diyarbakir fragten, wie es so ist, mit den wenigen verbliebenen KollegInnen all die Kinder zu unterrichten, wurde der bei laufender Kamera von Zivilpolizisten abgeführt.
Bisher ist Sakine Esen Yilmaz die einzige türkische Gewerkschafterin, von der bekannt ist, dass sie in Deutschland Asyl sucht. Ihre erste Anhörung verlief gut; und sie hofft natürlich, dass sie nach sieben Jahren mit Ausreiseverbot und zwei Gefängnisaufenthalten glaubwürdig auf politische Verfolgung plädiert. Deswegen lernt sie zurzeit fleißig Deutsch, und schaut sich nach einer Bleibe in Köln um. Und sie hält Vorträge vor GewerkschafterInnen, die simultan übersetzt werden: Anfang Dezember spricht sie auch auf der Landesdelegiertenversammlung der GEW BERLIN. Und eines Tages kann sie vielleicht sogar in Deutschland als Lehrerin arbeiten – einen ersten Schritt dorthin bietet seit April 2016 etwa die Uni Potsdam mit einem Programm für geflüchtete Lehrkräfte an.
Bis dahin ist es allerdings ein weiter Weg. Wie weit, das wird spätestens deutlich, als wir Sakine Esen Yilmaz nach einem Mittagessen und dem Spaziergang an der Ruhr wieder dort absetzt, wo sie zurzeit zuhause ist: an einer Pforte, an der sie sich ausweisen muss und vor der ihre Gäste sie verabschieden müssen. Und hinter der sie mit genau jenen Menschen zusammenlebt, die in der Türkei im Fokus ihrer Arbeit standen: Syrische Flüchtlinge, deren Kinder das gleiche Recht auf Bildung haben sollten wie türkische. Heute sind sie Mitbewohner von Sakine Esen Yilmaz: »Und ich«, sagt sie, »bin eine von ihnen. Ich bin ein Flüchtling.«
Über den Heinrich-Rodenstein-Fonds finanziert die GEW die anwaltschaftliche Unterstützung des Asylantrags von Sakine Esen Yilmaz. Die GEW rechnet mit weiteren GewerkschafterInnen aus der Türkei, die nach Deutschland flüchten werden und ruft zu Spenden auf: Spendenkonto Heinrich-Rodenstein-Fonds, Landesbank Hessen-Thüringen Girozentrale, IBAN: DE88 5005 0000 0084 0001 24, BIC: HELADEFF, Stichwort: Hilfe für verfolgte GewerkschafterInnen
Wir danken dem Magazin Mitbestimmung für die Genehmigung des Zweitabdrucks.