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Schwerpunkt "Zusammen den ganzenTag"

Warum Schulsozialarbeit im Ganztag nicht wegzudenken ist

Seit über 28 Jahren arbeitet Erik Nowarra als Schulsozialarbeiter an verschiedenen Berliner Sekundarschulen. Im Interview erklärt er die Rolle der Schulsozialarbeit in Ganztagsschulen und weshalb das heute immer noch sein Traumberuf ist.

Foto: privat

bbz: Seit wann gibt es die Schulsozialarbeit im Ganztag überhaupt und wie viele sozialpädagogische Fachkräfte gibt es pro Sekundarschule?
Nowarra: Seit Anfang der 1970er Jahre gibt es fast bundesweit an Gesamtschulen den Ganztag. Im öffentlichen Dienst kann es laut den jährlichen „Zumessungsrichtlinien für weiteres pädagogisches Personal“ bis zu fünfeinhalb sozialpädagogische Fachkräfte in Vollzeit für eine sechszügige Sekundarstufe geben. Von diesen Fachkräften sind dann je nach Ganztagsbetrieb ein Drittel bis die Hälfte Sozialpädagog*innen und die weiteren Stellen entfallen auf Erzieher*innen. In der Gewerkschaft und den Personalräten wird dieses Personal leider meist ignoriert.

Wie hat sich der Begriff „Schulsozialarbeit“ im Ganztag durch die Berliner Bildungsreform vor zwölf Jahren geändert?
Nowarra: Seit der Bildungsreform reduzierte die Senatsverwaltung den Begriff auf die Beratungstätigkeit, spaltete die Freizeitpädagogik als sogenannten „Ganztag“ ab und trennte diese Bereiche finanziell und meist auch in verschiedene freie Träger. Zugleich wurden überwiegend nur noch Dreiviertel-Stellen geschaffen. Vorher erlebten die Schüler*innen die Fachkräfte auch vorab in offenen Freizeitangeboten und bei Präventionsangeboten und nicht erstmalig bei Problemen in der Beratung. Durch das „Aufsplitten“ wurden diese vielfältigen Beziehungsmöglichkeiten reduziert und der flexible Arbeitsalltag erschwert.

Was sind deine inhaltlichen Schwerpunkte und Aufgaben?
Nowarra: Schulsozialarbeit im Ganztag ist kontinuierliche Beziehungsarbeit. Uns fallen Aufgaben zu, wie die jahrgangsweise Begleitung der Schüler*innen von der siebten Klasse bis zum Schulabschluss vier Jahre später. Dazu zählt natürlich die Beratung für Schüler*innen, Eltern und Kolleg*innen. Aber auch die Mitarbeit im Krisenteam oder bei Kriseninterventionen ist eine unserer Aufgaben. Wir helfen bei der Klassenstunden-Gestaltung in Zusammenarbeit mit den Klassenleitungen beispielsweise bei der Durchführung des Klassenrates oder bei Angeboten des Sozialen Lernens. Wir bieten Freizeitaktivitäten, zum Beispiel im offenen Freizeitbereich für den Morgenbetrieb, während Freistunden, im Mittagsband und dem Nachmittagsbereich. Wir bieten jahrgangsübergreifende Arbeitsgemeinschaften an, helfen bei der Ausbildung und Unterstützung von Streitschlichter*innen, Schulsanitäter*innen und der Schülervertretung. Zudem unterstützen wir auch bei der Kooperation und Vernetzung mit außerschulischen Institutionen und Organisationen.

Wie funktioniert die jahrgangsweise Begleitung?
Nowarra: Ich „wachse“ mit den Schüler*innen von der siebten bis zur zehnten Klasse mit, so dass sich über die vier Jahre kontinuierliche Beziehungen mit den Schüler*innen, deren Eltern und im Jahrgangsteam entwickeln. Mein Beratungsraum und das Jahrgangsteamzimmer liegen mittig im Jahrgangsflur. Sie sind miteinander über eine Tür verbunden. Meine Türen stehen, außer bei Beratungen, meistens offen. So bekomme ich auch das Flur- und Jahrgangsteamleben gut mit, wenn ich beispielsweise am PC beschäftigt bin. Dadurch bin ich präsent und gut erreichbar.

Wie kann man sich die Tagesstruktur vorstellen?
Nowarra: Täglich anders, immer wieder spontane Änderungen, Herausforderungen, neue Facetten und es wird nie langweilig. Morgens begrüße ich „meine“ Schüler*innen ganz persönlich am Eingang des Jahrgangsflures mit einem fröhlichen „Moin“. Ich achte auf deren „Stimmungsbarometer“, beantworte Fragen und beginne Helfer für (fast) alle Dinge zu sein. Während des ersten Unterrichtsblocks kümmere ich mich um etwaige Schüler*innen, die ohne eine Abwesenheitsmeldung nicht angekommen sind. Vor und nach den 90-minütigen Unterrichtsblöcken leere ich meinen Briefkasten, trage etwaige Entschuldigungen in die Datenbank ein und lege sie den Klassenleitungen ins Fach und unterstütze den Trainingsraum.

Was ist der Trainingsraum?
Nowarra: Um schon ab der 7. Klasse einen möglichst störungsfreien Unterricht zu erreichen, soll mit einer Win-win-Situation ein ruhiges Unterrichten und ein Reflektieren der herausfordernden Schüler*innen außerhalb der Unterrichtssituation erreicht werden. Die Jugendlichen verlassen spätestens nach der dritten Störung die Klasse und reflektieren ihr Verhalten im „Trainingsraum“. Der Trainingsraum sollte die Schüler*innen unterstützen und nicht als „Bestrafung“ angesehen werden.

Von der Senatorin wünsche ich mir, dass sie zu ihrem Wort steht und sinnvolle Konzepte im Ganztag von ihr unterstützt und nicht „abgewickelt“ werden.

Wie geht dein Tag weiter?
Nowarra: Zum Beispiel mit Klassenstunden. Das sind für mich wichtige Stunden, an denen ich gerne gemeinsam gestaltend teilnehme, um die Gruppendynamik und Demokratieerziehung beim Klassenrat zu fördern, mit Übungen zum "Sozialen Lernen“ und mit Präventionsveranstaltungen zu unterstützen und Aktivitäten mit zu organisieren. Hofpausen werden hauptsächlich für Terminvereinbarungen und Gespräche genutzt. Hilfreich sind auch versetzte Mittagspausen in der Länge einer Schulstunde, um den Schüler*innen wirklich eine „Esskultur“ zu ermöglichen und auch genügend Zeit für ein Beratungsgespräch zu haben. In der unterrichtsfreien Zeit bieten wir Arbeitsgemeinschaften und Projekte.

Wann bildet ihr multi-professionelle Teams oder helft bei Teamentwicklung?
Nowarra: Teamarbeit und -entwicklung ist ein Schwerpunkt in der Klasse. Dann gibt es noch das multiprofessionelle Klassenleitungsteam, das aus zwei Klassenleitungen und der sozialpädagogischen Fachkraft besteht sowie das Jahrgangsteam, welches durch die Klassenleitungsteams gebildet wird. Das setzt auch regelmäßige Teamtreffen voraus, in denen Schüler*innen und ihre Schwierigkeiten besprochen, Arbeit aufgeteilt und Klassenstunden vor- und nachbereitet werden können.

Und wenn es doch mal zu Konflikten kommt?
Nowarra: Ich fühle mich als Mitglied des Kollegiums und des gemeinsamen Personalrats auch gut geschützt, um bei Konflikten oder Partizipationsbestrebungen offensiv und neutral vermitteln zu können, ohne die Befürchtung haben zu müssen, als „anstrengender“ Gesprächspartner trotz meiner Kompetenzen umgesetzt zu werden.

Welche Ziele hast du persönlich in deiner Arbeit?
Nowarra: Ich arbeite für eine gewaltfreie, wertschätzende, individuell unterstützende Schulkultur, die durch multiprofessionelle Teams, „echte“ Partizipation und ein ausgewogenes Ganztagskonzept mit leistungsorientierten und erholsamen Phasen, rhythmisiert und einer ausgewogenen Essensmöglichkeit einem lebens- und liebenswerten Lernort darstellt. Nach fast 30 Jahren Schulsozialarbeit im Ganztag an acht Schulen und in vier unterschiedlichen Bezirken sehe ich dringende Handlungsbedarfe auf so gut wie allen Ebenen, aber das würde jetzt den Rahmen „sprengen“. Gleiches gilt für eine „echte“ Partizipation, die auch personelle und materielle Ressourcen benötigt. Dazu gerne auch in einem anderen Artikel mehr.

Über mehr Artikel aus der Schulsozialarbeit würden wir uns freuen. Zum Schluss: Ein Wunsch an die Senatorin?
Nowarra: Von der Senatorin wünsche ich mir, dass sie zu ihrem Wort steht und sinnvolle Konzepte im Ganztag von ihr unterstützt und nicht „abgewickelt“ werden.
Einen Wunsch habe ich noch an die Leser*innen: Wir möchten uns gerne weiter vernetzen zu diesem Thema. Meldet euch bitte bei: FG.Sozpaed-fk-schule(at)gew-berlin(dot)de. Persönliche Kommentare könnt ihr mir auch gerne schicken: erik.nowarra(at)gew-berlin(dot)de.

Lesetipps zum Thema

Empfehlungen von Erik Nowarra für gewerkschaftliche Hintergrundinformationen:bbz-Artikel „Zehn Reformjahre und nur struktureller Abbau“ der Fachgruppe Sozialpädagogische Fachkräfte an Schulen (ehem. FG Schulsozialarbeit) vom März/April 2021

https://www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/zehn-reformjahre-und-nur-struktureller-abbau

LDV-Beschluss vom 10.11.2021 https://www.gew-berlin.de/aktuelles-beschluesse/detailseite-beschluesse/schulsozialarbeit-und-ganztag-an-weiterfuehrenden-schulen-wird-2022-ein-gew-schwerpunkt

Kurzfilmtipp zum Thema: Traumberuf Schulsozialarbeit – Ein Film der GEW (vom 22.10.2010, 15 min, https://www.youtube.com/watch?v=oG59Q1IWoKs)

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46