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Schule

Weibliche Sexualität sichtbar machen

Das Wissen in unserer Gesellschaft über die Vulva ist auch im 21. Jahrhundert erschreckend gering. Kein Wunder, wenn es selbst in Schulbüchern missverständlich, unvollständig und teilweise sogar faktisch falsch dargestellt wird.

Foto: Adobe Stock

Wenn ich meine Schüler*innen im Rahmen der Sexuellen Bildung ein binär männliches Geschlechtsorgan zeichnen lasse, ist das kein Problem: Hoden im Hodensack, mal erigierter, mal erschlaffter Penisschaft, Behaarung, Eichel. Das Gelächter ist oft groß, das Angebot an diversen Zeichnungen ebenfalls. Bitte ich sie im Anschluss, ein binär weibliches Geschlechtsorgan zu zeichnen, habe ich oft erst einmal ein paar Sekunden Ruhe im Biologieraum, gefolgt von einem »Hä?« oder einem überfordert klingenden »Oh«. Meine Schüler*innen fragen mich, geschlechtsunabhängig, ob sie Beine dazu zeichnen könnten, weil »es ja sonst nicht zu zeichnen geht«. Andere malen ein Loch und legen danach den Stift zur Seite. Fertig. Einige kapitulieren von Anfang an: »Ich kann das nicht.«.

In der patriarchalen Gesellschaft, in der wir leben, wird genitale Männlichkeit durch Sichtbarkeit des äußeren Genitals und dessen Größe symbolisiert, wohingegen Weiblichkeit durch Verborgenheit, Kleinheit oder Abwesenheit dargestellt wird.

Wir finden gekritzelte Penisse an Toilettenwänden oder auf Schultischen. Das »Penis-Spiel«, bei dem eine Person das Wort »Penis« immer lauter rufen muss als die vorherige, wird über Generationen hinweg gespielt. Doch wir finden diese Unterschiede nicht nur im Schulalltag, sondern leider auch im Schulbuch wieder.

In meiner Masterarbeit (2019) habe ich die Darstellung des weiblichen Genitalbereiches in Biologieschulbüchern untersucht. Mein Fazit: Die Repräsentation der Vulva, dem Teil des weiblichen Geschlechts, der von außen sichtbar ist, ist missverständlich, unvollständig und teilweise sogar faktisch falsch. Daher formulierte ich 2020 gemeinsam mit meiner betreuenden Professorin Frau Doktor Upmeier zu Belzen im Namen der Biologiefachdidaktik der Humboldt-Universität ein Anschreiben an die großen drei Verlage Klett, Westermann und Cornelsen mit der Forderung, ihre Auflagen dringend zu überarbeiten. Wir wiesen insbesondere auf drei Punkte hin.

Kein Grund, sich zu schämen

Sprache bildet die Wirklichkeit nicht nur ab, sondern konstruiert Realitäten. Begrifflichkeiten wie »große und kleine Schamlippen« sind dabei in zweierlei Weise irreführend. Zum einen sollen Genitalien niemals schambesetzt sein. Zum anderen zeigen Studien, dass entgegen dem Intimideal der »Designer-Vulva« bei den meisten Vulven die inneren Lippen über die äußeren hinausragen. Welche sollten dann also die »kleinen«, welche die »großen« Vulvalippen sein? Wie Ohren, Augen oder Hände sehen auch die Vulvalippen von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus. Um negativen Genital- und Selbstbildern vorzubeugen, sollten Vulvalippen daher sprachsensibel und vielfältig repräsentiert werden.

Auch der Begriff »Jungfernhäutchen« ist irreführend. Befragt man Jugendliche dazu, so ist es für 42 Prozent etwas, das reißt. Zwei Drittel nennen es als Symbol für Jungfräulichkeit. Der Mythos von einer Haut, die vor allem bei vaginalem Sex reizt, blutet und schmerzt, hält sich in unserer Gesellschaft hartnäckig und kann so vor allem in religiösen Verhältnissen zu Unsicherheiten und Ängsten führen. Dabei gibt es diese Haut in der Vagina nicht, sondern lediglich eine dehnbare vaginale Korona, einen Schleimhautring, der die Vagina zwar etwas verengt, aber nicht verschließt. Dieser kann, wie jede andere Haut auch, Risse aufweisen. Dies ist aber sehr individuell: Es gibt Kleinkinder mit Einkerbungen in der vaginalen Korona, genauso wie Frauen nach einer Geburt, die keinerlei Einrisse haben. Um der falschen gesellschaftlichen Vorstellung entgegenzuwirken, sollte die vaginale Korona daher sprachsensibel und mit dem nötigen Hintergrundwissen in Biologiebüchern dargestellt werden, sodass Frauen selbstbestimmt und sicher sexuelle Entscheidungen treffen können.

Von wegen Perle

Ein weiterer wesentlicher Punkt meiner Arbeit betrifft die Klitoris. In den von mir untersuchten Schulbüchern wurde sie als uneindeutig schraffierter Bereich, als verkümmerter Halbmond oder perlengroß dargestellt. Von wegen Perle. Die Klitoris ist ein Organkomplex. Nur die Klitoriseichel, die homolog zur Peniseichel ist, ist von außen sichtbar. Der Klitorisschaft erstreckt sich innerhalb des Körpers nach innen, wobei die beiden Klitorisschenkel und -schwellkörper links und rechts von innen die Vagina sozusagen »umarmen«. Ihr Aufbau ist zwar komplex, doch ihre Funktion ist dafür umso eindeutiger: sexuelle Erregung und Lust.

Untersuchungen zeigen, dass jede zweite Schülerin nicht weiß, dass sie eine Klitoris hat, über 80 Prozent können ihre Funktion nicht benennen. Dabei ist das Kennen des eigenen Körpers für die sexuelle Entwicklung von Mädchen und jungen Frauen von großer Bedeutung. Das Realisieren eigener Bedürfnisse und das Wissen darum, wie diese erfüllt werden können, sind wichtig für ein erfülltes und befriedigendes Sexualleben. Es kann zur Erhöhung des Selbstwertgefühls führen und somit als Teil einer befriedigenden Sexualität zur Aufrechterhaltung der sexuellen Gesundheit sowie aufgeklärten, glücklicheren Beziehungen, geschlechtsunabhängig, beitragen. So fragten mich beispielsweise Schüler, wie man eine Frau denn lustvoll befriedigen könne, wenn die Klitoris eine so große Rolle spiele. Eine wichtige Frage. Denn mit den mangelhaften Repräsentationen haben die Schulbücher die Wissensdefizite nicht nur verstärkt, sondern auch Normvorstellungen verfestigt: So ist beispielsweise ein in unserer Gesellschaft weit verbreiteter Mythos, dass eine »normale« Frau bei jedem Geschlechtsverkehr einen Orgasmus erlebt. Dabei zeigen Studien, dass nur vier Prozent der Frauen einen Orgasmus ausschließlich durch vaginale Penetration haben. Ein Großteil der Frauen favorisiert die zusätzliche Stimulation der Klitoris. Wie soll Schüler*innen also eine lustvolle Sexualität vermittelt werden, wenn sie nicht einmal wissen (können), wo sich das dafür größtenteils verantwortliche Organ befindet? Zudem misst man einem Organ, welches angeblich perlengroß ist, doch eine ganz andere Bedeutung zu, als einem komplexen Gebilde, welches bei vielen Frauen mit circa 11 cm größer ist als der durchschnittliche Penis mit 10 cm.

Dabei geht es um mehr als nur eine Schulbuchseite: Die korrekte, sprachsensible und vielfältige Abbildung der Vulva bedeutet auch sexuelle Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Die Schulbuchseiten zur Sexuelle Bildung bieten immer auch einen Gesprächsanlass für Jugendliche – geschlechtsunabhängig. Fachlich richtige Abbildungen können so eine lustvolle Sexualität für Jugendliche erleichtern.

Ein Schritt in die richtige Richtung

Die Schulbuchverlage sind unterschiedlich stark auf die Forderungen eingegangen. Erster Teilerfolg: die Abbildung der Klitoris wurde bei allen Verlagen verbessert. Allerdings nutzen nur einige wenige Neuausgaben das Wort »Vulvalippe« anstatt des negativ konnotierten Begriffs »Schamlippe«. Die Repräsentation des »Jungfernhäutchens« wurde zum Teil gar nicht, teilweise nur im Text überarbeitet.

Im eher trägen Bildungssystem wird es somit wohl noch eine ganze Weile dauern, bis wir auf adäquate Repräsentationen der Vulva in Biologiebüchern zurückgreifen können.

Zum Abschluss daher noch einige Praxistipps: Stefanie Grübl stellt unter dem Label »Vielma« vielfältige Materialien für die Sexuelle Bildung her, darunter auch Vulven mit integriertem Klitorismodell in diversen Hautfarben. Auch bei Paomi findet man unterschiedliche Körpermodelle, die Gesprächsanlass bieten können. Zudem kann auf die tolle Arbeit vieler schulexterner Sexualpädagog*innen zurückgegriffen werden. Ich lasse meine Schüler-*innen die Abbildungen der Lehrbücher oft mit den gezeichneten Vulven vom Instagramaccount »the.vulva.gallery« vergleichen und darüber reflektieren, welche Darstellungen sie geeigneter finden. Zudem können die Accounts der Sexualpädagogin Gianna Bacio und der gemeinnützigen Organisation Pinkstinks hilfreich sein.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46