Schule
»Weinen kann ich erst, wenn ich von der Schule nach Hause komme«
Noura*, Rabia* und Issa* Nadir bangen um ihre Familie mitten im Gazakrieg. In der Schule bleibt kaum Raum für Schmerz, Wut und Angst.
Als Noura (16) am 9. Oktober 2023 die Schule betritt, ist nichts mehr wie vorher. Schon vor Wochen hat sie beschlossen, die Kuffiya zu tragen. Vor allem auf dem Weg zur Schule, wenn es noch kalt ist. Nach dem 7. Oktober will sie den Schal weiterhin tragen – so wie ihre Familie in Palästina. Aber als sie an einem Morgen im Winter 2023 in den Klassenraum kommt, ruft einer ihrer Mitschüler: »Aufpassen, sie hat ‘nen Rucksack dabei! Gleich schmeißt sie den durch den Raum und rennt weg!« Stille. Eine Schülerin beginnt, zu lachen. Dann bricht plötzlich im ganzen Raum lautes Lachen aus. Selbst Noura lacht – aus Nervosität. Innerlich steht sie kurz vor einem Zusammenbruch.
Noura (16), Rabia (12) und Issa (8) sind Geschwister – in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihr Opa kommt aus Gaza und wuchs dort in einer Stadt auf, die es heute so nicht mehr gibt. Immer wieder musste er fliehen, bevor er nach Deutschland kam. Heute träumen seine Enkelkinder davon, eines Tages Urlaub in Palästina machen zu können. So wie viele ihrer Freund*innen in Berlin ihre Familie in den Ferien besuchen, in der Türkei zum Beispiel. Aber ihre Verwandten in Gaza haben nichts mehr – in diesem Krieg haben sie alles verloren. Jeden Tag geht für sie aufs Neue der Kampf ums Überleben los. Übers Telefon versuchen Noura, Rabia und Issa, Kontakt zu halten.
Rassismus am eigenen Leib
Für Noura bedeutet die Kuffiya daher eine Verbindung zu dem Palästina, das sie erst einmal in ihrem Leben besuchen durfte. Der Schal erinnert sie daran, dass ihre Familie immer wieder vertrieben wurde. An den Kampf um Gerechtigkeit. Aber: Noura bekommt zunehmend Angst, ihren Schal zu tragen. Denn während einige ihrer Lehrer*innen Abbildungen von Israelflaggen auf persönlichen Gegenständen zeigen, wird die Kuffiya als Gefahr für den Schulfrieden dargestellt.
An ihrer Schule sind zwar viele Lehrer*innen gegen ein mögliches Verbot. Aber immer wieder schauen Lehrer*innen sie an, wenn es um das Thema »Schulfrieden« geht. Als sei sie eine Bedrohung. Immer wieder muss Noura außerdem böse Witze ertragen – die Witze, die viele Palästinenser*innen kennen. Bombe, Islamist, Koffer. Ha, ha.
Nouras Verwandte in Gaza sind Christ*innen. Aber mit Religion haben diese Witze ohnehin nichts zu tun: »Wenn meine Mitschüler*innen sagen, dass alle Palästinenser Terroristen seien, trifft das wie ein Schlag ins Gesicht, weil ich weiß, dass viele wirklich so denken. Und auch genau so handeln, als wäre es so«, sagt sie im Gespräch. Auch deshalb werde die palästinensische Flagge an Schulen verboten, andere Flaggen aber nicht. Sie trägt bis heute Kuffiya – gegen alle Widerstände, aus Solidarität mit den Millionen von Menschen, die gerade genau wie ihre Familie leiden. Oft verstecken Palästinenser*innen in Deutschland ihre Identität; haben Angst vor diesen Vorurteilen. Aber Noura will mit der Kuffiya zeigen: Wir sind Palästinenser*innen und wir sind nicht alleine.
Viele wissen zu wenig
Immer wieder stehen Noura und ihre Geschwister im Gespräch den Tränen nah. Bei dem Großangriff auf die orthodoxe Kirche in Gaza im Oktober 2023 haben auch sie Angehörige verloren. Einige Verwandte – die wenigsten – haben es geschafft, zu fliehen. Aber das ist gefährlich, kostet viel Geld und bedeutet, dass sie wie Nouras, Rabias und Issas Opa nie wieder nach Gaza zurückkehren werden. Darüber wird in ihrer Familie viel gesprochen.
In der Schule sieht das wiederum anders aus: Von den traumatischen Angriffen auf die Kirche oder dem Mehlmassaker haben selbst viele ihrer Lehrer*innen nichts mitbekommen – wie sollen sie dann in der Schule darüber sprechen? Die Geschwister finden in ihren Schulen keinen Platz für ihre Emotionen. Issa (8) leidet vor allem darunter, dass seine Schulfreund*innen und seine Lehrer*innen kaum etwas über Palästina und Israel wissen. »Die Lehrer*innen haben nicht gefragt. Ich glaube, die trauen sich nicht. Und meine Freunde verstehen die Situation halt nicht. Also, weinen kann ich erst, wenn ich von der Schule nach Hause komme«, sagt er mit gesenktem Blick.
Noura merkt deshalb in den letzten Wochen auch, dass ihre Konzentration leidet. Sie besucht die 10. Klasse und steht kurz vor ihren Abschlussprüfungen. Seit dem Krieg kann sie sich nicht mehr vorstellen, nach diesem Jahr weiter in die Schule zu gehen. Zu schmerzhaft ist der Alltag dort. Seit einigen Monaten schreibt sie schlechtere Noten und hat keine Kraft, sich am Unterricht zu beteiligen. »Deutschland ist eines der Länder, das die Waffen für die Invasion in Rafah liefert. Mit denen meine Familie bombardiert wird. Und tut so, als sei das selbstverständliche Solidarität. Das macht mich so wütend und traurig.«
Auch Kinder erleben den politischen Wandel in Deutschland
Dass die Debatte von Betroffenen als so einseitig wahrgenommen wird, liegt auch an den politischen Entwicklungen in Deutschland. 2015, als Issa geboren wurde, war die AfD gerade mal zwei Jahre alt. Damals musste sie kämpfen, um überhaupt ins Parlament zu kommen. Mittlerweile erzielt die Partei Rekordwerte bei den Wähler*innen. Laut den Wahlprognosen könnte sie bei den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen womöglich über 30 Prozent erreichen. Vor dieser Zukunft haben nicht nur Noura, Rabia und Issa Angst. Diesen Rechtsruck fühlen viele Schüler*innen mit Migrationshintergrund.
Denn der Erfolg der AfD basiert auch darauf, dass sie die islamophobe und antiarabische Stimmung im Land provoziert und befeuert. Die Geschwister spüren das jeden Tag auf dem Weg zur Schule: Schlagzeilen wie »Antisemiten planen Hass-Gipfel in Berlin« oder »Deutsche Juden oder Aggro-Araber: Wen wollen wir halten?« lesen sie schon morgens in der U-Bahn. »Aber vieles verstehe ich gar nicht«, sagt Issa.
Seinen älteren Schwestern ist bewusst, dass Jüd*innen und Palästinenser*innen in Deutschland so gegeneinander ausgespielt werden. Und die Rhetorik habe reale Konsequenzen, erzählt Noura. Eine ihrer engsten Freundinnen habe ihr gesagt, mit Araber*innen wolle sie nichts zu tun haben. Die wären aggressiv und gefährlich. Sie, Noura, sei eben eine Ausnahme.
Immer wieder werden Noura, Rabia und Issa an ihren Schulen damit konfrontiert, wie sie zu den Gräueltaten der Hamas stünden. Dabei waren sie noch nie in Gaza – und sind Schulkinder. Wenn Palästinenser*innen in der Schule mit der Hamas in Verbindung gebracht werden, hat das gefährliche Konsequenzen für sie. Genau darin steckt ein tief verankerter Rassismus: Menschen nicht nur auf Grund ihrer Herkunft anders zu behandeln, sondern sogar zu kriminalisieren.
Lösungen fangen beim Zuhören an
Viele Lehrer*innen sind mit dem Thema Krieg verständlicherweise überfordert. Auch sie wünschen sich bessere Lösungen für einen Schulalltag ohne Rassismus. An Rabias Schule hat sich deshalb in den letzten Monaten viel verändert: Ihre Lehrer*innen suchen regelmäßig das Gespräch mit ihr. Einige fragen regelmäßig, wie es ihr geht. Überhaupt stellen sie einfühlsame, offenere Fragen. Denn Kinder wie Rabia, Noura und Issa bringen Wissen mit, das viele ihrer Mitschüler*innen gar nicht haben können – über die Situation vor Ort, über Grauzonen und Widersprüche. Sie können das Klassenzimmer bereichern.
In unserem Gespräch zeigt sich immer wieder, dass alle drei Geschwister eigentlich über ihre Geschichte sprechen wollen – und über ihre Familie in Palästina. Das Problem entsteht, wenn ihre Mitschüler*innen und Lehrer*innen nicht zuhören. Was sie sich wünschen, ist simpel: ernst genommen zu werden. Und Raum zu bekommen, um über ihre Trauer, ihre Schmerzen zu sprechen. Aber das bedeutet zusätzliche Arbeit für Lehrkräfte. Sie müssen sich darüber informieren, was im Nahen Osten passiert und bereit sein, von ihren Schüler*innen zu lernen. Das ist auch zeitlich eine Herausforderung für Lehrer*innen. Aber es ist auch ihre Aufgabe. Genauso, wie es ihre Aufgabe ist, gegenüber rassistischen Tendenzen in der Gesellschaft Haltung zu zeigen. Denn Antirassismus bedeutet eben, auch – und gerade dann – zuzuhören, wenn es besonders kompliziert ist und wehtut.
*Persönliche Daten wie Jahreszahlen und Namen der Protagonist*innen wurden für diesen Artikel verändert.