blz 10 / 2014
Wenn aus Kinderschützern überforderte Fließbandarbeiter werden
Ein kleiner Einblick in die Arbeit der Allgemeinen Sozialpädagogischen Dienste der Jugendämter
Ende 2013 hingen KollegInnen der Berliner Jugendämter und Notdienste weiße Tücher aus den Fenstern. Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass die hohe Arbeitsbelastung durch die steigenden Fallzahlen bei gleichzeitigen ständigen Einsparungen im sozialen Bereich dazu führen, dass der Kinderschutz nicht mehr hinreichend gewährleistet ist. Die Botschaft:
Wir kapitulieren vor der Arbeitsbelastung
Während die Berliner JugendstadträtInnen tagten, demonstrierten wir im Dezember 2013 vor der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft mit lautstarker Präsenz und mit Transparenten. Wir müssen endlich aufhören zu schweigen. Wir haben eine gesellschaftliche und moralische Pflicht, Missstände und Überlastungen anzuzeigen und öffentlich zu machen. Die Politik hat die gesellschaftliche und moralische Pflicht dies anzuerkennen und die Zustände verändern. So geht es nicht weiter! Wir alle müssen etwas tun! Es ist zu skandalös, als dass man mit der Haltung »Es ändert sich ja sowieso nichts!« resigniert die Hände in den Schoß legen kann. In den Medien sehen wir in trauriger Regelmäßigkeit das Ergebnis des kranken Systems: Ein Kind wird misshandelt oder kommt gar zu Tode.
Die Ursachen bleiben meist verborgen und werden nicht hinterfragt. In den Medien wird dann plakativ ein Fall vorgestellt, der darstellen soll, was im Familien-, Jugendhilfe- und Gesellschaftssystem falsch läuft. Da wir die Menschen schützen und öffentliche Entwürdigungen verhindern wollen, sollten wir andere Wege finden, die Missstände öffentlich zu machen! Wir müssen kreativ sein. Die weißen Fahnen waren ein Anfang. Es müssen weitere Aktionen folgen – in Berlin und im Rest der Republik –, solange bis sich grundlegend etwas verändert hat.
Was ist da los im Sozialpädagogischen Dienst?
Seit Jahren weisen Medien auf die Missstände hin. Beschäftigte zeigten ihre Überlastungen an, JugendamtsleiterInnen schrieben einen Brandbrief und die Vorsitzenden der Jugendhilfeausschüsse machten auf die unhaltbaren Zustände aufmerksam. Nicht zuletzt trat der Jugendstadtrat für Jugend, Schule und Facility Management aus Berlin-Mitte, Ulrich Davids, im November 2013 zurück, weil er die Sparzwänge nicht mehr verantworten wollte. In der Presse wurde zwar überwiegend von seiner Überforderung berichtet. Die ist aber bei diesen drei großen Ressorts auch nicht verwunderlich.
Vor allem weil es bei zwei dieser Ressorts wesentlich um Kinder geht. Während die politischen Ebenen die Verantwortung hin- und herschieben, passiert nichts: Gefährdete Kinder sind weiterhin überlasteten MitarbeiterInnen ausgeliefert und SozialpädagogInnen werden krank oder lassen sich versetzen.
In Berlin gibt es daher Teams im Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD), die nur noch aus zwei KollegInnen bestehen. Wenn man bedenkt, dass die Geschäftsordnung vorschreibt, dass man in einem Kinderschutzfall überhaupt nur zu zweit arbeiten darf, fragt man sich, wie diese personelle Ausstattung den Kinderschutz gewährleisten soll. Stirbt ein Kind, das unter der »Aufsicht« eines Jugendamtes stand, dann stehen die Jugendämter meist sehr weit oben auf der Liste der Beschuldigten.
Zu lesen ist dann, die Jugendämter hätten »versagt«, die Beschäftigten hätten Fehler gemacht. Ich bin der Meinung, dass die Öffentlichkeit, die Medien und vor allem die Politik erst einmal analysieren sollten, was dazu führt, dass MitarbeiterInnen der Jugendämter »versagen«. Das kann durchaus auch eine unzureichende Ausbildung sein oder es fehlen mitunter menschliche Fähigkeiten. Hauptsächlich kommt es aber zu Fehleinschätzungen, weil MitarbeiterInnen sich nicht wirklich auf eine Familie, auf die Menschen und ihre Schicksale konzentrieren können.
Die Belastung hat Gründe
Eine MitarbeiterIn betreut mit einer Vollzeitstelle im Durchschnitt 90 Familien. Wenn man die verpflichtenden Sitzungen von der zur Verfügung gestellten Arbeitszeit abzieht, bleiben uns pro Monat gerade einmal rund eineinhalb Stunden pro Familie – einschließlich der daran hängenden Aufgaben wie die Dokumentation.
Ein Gespräch mit einer Familie oder einer Person dauert im Durchschnitt eine Stunde. Müssen Sprachmittler zur Verständigung eingesetzt werden, verdoppelt sich die Beratungszeit. Da Familien aus mehreren Personen bestehen, sind meist mehrere Gespräche notwendig. Die anderthalb Stunden reichen dementsprechend nicht einmal für eine Familie. Es kommen aber noch weitere alltägliche Aufgaben hinzu: Kontakt zu Schulen, Kindergärten, ÄrztInnen, Polizei und anderen Fachstellen aufnehmen, Hilfepläne und Gerichtsberichte verfassen, Kostenübernahmen fertigen, Personendaten und Anträge aufnehmen sowie die Anlagen zur Mitwirkungspflicht und potentieller Kostenbeteiligung erläutern, bei Kinderschutzmeldungen in kollegiale Beratung gehen und einen so genannten ersten Check ausfüllen, Berichte und Gutachten lesen, Kontakt mit den FamilienhelferInnen und Fachdiensten halten, Hilfekonferenzen organisieren, Schulhilfekonferenzen, Gerichtstermine und andere Fachrunden wahrnehmen, Fachdienstanfragen stellen, Statistikformulare ausfüllen, sich über sozialräumliche Angebote informieren und nicht zu vergessen: die Dokumentationen über die geführten Gespräche.
All das sind Tätigkeiten, deren Ergebnisse man nachweisen kann. Die Gesellschaft erwartet von uns, dass wir reflektierte und abgewogene Entscheidungen treffen und Einschätzungen vornehmen können, die das Wohl des Kindes sichern. Die Voraussetzung aber dafür, dass diese Arbeit gelingt, ist, dass wir uns um diese Familien hinreichend und gründlich Gedanken machen können. Diese Arbeit kann man nicht einfach nachweisen. Wir benötigen hierfür sehr viel Zeit, die aber im Rahmen der uns zur Verfügung stehenden Stunden nicht enthalten ist. Und so machen wir uns diese Gedanken dann in der Freizeit – wenn wir endlich mal zur Ruhe kommen.
Tägliche Gratwanderung
Wir erarbeiten mit jeder Familie eine individuelle Lösung, damit Hilfen wirksam und nachhaltig sind und sie ohne staatliche Hilfe zurechtkommt. Es gibt keine Hilfe von der Stange.
Neben der Belastung durch die Fülle unserer Aufgaben, die fundierte Einschätzungen verhindern kann, kommt die Verantwortung hinzu, dass wir selbstverständlich die Rechte der BürgerInnen, der Familien, der KlientInnen nicht verletzen dürfen. So ist es eine Gratwanderung, zu entscheiden: Ist es noch möglich, die sorgeberechtigten Eltern in die Verantwortung zu nehmen? Oder müssen wir feststellen, dass die Eltern diese Verantwortung nicht mehr tragen können? Es ist eine Gratwanderung, zu entscheiden: Sind die seelischen Folgen größer, wenn das Kind in der Familie bleibt oder sind sie größer, wenn es aus der Familie herausgenommen wird?
Super-Gau im Hamsterrad
Es gibt eine Reihe von Familien, die mit Unterstützung von Fachleuten und eigenen Ressourcen Lösungen entwickeln wollen. Wir haben es aber oft auch mit Menschen zu tun, die keine Hilfe wollen und die ihre Probleme ganz anders einschätzen als wir. Oder mit Eltern, die alles an den RSD abgeben wollen, obwohl sie selbst die Verantwortung durchaus wahrnehmen könnten. Wir haben mit Familien zu tun, die widersprüchliche Angaben machen und damit die Einschätzung für die KollegInnen noch schwieriger machen. Wir haben mit Familien zu tun, die völlig zerstritten sind. Wir haben mit Familien zu tun, bei denen wir zwar ein schlechtes Gefühl haben, aber wegen fehlender Fakten nichts tun können.
Die Zusammenarbeit mit Eltern, die nicht motiviert sind, mit uns gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, bedeutet für uns immer wieder einen großen Kraftakt. Wir haben für ihr Verhalten durchaus Verständnis, denn wir dringen schließlich in private Lebensbereiche ein. Wer will schon sein gesamtes Privatleben vor einer staatlichen Institution offenlegen?
Es erfordert viel Empathie, um in solchen Fällen trotzdem eine Arbeitsbeziehung aufbauen zu können. Denn erst auf der Grundlage einer Arbeitsbeziehung kann man sich einen Überblick über die Probleme und Ressourcen der Menschen machen. Nur mit einem guten Überblick kann man in schwierigen Lebenslagen fundiert einschätzen, welche Lösungen für die Betroffenen sinnvoll sind.
Während wir diese Aufgaben tagtäglich erledigen, bewahren wir in Krisen, zum Beispiel eine drohende Inobhutnahme von Kindern, einen kühlen Kopf und wägen alles genau zum Wohle des Kindes ab. Empathisch, aber Grenzen setzend und fordernd. Dabei ist eine Krisenbearbeitung nicht in ein oder zwei Stunden erledigt, sondern erst in ein oder zwei Arbeitstagen. Der Super-Gau kommt dann, wenn es noch eine weitere Krise gibt. Dann bleiben die alltäglichen Aufgaben liegen. So stapelt sich alles auf dem Schreibtisch. Unsere ganzen angesammelten Überstunden sollen wir im besten Fall auch noch abbummeln. Dann muss die Vertretung einspringen, die allerdings genauso überlastet ist. Und so wachsen die Stapel weiter auf den Schreibtischen. Während wir uns in einem Hamsterrad befinden, haben wir gar keine Zeit, uns den noch nicht so schlimmen Meldungen zu widmen. Das heißt: Prävention ist nicht möglich. Wir produzieren somit immer mehr Kinderschutzfälle.
Eine politische Lösung gegen die soziale Ausgrenzung
Wir wollen unseren Job gut machen – im Interesse unserer KlientInnen und unserer eigenen Gesundheit! Wir wollen unsere Entscheidungen auf einer reflektierten, fachlichen Basis treffen. Wir können jedoch keine fachliche Arbeit leisten, wenn uns die Voraussetzungen dafür fehlen. Wir arbeiten mit Lebenslagen, die trotz unserer professionellen Distanz für uns eine enorme psychische Belastung bedeuten.
Zudem decken wir während unserer Arbeit nicht nur individuelle Schicksale, sondern auch gesellschaftliche Missstände auf. Unsere Gesellschaft fördert soziale Ausgrenzung! Wenn sich nichts grundlegend am gegenwärtigen Sozialsystem ändert, dann wird sich auch nicht die Zahl derer verringern, die Unterstützung durch den RSD benötigen. Wenn sich diese Zahl nicht verringert, dann verringert sich auch nicht der Bedarf an mehr Personal oder die Anzahl der kranken Kollegen und derer, die gehen. Das wird sich weder durch eine stärkere Kontrolle noch durch eine Ausweitung der formalen Dokumentationsflut ändern.
Es ist ein Teufelskreis, aus dem man ohne kompetente politische Lösungen nicht herausfindet. Eine Kollegin beschrieb das einmal so: Ein Arbeiter muss am laufenden Fließband Eier behutsam in Schachteln einsortieren. Wenn man, wie oben erwähnt, davon ausgeht, dass jedes Ei eine individuelle Form hat und in eine passgenaue Schachtel muss, dann muss der Arbeiter noch sorgfältiger arbeiten. Der Arbeiter weiß auch nicht, wann welches Ei mit welcher Form kommt, damit er vorher die passgenauen Schachteln bereitstellen kann. Das Fließband wird langsam aber stetig schneller.
Außerdem werden immer mehr Eier auf das Band gelegt. Der Arbeiter schafft es nicht mehr alle Eier zu fassen und behutsam einzusortieren. Die Eier klatschen am Ende des Fließbandes auf den Boden. Wenn der Arbeiter auf die Toilette muss, muss ein Kollege, der an einem gleichen Fließband arbeitet, die Eier des anderen Arbeiters einsortieren. Und somit klatschen nun noch mehr Eier auf den Boden. Über diese auf dem Boden »zerplatzten Eier« berichten dann die Medien. Und was passiert dann eigentlich mit dem Arbeiter, der doch nur versucht hat, seinen Job gut zu machen?«
Die öffentliche Wahrnehmung
Diese hochkomplexe schwierige Arbeitssituation des RSD in problembelasteten Familien ist in der Öffentlichkeit und sicher auch in der Politik kaum bekannt. Aufgrund des fehlenden Einblicks in diese verantwortungsvolle schwierige Aufgabe und aufgrund der Ignoranz gegenüber diesen Schwierigkeiten, ergibt sich schnell das weit verbreitete Image des Jugendamtes: »Entweder es kommt zu früh oder zu spät!« Diese Vorwürfe gehen an uns. Die Politik, die uns die Arbeit unendlich erschwert und sie oft unmöglich macht, schaut zu und spart weiter. Und das nicht nur bei uns, sondern auch in allen anderen sozialen Einrichtungen. Die Politik macht Kinder, Eltern, Angehörige und Beschäftigte systematisch krank.
Aber das ist kein Thema für die Presse. Stattdessen wird über Steuerhinterzieher, Diäten und Flughäfen berichtet. Bei uns läuten die Kinderschutzglocken erst, wenn beim Pädophilie-Skandal eines Politikers gefragt wird, wer wann welche Information zuerst hatte. Was ist hier eigentlich los? Welche Moral- und Wertevorstellungen herrschen hier vor?
Wenn Politik angesichts der beschriebenen Situation keine adäquaten Bedingungen für die soziale Arbeit im Jugendamt bereitstellt und sie die Beschäftigten – statt sie bei ihrer schwierigen Aufgabe zu unterstützen – immer mehr belastet und ihnen ihre Arbeit erschwert, dann können wir nur sagen: Wir weigern uns, weiterhin für Öffentlichkeit und Medien die Prügelknaben abzugeben und gesellschaftliche Missstände zu deckeln.
Regionaler Sozialpädagogischer Dienst (RSD)
Der Regionale Sozialpädagogische Dienst (RSD) ist der Basisdienst des Jugendamtes. Er ist Anlaufstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche bei familiären Problemen. Der RSD hilft, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, sie vor Gefahren zu schützen und die Erziehenden zu unterstützen. Hier finden Familien und alle, die Interesse am Leben und Alltag von jungen Menschen haben, AnsprechpartnerInnen. Ziel ist, Krisen- und Konfliktsituationen von Familien vorzubeugen und zu bewältigen. Dazu gehört auch, die Zuständigkeit von Spezialdiensten herauszufinden und sie in die Arbeit mit den Familien einzubeziehen. Der RSD informiert Betroffene über öffentliche Hilfen für junge Menschen und berät sie bei existentiellen Notlagen. Er vermittelt Hilfen zur Erziehung und sucht zusammen mit den Betroffenen und Trägern nach geeigneten Hilfen. Eine bedeutende Aufgabe des RSDs ist die Krisenhilfe und der Kinderschutz. (Aus: www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/org/jugend/ regionale_sozialpaedagogische_dienste.html) In diesem Jahr hatte das Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg bereits einmal für mehrere Tage das gesamte Amt geschlossen, um den Aktenstau aufzuarbeiten. Es wurden nur noch akute Notfälle bearbeitet. Für SozialarbeiterInnen, die in Familien bei Kinderschutzfällen arbeiten, ist diese Schließung ein großes Problem.