bbz 06 / 2017
»Wir haben nicht die Zeit, um jeder Meldung nachzugehen«
Immer wieder hat die GEW BERLIN auf die Situation der Kolleg*innen in den Berliner Jugendämtern aufmerksam gemacht. Die miserable Ausstattung und die unzureichende Vergütung werden der Arbeit der Sozialarbeiter*innen in den Jugendämtern nicht gerecht. Heike Schlizio-Jahnke leitet den Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) des Jugendamts Berlin-Wedding. Sie gibt Einblicke in ihre Arbeit
Heike, du leitest den Regionalen Sozialpädagogischen Dienst (RSD) in Berlin-Wedding. Beschreibe doch mal euer Arbeitsfeld.
Schlizio-Jahnke: Das Schöne beim RSD im Jugendamt ist, dass wir sehr vielseitige Arbeitsfelder haben. In erster Linie zählt hierzu der Kinderschutz. Wir begleiten Familien. Wir gehen Meldungen beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung nach und klären vor Ort, ob es sich um eine solche Gefährdung handelt, ob die Kinder in den Familien bleiben können und welche Unterstützungsangebote für die jeweiligen Familien sinnvoll sind.
Darüber hinaus sind wir eng mit den Akteur*innen der Kinder- und Jugendhilfe im Kontakt. Hierzu zählen auch die Schulen, die Kitas, die Familiengerichte, der Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, die Erziehungs- und Familienberatungsstellen, die Sozialpsychiatrischen Dienste und der Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst. Diese Kooperationen sind wichtig, um Kinderschutz zu gewährleisten. Wir haben aber auch die Aufgabe, Eltern und Familien zu unterstützen und zu beraten zum Beispiel bei Sorgerechtsfragen.
Was neben diesen akuten Einsätzen leider viel zu häufig vernachlässigt wird, ist unserer präventiver Auftrag. Auf Grund der zunehmenden Arbeitsverdichtung können wir zumeist erst aktiv werden, wenn es bereits zu spät ist.
Du beschreibst eine Fülle an Arbeitsprozessen. Wie viel Zeit bleibt denn da für eure Klient*innen?
Schlizio-Jahnke: Tja! Wie viel Zeit können wir uns nehmen? Wir nehmen uns eigentlich viel zu wenig Zeit. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Denn es kommt oft vor, dass wir sogenannte leichte Fälle nicht bearbeiten können. Wir haben einfach nicht die Zeit jeder Meldung nachzugehen. Dabei auch noch präventiv tätig zu sein ist undenkbar. Das belastet uns natürlich sehr.
Eine genaue Zeit pro Klient*in kann nur schwer ermittelt werden. Im Durchschnitt betreut ein*e Kolleg*in in Vollzeit um die 80 Familien. Hier bleibt für jede*n Einzelne*n also nicht mehr viel Zeit. Hinzu kommt, dass ein Kinderschutzfall mit der umfangreichen Dokumentation schnell mal um die sechs bis sieben Stunden in Anspruch nehmen kann. Da bleibt dann nicht mehr viel Zeit für andere Fälle übrig.
Du hast gerade von 80 Familien gesprochen. Ist das mit euren Aufgaben überhaupt zu vereinbaren?
Schlizio-Jahnke: Nein, das ist nach wie vor viel zu viel. Ich muss es nochmal sagen: Bei Einhaltung aller notwendigen Schritte und Sofortmaßnahmen sind wir mit einer Kinderschutzmeldung bereits mehr als einen Tag beschäftigt. Da ist die Nachbereitung und die Weiterverfolgung des Falls noch nicht mit inbegriffen.
Spätestens seit 2012 macht ihr regelmäßig durch verschiedene Aktionen darauf aufmerksam, wie die Situation in den Jugendämtern ist, auch auf eine unzureichende Vergütung. Trotz aktueller Tarifergebnisse beträgt der Gehaltsunterschied zwischen dem in Berlin gültigen Tarifvertrag der Länder (TV-L) zum in anderen Bundesländern gültigen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) weiterhin bis zu 220 Euro. Wie kommt das bei den Kolleg*innen an?
Schlizio-Jahnke: Scheinbar bedarf es hier eines sehr langen Atems. Ich bin selber darüber erschrocken, wie lange wir bereits für bessere Rahmenbedingungen und für eine bessere Bezahlung kämpfen. Es ist für uns schwer nachzuvollziehen, warum es im TVöD eine Regelung für die Kolleg*innen mit der sogenannten Garantenstellung gibt und der TV-L hier nichts Vergleichbares regelt. Die Garantenstellung bedeutet für Sozialarbeiter*innen, Entscheidungen zur Vermeidung der Gefährdung des Kindeswohls treffen zu müssen und dafür in die Pflicht genommen werden zu können. Als Tätigkeitsmerkmal im TV-L würde dies eine höhere Bewertung und damit Vergütung der Tätigkeit zur Folge haben.
Wir haben ganz klar auch einen Fachkräftemangel. Wir finden nicht mehr genügend Menschen, die im Jugendamt arbeiten wollen. Das hängt nicht nur mit der Bezahlung zusammen, sondern auch mit den Bedingungen insbesondere in Verbindung mit der extrem verantwortungsvollen Arbeit.
Hohe Fallzahlen, schlechte Ausstattung der Räumlichkeiten, fehlende Supervision. Zum Teil müssen wir uns sogar unsere Büroausstattung selber organisieren. Das sind doch keine Anreize, um junge Kolleg*innen zu werben beziehungsweise in diesem Beruf zu halten. Hinzu kommt, dass die Einarbeitung für diese viel zu kurz kommt.
Du hast zwei wesentliche Dinge genannt. Zum einen die Bezahlung und zum anderen die schlechten Rahmenbedingen vor Ort. Was macht denn den Beruf dennoch attraktiv für dich?
Schlizio-Jahnke: Das ist meine Lieblingsfrage. Denn: Wir machen einen total tollen Job. Abwechslungsreich und interessant. Wir müssen ständig dazu lernen und es macht Spaß, mit den Familien zu arbeiten. Es ist schön, Erfolge zu beobachten und wir haben engagierte Kolleg*innen. Tatsächlich wird es bei uns nie langweilig. Natürlich ist es schwer, wenn ich regelmäßig meine Tagesplanung ändern muss, weil wieder etwas dazwischen gekommen ist. Aber dadurch ist es eben auch sehr abwechslungsreich.
Was bräuchte es denn, damit ihr eure Arbeit auch weiterhin verantwortlich ausführen könnt?
Schlizio-Jahnke: Was ich mir insbesondere wünsche, ist eine Anerkennung dieses Berufsfeldes und das nicht nur finanziell. Nach langem Kampf ist es uns gelungen, dass die zuständige Senatsverwaltung einen Maßnahmeplan 2014 entwickelt hat. Nur leider ist seit dem nicht viel passiert. Da fühlen wir uns nicht ernst genommen und erwarten von der Senatsverwaltung die sofortige Umsetzung.
Der Maßnahmeplan von 2014 sah vier Schritte vor, um die Situation im RSD zu verbessern. Die erste Maßnahme sollte sich mit der Untersuchung der Personalsituation befassen, während die zweite Maßnahme zur Identifizierung der Arbeitsbelastung angedacht war. Die Maßnahmen drei und vier hatten zum Ziel, Anreize zu schaffen um das Berufsfeld attraktiver zu machen und zugleich ein Einarbeitungskonzept zur Unterstützung von Berufseinsteiger*innen zu entwickeln. Es kommt einer Kapitulation gleich, dass die Senatsverwaltung hier keine Verantwortung übernimmt und an den selbstgesteckten Zielen arbeitet. Mit welchen Sofortmaßnahmen wäre euch denn geholfen?
Schlizio-Jahnke: Da geht es zumindest um Standards in der Sozialen Arbeit und um die Ausstattung im RSD, damit wir gut arbeiten können. Das fängt beim Personal an: Gute Arbeitsverträge, regelmäßige Fortbildungen und Supervisionen. Aber auch räumliche Dinge sind wichtig, wie zum Beispiel ein ordentlicher Beratungsplatz oder ein Wartezimmer. Das wäre toll!
126 Stellen unbesetzt
Zum 1. März 2017 waren von 851 Stellen für den RSD in Berlin nur 725,5 Stellen besetzt. Fast jede sechste Stelle blieb unbesetzt.
Die GEW BERLIN fordert
- Fallzahlbegrenzung im RSD: 40 Familien auf eine Vollzeitstelle
- Stellenplanung mit Vertretungsreserve
- RSD-Stellen mit E 10 / A 11 eingruppieren