Recht & Tarif
Wir streiken für kleinere Klassen
Mit einem ersten Warnstreik für den Tarifvertrag Gesundheitsschutz hat die GEW BERLIN ein Ausrufezeichen gesetzt.
Am 6. Oktober haben wir uns mit einer Streikdemo auf den Weg gemacht, um für unsere revolutionäre Idee zu kämpfen: Wir wollen einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz, der die Klassengröße regelt! Ein Tarifvertrag zur Verringerung der Klassengröße wäre ein grundlegender Paradigmenwechsel und würde Lehrkräften wie Schüler*innen zugutekommen. Bisher erlässt die Senatsbildungsverwaltung einseitig, anhand welcher Faktoren sich die Klassengrößen berechnen. Als Gewerkschaft können wir dazu bisher nur kritisch Stellung nehmen, was wir auch tun. Dadurch bewegt sich was im Kleinen, das ist nicht von der Hand zu weisen. Aber in Tarifverhandlungen und auf der Straße mit dem Mittel des Streiks Druck für bessere Arbeitsbedingungen machen zu können, das ist auf dem übernächsten Level.
Die Beteiligung ist riesig
Wir haben als GEW BERLIN 28 Schulen exemplarisch aufgerufen, um deutlich zu demonstrieren, wie wichtig den Kolleg*innen eine Arbeitsentlastung durch kleinere Klassen ist und wie streikfähig wir sind! Mehr als 500 Kolleg*innen sind unserem Aufruf gefolgt. Wir sind sogar von mehreren Schulen angeschrieben worden, ob wir sie nicht auch noch aufrufen wollen. Die Beteiligung war überwältigend gut, obwohl uns Pädagog*innen die Entscheidung zu streiken besonders schwerfällt. Denn unser Streik bedeutet jedes Mal weniger Lernzeit für unsere Schüler*innen, denen wir uns verpflichtet fühlen. Daher haben wir uns in der Tarifkommission entschieden, nur einen sehr kleinen Teil der Schulen exemplarisch zum Streik aufzurufen. Uns ist allen bewusst, dass der Unterrichtsausfall der letzten Monate durch die Covid-19-Pandemie für alle, für Schüler-*innen, Eltern, für uns Kolleg*innen, eine enorme Belastung war.
Aber die Kolleg*innen haben sich nicht beeindrucken lassen. Denn: Das Problem ist nicht der Unterricht, der ausfällt, sondern der Unterricht, der stattfindet – oder anders ausgedrückt: das Problem ist, unter welchen Bedingungen der Unterricht stattfindet! Der Krankenstand ist hoch, weniger als die Hälfte der Lehrkräfte erreicht überhaupt die Regelaltersgrenze im aktiven Dienst. Gute Bildung ist mit überlasteten Lehrer*innen nicht möglich.
Der Warnstreik war nötig, weil der Finanzsenator Matthias Kollatz unsere Forderungen ohne Gesprächsangebot abgelehnt hatte. Bereits im Juni hatte die GEW BERLIN ihn und Bildungssenatorin Sandra Scheeres dazu aufgefordert, Tarifverhandlungen über einen Tarifvertrag Gesundheitsschutz aufzunehmen. Der Finanzsenator hat sich jedoch mit dem Verweis auf die Zuständigkeit des Arbeitgeberverbandes TdL aus der Verantwortung gezogen. Die Rechtmäßigkeit unseres Streiks hingegen zweifelt auch die Senatsfinanzverwaltung offenkundig nicht an, auf eine Klage wurde dieses Mal verzichtet. Das wundert uns nicht, denn Maßnahmen, die auf einen besseren Gesundheitsschutz der Beschäftigten zielen, indem sie durch eine günstigere Personalbemessung für Entlastung sorgen, sind nach Rechtsprechung mehrerer Gerichte tariflich regelbar. Sich für eine solche Regelung einzusetzen, auch in seinem Arbeitgeberverband, wäre Aufgabe des Finanzsenators.
Dass vor allem auch die Schüler*innen von kleineren Klassen profitieren würden, wissen auch die Eltern. Elternvertreter*-innen, Schüler*innen und unsere Kolleg*innen im Sozial- und Erziehungsdienst haben sich daher solidarisch mit unserem Arbeitskampf gezeigt, wofür wir sehr dankbar sind. In einem Grußwort ermutigte uns auch ein Kollege von der Krankenhausbewegung, die mit einem ähnlichen Tarifvorhaben für Entlastung kämpft.
Immer wieder werden wir von Politik und Presse nach der Umsetzbarkeit unseres Tarifvorhabens gefragt – mit Verweis auf den Lehrkräftemangel. Mich erstaunt die Frage, wenn ich mir zwei wesentliche Berechnungsgrößen für Lehrkräftebedarf ansehe: Sechs Jahre brauchen Kinder von der Geburt bis zur Einschulung. Sechseinhalb Jahre brauchen Lehramtsstudierende vom Studieneintritt bis zum Abschluss des Referendariats. Letzteres unter der Prämisse, dass die Bedingungen stimmen und sie nicht durch Jobben vom Studieren abgelenkt werden. Aus dieser Tatsache müsste sich doch was machen lassen. Vorschläge zur Verbesserung der Ausbildungsbedingungen, Erhöhung der Kapazitäten und besseren Unterstützung in Studium und Referendariat, zum Beispiel durch Stipendien und ein bedarfsgerechtes BAföG, haben wir längst vorgelegt. Dass die SPD 25 Jahre lang die Bildungspolitik in dieser Stadt verantwortete und unsere Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen jetzt mit dem Verweis auf den selbst verschuldeten Lehrkräftemangel ablehnt, ist mehr als schräg. Mal abgesehen davon, dass kleinere Klassen in Berlin den hiesigen Lehrer*innen-Job deutlich attraktiver machen würden. Ein gutes Argument im bundesweiten Kampf um Lehrkräfte.
Auch SPD, Grüne und Linke betonen, kleinere Klassen zu wollen
Schauen wir uns die Wahlprogramme der Parteien an, gibt es Grund zur Hoffnung für unser Tarifprojekt Gesundheitsschutz. Zumindest SPD, LINKE und Grüne, aber auch die CDU haben nämlich kleinere Klassen versprochen, das ‚Team Schule‘ personell besser ausstatten möchten sie alle, auch die FDP – und jetzt wollen wir auch Taten von ihnen sehen!
Von Erzieher*innen hören wir, dass sie gerne am Streik teilgenommen hätten. Es ist aber leider schlicht so, dass wir sie aus rechtlichen Gründen nicht aufrufen können. Klar ist: Wenn wir für Lehrer*innen eine Regelung abschließen können, wird das Vorbildcharakter für andere Beschäftigte in Schule haben – also: Diese Tarifauseinandersetzung könnte erst der Anfang sein, wenn Erzieher*innen ihre Kolleg*innen jetzt kräftig solidarisch unterstützen!
Sollte der Finanzsenator Verhandlungen mit uns weiter ablehnen, werden wir zeitnah weitere Arbeitskampfmaßnahmen beraten. Bevor es dazu kommt, steht im November aber schon die nächste Tarifrunde im TV-L vor der Tür. Dabei geht es um das Gehalt und Eingruppierungsfragen. Auch hier dürfte es zu Warnstreiks kommen, aufgerufen werden dann alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder, also auch die Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen und auch der Hochschulbereich (siehe Seite 42).
Klar ist, es gibt keinen guten Zeitpunkt für Streiks. Streiks kommen immer ungelegen. Und das müssen sie auch. Streiks müssen zur Unzeit kommen, sie müssen unangenehm sein, denn sonst sind sie wirkungslos.
Mehr Informationen zum TV Gesundheitsschutz: www.gew-berlin.de/tvgesundheitsschutz