Schwerpunkt "Was bleibt von Corona"
Wut bewahren
Die Pandemie hat die strukturellen Probleme der Hochschulen deutlich hervortreten lassen – und den gemeinsamen Willen gestärkt, sie nicht länger hinzunehmen.
Krisen bieten immer auch die Chancen für positive Veränderungen, lautet eine Binsenweisheit. In den Folgen der Pandemie an den Hochschulen sucht man Chancen jedoch zunächst vergeblich: Studierende lernen seit nunmehr drei Semestern auf Distanz, manche haben in dieser Zeit einen ganzen Master absolviert, manche seit Studienbeginn weder die Universität noch überhaupt die Stadt betreten.
Mittelbau steht alleine da
Was sie dringend benötigt hätten, ist neben vorausschauenden Planungen mit langfristigen Perspektiven vor allem eine enge Betreuung durch Lehrpersonal. Doch der sogenannte akademische Mittelbau, der den Großteil der Lehre an den Universitäten stemmt, war bereits vor Corona nahe der Belastungsgrenze: Kettenbefristungen, erzwungene Teilzeit und häufige Wohnortwechsel stellen enorme Hürden für die Karriere- und Familienplanung – sowie die physische und psychische Gesundheit – der Beschäftigten dar.
Während Mittelbauler*innen selbst mit Zukunftsängsten, Doppelbelastung durch Kinderbetreuung im Homeoffice oder parallelen Bewerbungen auf die nächste befristete Stelle kämpften, sollten sie nun die zusätzlichen Bedürfnisse der Studierenden auffangen, die nicht zuletzt durch den erschwerten Kontakt unter Kommilliton*innen und die immense psychische Belastung durch die pandemischen Realitäten ausgelöst wurden.
Kreative Lösungen oder strukturelle Veränderungen zur Unterstützung des Personals und der Studierenden ließen dabei auf sich warten. Stattdessen wurde auf Sicht gefahren, die Distanzlehre Semester um Semester verlängert und die Entwicklung digitaler Lehr- und Betreuungsformate den wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen überlassen.
Hannas Knoten platzt
Und dennoch lässt sich der Krise etwas Positives abgewinnen. Denn es dürften die kaum zu bewältigenden Herausforderungen der Corona-Pandemie gewesen sein, die das sprichwörtliche Fass schließlich übersprudeln ließen. Statt weiter still den Missstand zu ertragen, griffen die Mitarbeiter*innen im Sommer zu den Signalpfeifen der sozialen Medien.
Sie machten unter dem Hashtag #IchBinHanna auf Twitter publikumswirksam auf ihre Situation aufmerksam und forderten grundlegende Verbesserungen ein. Der Name »Hanna« nimmt Bezug auf die gleichnamige fiktive Wissenschaftlerin aus einem geradezu zynischen und infantilisierenden Erklär-video des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), das die Befristungen im Wissenschaftsbetrieb regelt.
Die Resonanz übertraf bisherige Kampagnen wie #95vsWissZeitVG (die bbz berichtete in der Juli/August-Ausgabe) bei weitem und machte das Anliegen der Wissenschaftler*innen in zahlreichen Medien bekannt. Zudem trieb die Kampagne der Presseabteilung des BMBF den Schweiß auf die Stirn und erzwang sogar eine aktuelle Stunde im Deutschen Bundestag.
Solidarische Studierende unterstützten die Bewegung und zeigten die negativen Folgen für ihre Ausbildung und Zukunftsperspektiven auf. Es ist diese kollektivierte Wut, die eine Chance in der Pandemie darstellt: Der Wille, sich zu organisieren und die prekären Bedingungen nicht länger hinzunehmen.
An alle muss gedacht werden
Bei aller Freude über den Erfolg der Bewegung bleibt noch viel zu tun. Die persönlichen Geschichten von Karrieren, die trotz beachtlicher Leistungen in der Befristungssackgasse zu enden drohen, haben #IchBinHanna breite Aufmerksamkeit beschert. Sie verstetigen aber auch den Gedanken, dass gute Arbeitsbedingungen verdient werden müssen und verstärken die Stimmen derjenigen, die dank guter »Startvoraussetzungen« überhaupt erst die Möglichkeit erhalten haben, sich bestimmter Lorbeeren rühmen zu können.
Das Ziel dürfen nicht unbefristete Stellen für Drittmittelkönig*innen sein. Die Forderung muss lauten: Gute Arbeit für Alle. Auch für die, deren Aufenthaltstitel in Deutschland von einem Arbeitsvertrag abhängt; ebenso für jene, deren Elternhaus im Zweifelsfall die Arbeitslosigkeit zwischen einer langen Reihe befristeter Verträge nicht auffangen kann. Auch für Wissenschaftler*innen mit Behinderung, BIPoCs (Black, Indigenous, People of Color) oder queere Forscher*innen, die aufgrund struktureller Diskriminierungen besonders von den ausschließenden Mechanismen der Arbeitsbedingungen betroffen sind, gilt es, sichere Arbeitsplätze zu schaffen.
Die wissenschaftliche Community und auch die GEW muss aktiv nach Wegen suchen, diese Stimmen bei der Suche nach einer radikalen strukturellen Veränderung des Wissenschaftsbetriebs zu unterstützen. Auch nach der Bundestagswahl.