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Tendenzen

Zeitzeugin, Autorin, Vorbild

Die Trauerrede für Inge Deutschkron (*1922 – †2022) wurde bei ihrer Beerdigung am 6. April 2022 gehalten.

Foto: Imago

Heute nehmen wir Abschied von Inge Deutschkron. Von der kämpferischen Zeitzeugin, der großen Journalistin und Autorin, die am 30. Januar 2013 die Rede zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag hielt, von der gefeierten Ehrenbürgerin Berlins.

Inges Geschichte ist bekannt. Die 12 Jahre ihrer gestohlenen Jugend in Berlin unter den Nazis, davon drei Jahre als versteckte Jüdin, hat sie in ihrem Buch »Ich trug den gelben Stern« mit großem Können eindrucksvoll beschrieben. Millionen haben das Buch gelesen, und Hunderttausende konnten mit dem GRIPS Theaterstück »Ab heute heißt du Sara« Inges Geschichte auf vielen deutschen Bühnen nacherleben.

Die Premiere im Februar ‘89 fand 10 Tage nach den Wahlen zum Abgeordnetenhaus statt, bei der die neonazistischen Republikaner acht Prozent bekamen. Unser Stück war wieder mal das aktuellste von Berlin und ein gewaltiger Erfolg. Während die älteren Zuschauer betroffen an ihrer Vergangenheit kauten, waren die Jugendlichen hell empört, aufgewühlt, wütend über Inges Schicksal – wie über das einer besten Freundin, die man verstecken will, weil sie plötzlich abgeschoben werden soll. So verschafften die vielen jungen Menschen im GRIPS Theater Inge nach und nach ein neues Vertrauen in die Zukunft, in die nächste Generation und zu Berlin. Sie wurde fortwährend in Schulen eingeladen, um mehr zu erzählen und sich ausfragen zu lassen, und fand sofort den richten Ton. Und als zur Zeit von Rostock und Mölln Neonazis Inge mit Briefen und Anrufen terrorisierten, waren es die Kinder und Jugendlichen, die Inge mit Hunderten von Briefen Mut zum Bleiben machten, mit »Hier ist Ihr Zuhause«, »Lassen Sie uns nicht mit diesen beschissenen Nazis alleine« oder »Haben Sie Probleme, wenden Sie sich an uns!«

Im Buch wie im Stück gibt es einen besonders schrecklichen Moment, der auf den Ursprung der unvergleichlichen Energie hinweist, die wir an Inge Deutschkron so bewundert haben. Es ist der 27. Februar 1943, der Tag der sogenannten Fabrikation, an dem die letzten Berliner Juden abgeholt wurden. Alle. Inge kann es aus ihrem Versteck beobachten – und fühlt sich schuldig. Wie eine Verräterin. Ein für uns kaum nachzuvollziehendes Gefühl, von dem aber viele Überlebende berichtet haben. Warum werde gerade ich verschont? Ich gehöre doch zu ihnen. Dieses Übrigbleiben muss doch irgendeinen Sinn haben. Wer auch immer, lässt mich am Leben für etwas, das zu tun bleibt: Bis zum letzten Atemzug dafür zu kämpfen, dass sich solches Grauen nicht wiederholt.

Inge hat unendlich viel angestoßen und erreicht. Ich erwähne nur das Blumenprojekt von Schüler*innen am Auschwitztag oder das »Mahnmal Gleis 17«. Sie wurde viel geehrt. Das Bundesverdienstkreuz hat sie zwar dreimal abgelehnt. Sie wollte keinen Orden mit Hunderten alter Nazis teilen, die ihn unter Adenauer bekommen hatten. Den Berliner Landesverdienstorden ließ sie sich dagegen mit Freuden von Klaus Wowereit umhängen. Den gibt es erst seit 1978. Und von Herzen Berlinerin war sie immer.

Der größte Coup gelang Inge vor vier Jahren: Da erhielt der zentrale Stadtplatz der neuen Europa-City den Namen »Otto-Weidt-Platz«. Mitten in Berlin. Obwohl Weidt keine Frau war. So etwas schafft nur Inge Deutschkron.

Fast hundert Jahre hat sie das durchgehalten. Um ganze 77 Jahre hat sie das braune Pack überlebt. Was für ein Sieg!

Liebe Inge, jetzt kannst du endlich ausruhen. Du kannst gewiss sein, dass wir Dein Werk in Deinem Sinne fortsetzen.

Inge, der Kampf geht weiter!             

 

Die Inge-Deutschkron-Stiftung will erhalten, wofür Inge Deutschkron steht und wofür sie sich ihr Leben lang eingesetzt hat. Das ist Aufklärungsarbeit gerade auch für jüngere Generationen und ein aktives Gedenken.

www.inge-deutschkron-stiftung.de

 

Dietrich Lehmann hat die Rede für die bbz gekürzt.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46