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Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit

Zwischen Amt und akutem Hilfebedarf

Bei ihrer Arbeit mit wohnungslosen psychisch erkrankten Personen trifft Selda Gerdes-Kopal auf die unterschiedlichsten Biografien.

Foto: Adobe Stock

bbz: Wer bist du und wie bist du zur sozialen Arbeit gekommen?

Selda Gerdes-Kopal: Ich bin 39 Jahre und komme aus Berlin. Nach dem Fachabitur wollte ich Veranstaltungstechnik studieren. Zusätzlich habe ich mich an der Alice Salomon Hochschule beworben. Der NC war sehr hoch und die Aussichten sahen für mich nicht besonders gut aus. Ich habe viele Absagen erhalten, doch aufgrund eines Verfahrensfehlers habe ich einen Platz für den Studiengang Soziale Arbeit erhalten. Das war genau das, was ich eigentlich nicht wollte. Ich bin ein ziemlich klassisches Schulverweigererkind gewesen und wollte auf gar keinen Fall diejenige sein, die nach ihrer eigenen schief gelaufenen Schulkarriere Soziale Arbeit studiert, um dann anderen delinquenten Kindern klar zu machen, dass sie zur Schule gehen sollen.

Warum hast du dich letzten Endes doch eingeschrieben?

Gerdes-Kopal: Zum einen aufgrund von mangelnden Alternativen und zum anderen bringe ich immer alles zu Ende, was ich einmal anfange. Das ist prinzipiell eine gute Eigenschaft von mir, die bringt mich dazu, Studiengänge zu Ende zu machen. Ich habe dann noch einen Master in »Qualitätsmanagement« und in »Praxisforschung« gemacht.

Wie kamst du zu diesen beiden Studiengängen?

Gerdes-Kopal: Ich wollte gerne die Möglichkeit haben, in anderen Arbeitsfeldern tätig zu sein, wie zum Beispiel in der Hochschule oder in der Projektarbeit. Zudem wollte ich nicht nur mit Sozialarbeitenden und Klient*innen arbeiten. Qualitätsmanagement erschien mir als etwas, wo man am Ende eventuell eine messbare Größe hat. In der Sozialen Arbeit ist Erfolg schwer zu definieren. Ich bin sehr prozessverliebt und das ist oft eine Herausforderung für mich. Die beiden Zusatzqualifikationen haben mir geholfen, Hilfeprozesse anders zu strukturieren, Prioritäten anders zu setzen und Projekte zu initiieren.

Auf welches Tätigkeitsfeld hast du dich im Studium spezialisiert?

Gerdes-Kopal: Ich habe mich spezialisiert auf Gruppe und Bildung. Das übergeordnete Thema war Frauen in prekären Lebenssituationen. So habe ich auch mein Studium abgeschlossen, mit einer Arbeit über obdachlose, psychisch kranke Frauen und deren Lebensrealität. Dazu gehörte, der Frage nachzugehen, welche Anforderungen diese Lebensrealität an das Hilfesystem stellt.

Warum hast du dich für diesen Schwerpunkt entschieden?

Gerdes-Kopal: Ich habe bereits neben dem Studium mit obdachlosen Frauen gearbeitet. Ich finde es eine besondere Herausforderung, mit dieser Personengruppe zu arbeiten. Es ist kein glamouröser oder besonders prestigeträchtiger Bereich und es gibt wenig Gelder, aber es reizt mich, mit dem Wenigen was wir haben, das Beste für die Leute rauszuholen. Es ist eine super abwechslungsreiche Arbeit. Die Leute bringen die unterschiedlichsten Biografien mit, es gibt nicht die klassische obdachlose Person. Ich denke, uns alle eint der Wunsch nach einem Ort, wo wir sein und in Ruhe gelassen werden können.

Wo arbeitest du jetzt und welchen Schwerpunkt habt ihr?

Gerdes-Kopal: Ich arbeite für die GEBEWO – Soziale Dienste – Berlin gGmbH Dienste, und unser Schwerpunkt ist die Existenzsicherung. Dazu gehört die Beschaffung und Vermittlung von Wohnraum und die Unterstützung von Menschen, die aufgrund von Suchterkrankungen und/oder psychischen Erkrankungen in existenzielle Not geraten sind. Wir haben verschiedene Leistungstypen und je nach Problemschwerpunkt der Person, die zu uns kommt, vermitteln wir weiter oder können diesen Leistungstyp bieten. Ich arbeite in einem Bereich, in dem es um die Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, Wohnungslosigkeit, drohende Wohnungslosigkeit, Überschuldung, Probleme mit dem Gesundheitszustand und rechtliche Probleme geht.

Wie kommt ihr in den Kontakt mit euren Klient*innen?

Gerdes-Kopal: Ich bin noch nicht so lange da, doch meine jetzigen Erfahrungen sind so, dass die Leute über die sozialen Wohnhilfen, das ist eine Fachabteilung der Bezirksämter, vermittelt werden. Zudem gibt es Selbstmelder*innen, die über offene Beratungen zu uns kommen.

Was glaubst du, welche Kompetenzen braucht man in deinem Job?

Gerdes-Kopal: Ich bin ganz gut damit gefahren, so authentisch wie möglich zu bleiben und zu sein. Und auch so fair den Leuten gegenüber zu sein, ihnen zu sagen, dass etwas gut gelaufen ist, aber genauso ihnen mitzuteilen, wenn irgendetwas nicht so funktioniert, wie sie es sich vorstellen. Mein Auftrag ist für mich nicht, das Unmögliche wahr werden zu lassen, sondern erst einmal einen Zustand herzustellen, dass die Person ihre Möglichkeiten erkennt und auch umsetzen kann und das möglichst selbstständig.

Kannst du dich gut abgrenzen?

Gerdes-Kopal: Ich kann mich tatsächlich sehr gut abgrenzen. Es bereitet mir manchmal Unbehagen, wenn die Klient*innen richtig wenig Glück im Leben haben und wenn ich merke, was es ausmacht, wenn sie an manchen Punkten eine falsche Entscheidung getroffen haben. Die Konsequenzen wirken teilweise noch Jahre später.

Hast du ein Beispiel für uns?

Gerdes-Kopal: Zum Beispiel bei den drogeninduzierten Psychosen. Das sind teilweise Leute, die haben sich mit 18 bis 21 Jahren LSD reingezogen und sitzen jetzt mit 35 vor dir und werden sehr wahrscheinlich nicht mehr gesund werden. Wer hat nicht schon einmal eine schlechte Entscheidung getroffen und dachte, das ist eine ganz tolle Idee?

Mit welchen Institutionen arbeitet ihr zusammen?

Gerdes-Kopal: Der größte Kooperationspartner sind die Ämter. Das ist schon eine Herausforderung, da wir verschiedene Ziele, Arbeitsmethoden und Arbeitsaufträge haben. Wenn ich zum Beispiel einen Antrag für unsere Hilfen schreibe und abschicke und wochenlang nichts höre, dann liegt es zum einen daran, dass gerade eine wahnsinnige Überlastung in den Ämtern vorherrscht. Zum anderen liegt es daran, dass es so etwas gibt, wie eine Verfahrensanweisung, eine gesetzliche Grundlage und eine Anspruchsprüfung. In meinem Bereich geht es darum, sehr schnell in einer existentiellen Notlage Unterstützung zu leisten. Das widerspricht natürlich dem, wie die Behördenstruktur aufgebaut ist. Uns bleibt dann nichts Anderes übrig, als alle Arten von Kommunikationswegen zu nutzen.

Welche Unterstützung erhältst du von deinem Arbeitgeber?

Gerdes-Kopal: Insgesamt ist es so, dass die Leistungsteams in einem gemeinsamen Büro sitzen. Wir haben regelmäßig Supervision und Teamsitzungen, bei denen wir über unsere Fälle sprechen. Wir tauschen uns bei Tür-und-Angel-Gesprächen aus, trinken Kaffee zusammen und erzählen uns, wie das Wochenende war.

Mir ist noch eine Sache eingefallen, die ich als herausfordernd wahrnehme. Es ist der Trend zur Optimierung der Self Care, dass man immer besser darin werden muss, auf sich aufzupassen.

Würdest du sagen, Self Care ist per se eine erwartete Haltung in der Gesellschaft oder im Speziellen von deinem Arbeitgeber?

Gerdes-Kopal: Ich glaube, dass es gerade gesellschaftlich total angesehen ist, Self Care zu betreiben. Aber wir bewegen uns alle in unterschiedlichen Strukturen und manchmal ist es ganz natürlich, dass wir über unsere Grenzen gehen. Self Care ist keine Privatangelegenheit, um die man sich kümmern muss, sondern es sollte immer ein strukturelles Anliegen sein, das im Kolleg*innenkreis vertreten wird.

Wo siehst du weitere Herausforderungen?

Gerdes-Kopal: Manchmal muss ich bei Personen, deren Handlungen ich schwer nachvollziehen kann, die zum Beispiel eine andere Person verletzt haben, einen akzeptierenden Ansatz finden. Darauf bereitet dich im Studium keiner vor. Wie sind deine eigenen moralischen Grundsätze und wie gehst du damit um, wenn jemand dagegen verstößt? Wie oft wurde sich bereits vor mir persönlich über andere rassistisch geäußert. Dann kann ich sagen, ich will das nicht und im Notfall muss die Person mein Büro verlassen, doch das heißt nicht, dass ich nicht mit ihr arbeiten muss.

Was gibt dir deine Arbeit?

Gerdes-Kopal: Wir haben im Team damit angefangen, mit eigenen Maßstäben Erfolge zu messen. Also nicht von außen vorgegebene Meilensteine zu erreichen, sondern zu sagen: da kam jemand drei Mal hintereinander zum Termin pünktlich. Mir gibt es im Beruf etwas, wenn ich bei Klient*innen eine Entwicklung in eine gute Richtung sehe und wenn ich es schaffe, tragfähige Bindungen zu Personen aufzubauen, die vorher keine vertrauensvollen Begegnungen und Beziehungen hatten. Wenn sich daraus ergibt, dass die Person anschließend auch zu anderen Beziehungen aufbauen kann, dann umso besser.

Wie sehen deine Wünsche aus?

Gerdes-Kopal: Es sollte wesentlich unbürokratischer möglich sein, Unterstützung für Klient*innen zu bekommen. Es würde uns allen das Leben erleichtern, wenn Strukturen vereinfacht werden und es in Ordnung wäre, wenn noch nicht alle Unterlagen vorhanden sind und man trotzdem schon in Vorleistung gehen kann. Ich bin gerne bereit dabei mitzuarbeiten, vereinfachte Verfahren zu entwickeln. Ich arbeite auch super gerne in multiprofessionellen Teams mit Psycholog*innen und Heilerziehenden zusammen und mit Personen, die aus einem ganz anderen Bereich kommen. Das öffnet den Blick.

Siehst du Möglichkeiten, wie dein Träger mehr Einfluss auf die Gestaltung deines Arbeitsfeldes nehmen kann?

Gerdes-Kopal: Ich persönlich glaube, dass die Einflussnahme von Trägern im Allgemeinen begrenzt ist. Es werden für Projekte in der Regel Ausschreibungen gemacht und der Anbieter, der am niedrigsten ansetzt, gewinnt meistens. Natürlich müssen sich in Tarifverhandlungen soziale Träger mehr mit einbringen. Nur davon, dass wir Gutes tun, können wir nicht die Miete bezahlen und auch uns was Gutes tun.  

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46