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bbz 10 / 2018

Hohe Fallzahlen – Wenig Zeit – Großer Druck

Thora Ehlting und Sophie Klaes von der Hochschule Koblenz berichten über die Ergebnisse ihrer Studie »Berufliche Realität im Jugendamt: der Allgemeine Soziale Dienst in strukturellen Zwängen«

Kontakt mit dem Jugendamt gehört für jede Fachkraft aus Bildungs- und Erziehungseinrichtungen mittlerweile zum Alltag. »Nie erreiche ich jemanden im Jugendamt!« oder »Das Kind braucht dringend Hilfe und das Jugendamt macht nichts!« lauten gelegentlich die entnervten und wütenden Kommentare vieler Lehrer*innen und Erzieher*innen. Doch unter welchen Bedingungen arbeiten unsere Kolleg*innen im Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD)? Was genau gehört zu deren Aufgaben? Die berufliche Realität im Jugendamt kennen die Wenigsten. Kathinka Beckmann und ihr Team zeigen mit ihrer Studie ein repräsentatives Bild von Belastungen und strukturellen Zwängen im ASD. Sie stärken damit die Stimme eines Arbeitsbereichs, der täglich mit viel Verantwortung, anspruchsvollen Aufgaben und knappen Ressourcen umgehen muss.

 

Wie entstand die Idee, die Arbeitsbedingungen in Jugendämtern zu untersuchen?
Ehlting: Medial erfährt das Jugendamt häufig eher negative Aufmerksamkeit, in Fällen in denen etwas schiefgegangen ist. Es wird geurteilt und bewertet in Berichten über Versagen, über Fehler oder Schuld. Wie jedoch der reale Arbeitsalltag von Mitarbeiter*innen im ASD aussieht, wo und unter welchen Bedingungen sie arbeiten, welche Aufgaben sie haben, das wissen die Wenigsten.
Klaes: Die Idee der Studie war dann, den Mitarbeiter*innen eine Stimme zu geben. Statt weiter über sie zu sprechen, wollten wir mit ihnen sprechen. Ziel ist, die Stimme der Basis zu nutzen, um einerseits ein realistischeres Bild der Arbeit im Jugendamt öffentlich zu machen und gleichzeitig Fachkräfte zu ermutigen, über die Bedeutung ihrer Arbeit zu sprechen.

652 Fachkräfte aus 175 Jugendämtern, deutschlandweit, wurden befragt. Wie haben Sie es geschafft, die Mitarbeiter*innen zur Teilnahme an der Studie zu motivieren?
Ehlting: Mein Eindruck war, dass die Fachkräfte schnell gemerkt haben: bei dieser Studie geht es nicht darum Vorwürfe zu erheben oder Fehler zu suchen, sondern wirklich um ihre Arbeitsrealität.
Klaes: Wahrscheinlich haben sich viele Fachkräfte abgeholt gefühlt, da das Anschreiben zum Fragebogen von den Initiator*innen, dem Jugendamt Berlin-Mitte ausging. Da wurde deutlich: wir haben ein ehrliches Interesse aufzuzeigen, unter welchen Arbeitsbedingungen im ASD gearbeitet wird.

Welche Belastungen wurden am häufigsten genannt?
Ehlting: Ein massiver Teil sind die hohen Fallzahlen sowie die Dokumentationspflicht. Ein Teufelskreis für die Fachkräfte. Einerseits müssen sie zur eigenen, rechtlichen Absicherung ihrer Arbeit jeden kleinsten Schritt dokumentieren. Zum anderen steigt durch die hohen Fallzahlen der Zeitdruck dieser Dokumentationspflicht nachzukommen. Im Ergebnis fehlt es an wertvoller Zeit für den direkten Kontakt zu Eltern, Kindern und Fachkräften. Dieser aber ist dringend notwendig, um Gefahren im Sinne des Kindeswohls gut einzuschätzen und richtige Hilfen zu finden.

Gab es große Unterschiede bezüglich der Verteilung von Belastungsfaktoren zwischen den Bundesländern?
Ehlting: Nein, im Gegenteil. Es lassen sich weder Wechselbeziehungen zwischen einer hohen beziehungsweise niedrigen Belastung im ASD und den Bundesländern, Ost- im Vergleich zu Westdeutschland oder Großstädte im Vergleich zu ländlichen Regionen beobachten. Das zeigt wie individuell die einzelnen Jugendämter sind. Genauso verhält es sich auch mit der Unterschiedlichkeit der Aufgaben und Zuständigkeiten der ASD Mitarbeiter*innen. Angefangen von Sorgerechtsberatung über Obdachlosenhilfe, bis zur Beratung bedürftiger, älterer Menschen begegneten uns teilweise Aufgaben, von denen wir selbst nie ahnten, dass sie zur Arbeit eines Jugendamtes gehören.
Klaes: Die Unterschiede beginnen manchmal schon innerhalb eines einzelnen Jugendamts. Wir haben festgestellt, jedes Jugendamt hat seine eigene Struktur und unterschiedliche Ressourcen, ihre Fachkräfte auszustatten. So kann es beispielsweise vorkommen, dass ein*e Mitarbeiter*in den sozialen Brennpunktstadtteil betreut und für doppelt so viele Familien zuständig ist, wie eine Kolleg*in, die mit dem reichen Vorstadtteil weniger zu tun hat.

Kann man auf einen Zusammenhang zwischen der Haushaltslage einer Kommune und den Arbeitsbedingungen der jeweiligen Jugendämter schließen? Kann man sagen, je besser die Haushaltslage, desto geringer die Belastungen?
Klaes: Die Kassenlage macht sich laut Aussagen der Befragten vor allem bei den Entscheidungen über Hilfeanträge bemerkbar. Die Abteilung der wirtschaftlichen Jugendhilfe, also die Abteilung, die für die Finanzierung von Hilfen zuständig ist, hat nicht selten ein starkes Mitspracherecht. Das kann dazu führen, dass das Kriterium, wieviel eine Hilfemaßnahme kostet, wichtiger wird, als die Frage welchen sozialpädagogischen Sinn sie für die Hilfesuchenden hat.
Ehlting: Da wir den Befragten absolute Anonymität zugesagt haben, konnten wir letztlich die Belastungsfaktoren nicht mit den konkreten Kassenlagen der einzelnen Kommunen vergleichen. Durch die hohe Zahl an Befragten konnten wir dennoch einige Rückschlüsse auf die Auswirkungen der kommunalen Haushaltslage ziehen. Viele Fachkräfte berichteten: wenn sie eine Hilfemaßnahme gut begründen können, bekommen sie sie auch genehmigt. Seine Entscheidung gut zu begründen ist für mich grundsätzlich eine Voraussetzung für professionelles Arbeiten. Ein kritischer Blick ist meines Erachtens jedoch in Fällen notwendig, in denen die ASD Fachkraft nicht die letzte Entscheidungsbefugnis hat. Wenn ein*e Bürgermeister*in oder die Abteilung der wirtschaftlichen Jugendhilfe eine Einrichtung ablehnen, weil sie »zu teuer« ist, obwohl der*die fallführende Mitarbeiter*in im ASD diese Einrichtung für fachlich passend oder gar notwendig hält, entsteht ein Dilemma für die Fachkraft. Von ihr wird dann erwartet eine Maßnahme zu verantworten, die sie im schlimmsten Fall aus fachlicher Sicht als verantwortungslos einschätzt. Ganz davon abgesehen wird das gesetzliche Mitspracherecht der Eltern und Kinder, die Hilfe suchen, untergraben.

Ist abzusehen wie sich die Arbeit im ASD unter den jetzigen Belastungen entwickeln wird, sollten sich die Arbeitsbedingungen nicht verbessern?
Klaes: Ich denke, dass sich der Teufelskreis aus hoher Fluktuation und höherer Arbeitsbelastung immer schneller drehen wird, wenn sich nichts verbessert. Ich fürchte, so lange sich an der Art der Finanzierung von Kinder- und Jugendhilfe nichts ändert, bekommen wirtschaftliche Kriterien bei Entscheidungen über Hilfeanträge, aufgrund leerer Kassen in den Kommunen, ein noch stärkeres Gewicht. Der Mensch ist aber keine Ware und ein Hilfebedarf wird immer individuell sein. Die fachlichen Kriterien Sozialer Arbeit dürfen nicht weiter an Einfluss verlieren.
Ehlting: Ich sehe den Kinderschutz bedroht, wenn es immer mehr an erfahrenen und gut qualifizierten Fachkräften fehlt. Fehlt es zudem an ausreichend Zeit für Gespräche und Kontakt zu den Familien, könnten sich Fehler in der Gefahreneinschätzung häufen. Wenn dann noch die knappe Haushaltslage den Druck erhöht, schneller, günstige Hilfemaßnahmen einzusetzen, die letztlich fachlich jedoch die falschen sind, müssen wir mit enormen gesellschaftlichen Folgekosten rechnen. Wenn ein hilfebedürftiges Kind heute mit passender Unterstützung einen Schulabschluss schafft, dann hat es auch eine größere Chance, sich gesellschaftlich gut zu integrieren. Wenn der ASD nicht besser ausgestattet wird, entsteht aus meiner Sicht weiter Zündstoff für die Verschärfung sozialer Probleme in unserer Gesellschaft.

Welche Aufgabe haben Gewerkschaften aus Ihrer Sicht, wollen sie die Ergebnisse der Studie ernst nehmen?
Klaes: Die Gewerkschaften sollten die ASD Mitarbeiter*innen unterstützen, ihre Stimme gegenüber den Arbeitsgebern lauter werden zu lassen, damit sich die Bedingungen wieder verbessern und die Arbeit im Jugendamt attraktiver wird. Somit könnte man der hohen Fluktuation entgegenwirken und auf allen Seiten für Entlastung sorgen. Zu den konkreten Forderungen sollte auch eine einheitliche Fallzahlbegrenzung zur Qualitätssicherung der Arbeit gehören.
Ehlting: Es ist bundesweit gesetzlich geregelt, was zu den Aufgaben im ASD laut Kinder- und Jugendhilfegesetzt (KJHG) gehört, jedoch gibt es bei der Bezahlung der Fachkräfte nach wie vor große Unterschiede. Aus meiner Sicht müssten sich die Gewerkschaften für eine einheitliche und gerechte Bezahlung der Fachkräfte einsetzen. Aufgrund der hohen Verantwortung, beispielsweise wenn es um Sicherung des Kindeswohl geht, dürfte es auch mehr als die Entgeltgruppe S14 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD) beziehungsweise die Entgeltgruppe 9 im Tarifvertrag der Länder (TV-L) sein. Ebenso ist die hohe Dokumentationspflicht noch mal zu hinterfragen. Viele ASD-Mitarbeiter*innen sagten in den Interviews, sie sind nicht gegen, aber für eine sinnvollere Dokumentation.


Forschungsteam der Hochschule Koblenz:
Prof. Dr. Kathinka Beckmann, Professorin im Studiengang »Pädagogik der Frühen Kindheit«. Im Masterstudiengang »Kindheits und Sozialwissenschaften« leitet sie den Schwerpunkt »Kinderschutz &  Diagnostik«.
Thora Ehlting M.A., 20 Jahre Berufspraxis in der stationären Kinder- und Jugendhilfe sowie in der ASD-Arbeit, seit 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin im Studiengang »Bildung & Erziehung (dual)«.
Sophie Klaes M.A., 11 Jahre Berufspraxis in Kindertagesstätten, seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin im Studiengang »Pädagogik der Frühen Kindheit«.


Weiße Fahnen in Berlin
In Berlin hat die GEW BERLIN in den vergangenen Monaten gemeinsam mit der AG »Weiße Fahnen«  mehrere öffentlichkeitswirksame Aktionen organisiert. Am 26. Juni hingen wieder weiße Banner aus den Jugendämtern mit der Aufschrift »S.O.S. – ES REICHT!«. Die Kolleg*innen fordern mit dieser Aktion, dass sich die Zustände in den Regionalen Sozialen Diensten endlich verbessern müssen. Wichtige Entscheidungsträger*innen wie Jugendsenatorin Scheeres, Finanzsenator Kollatz und die Bezirksbürgermeister*innen sind aufgefordert zu handeln. Am 6. Juli sammelten sich hunderte Kolleg*innen aus den Jugendämtern und legten der Senatorin und den Bezirksstadträt*innen ihre vollen Aktenordner vor die Tür. Ausstattung und Arbeitsbedingungen in den Regionalen Sozialen Diensten müssen sich verbessern! Das hin und her schieben der Verantwortung zwischen Bezirken und Senat ist lebensgefährlich! Weitere Aktionen sind noch vor Veröffentlichung dieser Ausgabe am 3. und 9. Oktober geplant.

Mehr Infos: Die Jugendhilfe muss auch helfen können