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bbz 11 / 2017

Wege aus den Willkommensklassen

Caroline Muñoz del Rio und Ralf Schiweck im Interview mit Kathrin Köhler, Martin Langer und Said Oumoussa: Welche Chancen bieten sich geflüchteten Jugendlichen nach den Willkommensklassen und welche Schwierigkeiten müssen sie überwinden? Die bbz hat drei Pädagog*innen gefragt.

bbz: Kathrin, du unterrichtest in verschiedenen Willkommensklassen am OSZ KIM. Wer unterstützt bei euch die Jugendlichen, um herauszufinden, wohin ihr Weg sie nach der Willkommensklasse führen soll?
Kathrin Köhler: Wir haben viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete in den Klassen. Die werden theoretisch von Personen unterstützt, die das Jugendamt ihnen zur Betreuung und Unterstützung zuteilt. Wir stehen im engen Austausch mit diesen Betreuer*innen und haben ihnen geraten, mit den Schüler*innen zu der neuen Schule zu gehen, um sie dort anzumelden. Für die Schüler*innen hängt viel vom Engagement dieser Person ab.

Wie wird denn der Übergang organisiert?
Kathrin: Das Elektronische Anmelde- und Leitsystem (EALS) regelt den bürokratischen Übergang von den Willkommensklassen in die Regelklassen der beruflichen Schulen. Darin müssen also erst mal alle Schüler*innen eingetragen werden. Das ist kompliziert, aber wir haben bei uns an der Schule das große Glück, dass wir eine wunderbare Sekretärin haben. Die hat das für uns Willkommenslehrkräfte übernom-men.

Was unglücklich lief, ist, dass es offensichtlich nicht genug Plätze in den BQL-Klassen gab und die Rückmeldung über die Annahme beziehungsweise Ablehnung erst wenige Tage vor Schulende kam. Da stürzten dann plötzlich einige Schüler*innen aufgeregt zu mir, weil sie nicht wussten, was sie machen sollten, wenn sie keinen Schulplatz hatten. Am Ende waren sie alle versorgt, aber das war ein ziemlicher Kampf. In den letzten Tagen vor den Sommerferien war ich eigentlich nur noch am Telefonieren.

Das Problem war ja auch, dass sie dann erst mal sechs Wochen aus dem System rausgefallen wären. Das ist einem gar nicht klar, was da alles dranhängt. Sie verlieren ihren Schüler*innen-Status. Das hat beispielsweise Auswirkungen auf den Bezug von Kindergeld und so weiter.

Woher wissen die Jugendlichen, an welcher Schule sie sich anmelden sollen? Jedes Oberstufenzentrum hat ja einen beruflichen Schwerpunkt. Und gibt es schon so etwas wie Berufsorientierung für die Jugendlichen in den Willkommensklassen?
Kathrin: Es hätte eigentlich eine Berufsorientierung durch eine Dame von der Jugendberufsagentur (JBA) geben sollen. Sie war einmal da, total kompetent. Ich war begeistert von dem Überblick, den die Frau hatte. Es war geplant, dass sie eine Präsentation hält; über die vielen verschiedenen Entwicklungswege, die es gibt, wie die Schüler*innen dahinkommen, wohin sie wollen. Das ist so komplex. Es sind auch viele freie Träger involviert. Sie hat uns vier Mal sitzen lassen und immer erst ganz kurz vorher abgesagt. Das war sehr ärgerlich. Leider gab es auch keinen Ersatz.

Martin Langer: Meiner Meinung nach funktioniert es überhaupt nicht, dass die Schüler*innen dort landen, wo es für sie interessante Bildungsgänge gibt. Wie auch, Berufsorientierung hat nie stattgefunden. Das heißt, ich habe Schüler*innen in der BQL-Klasse, die nicht zufrieden sind mit unserem Praxisschwerpunkt und überhaupt keine Lust haben auf die vielen Praxisstunden, beispielsweise in der Holzwerkstatt.

Das heißt, hier fehlt offensichtlich Unterstützung zur Orientierung der Jugendlichen. Said, du berätst als Sozialarbeiter geflüchtete Jugendliche. Was genau machst du da?
Said Oumoussa: Grundsätzlich helfe ich den Schüler*innen, eine berufliche Perspektive zu entwickeln. Dabei geht es vor allem darum, zu gucken, was sie wollen. Die meisten wissen gar nicht, was auf sie zukommt. Das versuche ich, mit ihnen zu klären. Ich schaue, was sie an schulischer Vorbildung und beruflichen Erfahrungen mitbringen. Wir entwerfen einen Förderplan und überlegen, was sinnvoll ist, was für diesen jungen Menschen passt. Es hilft mir natürlich, dass ich die Berufsorientierung nicht nur auf Deutsch, sondern teilweise auch auf Arabisch machen kann.

Kathrin: Ein Problem ist, dass die Geflüchteten selbst oft noch gar nicht wissen, was sie wollen. Sie verstehen unser System auch noch nicht. Mit dem Verlassen der Willkommensklasse sollen sie die Sprachniveaustufe A2 erreicht und abgeschlossen haben. Viele denken zu Beginn, dass sei schon ein Schulabschluss. Wir klären das Missverständnis und trichtern ihnen immer wieder ein, dass sie einen Schulabschluss machen müssen. Ohne Schulabschluss geht’s nicht in Deutschland, es gibt keine oder nur wenig Jobs für Ungelernte.

Stimmt es, dass viele Jugendliche keine Ausbildung machen wollen, sondern das Abitur?
Said: Die duale Ausbildung ist bei der Zielgruppe unbekannt. Wenn ich dann aber erkläre, was das ist, und dass sie im Anschluss an diese Ausbildung auch die Möglichkeit haben, die Hochschulzugangsberechtigung zu erlangen und somit studieren können, dann verstehen sie, dass die Ausbildung hier einen hohen Stellenwert hat. Außerdem bietet ein Ausbildungsplatz ja auch eine gewisse Sicherheit wegen der Aufenthaltserlaubnis, vor allem wenn es um Mangelberufe geht.

Es gibt außerdem viele Berufe, die sie gar nicht kennen und von denen sie noch nie gehört haben. Ein Junge aus Gambia sagte mal zu mir: »Anlagenmechaniker ist zwar ein Mangelberuf, aber ›Sanitär, Heizung, Klimatechnik‹, was soll ich in Gambia damit, wenn ich irgendwann zurückgehen kann? Da brauche ich doch keine Heizung.« Er wusste nicht, dass das auch mit Lüftungs- und Klimatechnik zu tun hat. Danach war er Feuer und Flamme und super in der Praxis.

Martin: Es ist für viele dieser Jugendlichen nicht üblich, dass sie sich durch ihren Beruf verwirklichen wollen. Das gibt es in anderen Ländern oft gar nicht. Häufig haben sie bereits Berufserfahrung und suchen nun nach einer Ausbildung, die es ihnen ermöglicht, ihre Familien zu unterstützen. Wie viel Geld sie über-haupt in Deutschland brauchen, das können sie gar nicht einschätzen und deswegen ist unklar, was sich für sie lohnt. Auch deshalb ist die Berufswahl so schwer.

Said, wann betrachtest du deine Arbeit als erfolgreich?
Said: Meine Arbeit ist dann erfolgreich, wenn die Jugendlichen nach dem Absolvieren der Willkommensklasse oder der BQL eine Perspektive haben. Damit meine ich eine individuelle, auf den Einzelnen zugeschnittene Perspektive, die wir im Laufe der Zeit zusammen entwickelt haben.
Unsere Vermittlungsquoten aus der BQL-Klasse in eine Ausbildung oder weitere Bildungsgänge sind ziemlich hoch. Am Anfang war ich eher ein BQL-Gegner. Aber im Endeffekt ist das Essentielle für die Jugendlichen, dass sie viele Praxiserfahrungen machen. Hier passiert im Prinzip die Berufsorientierung.

Kathrin: Praktika sind wichtig, um bei der Orientierung zu helfen. Bei uns an der Schule haben wir leider keine Kapazitäten, das zu organisieren. Ich weiß von einigen, die ein Praktikum gemacht haben, aber da haben sich die Betreuer*innen gekümmert. Die sind dabei die Schlüsselfiguren.

Funktioniert das mit den Praktika denn überhaupt, wenn die Schüler*innen noch nicht genug Deutsch sprechen?
Martin: Das geht schon. Viele Dinge können ja auch einfach vorgemacht werden. Aber grundsätzlich ist es natürlich essentiell, dass die Schüler*innen erst einmal gut Deutsch lernen. Es gibt ein großes Problem mit dem Sprachniveau in den BQL-Klassen. Wir machen bei uns am Anfang immer erst einmal einen Test mit den Schüler*innen, weil wir gemerkt haben, dass wir uns nicht sicher sein können, dass das Sprachniveau, das für den BQL notwendig ist, wirklich vorhanden ist. Wir sollen ja B1 unterrichten und nach dem Jahr abschließen. Aber das können wir nicht immer gewährleisten, da viele Schüler*innen kein abgeschlossenes A2-Niveau haben, wenn sie bei uns ankommen.

Und wenn sie kein A2-Niveau haben, was macht ihr dann?
Martin: Wenn das Sprachniveau überhaupt nicht ausreicht, versuchen wir sie wieder in eine Willkommensklasse zu vermitteln. Meistens sind es unsere hauseigenen Willkommensklassen, in die sie dann zurückgehen. Ich finde, es macht keinen Sinn sich auf Bildungsabschlüsse zu fokussieren, wenn das Sprachniveau noch gar nicht da ist.

Mit ein bisschen gutem Willen bekommen die Jugendlichen einen Schulabschluss und dann scheitern sie in der nächsten Instanz, weil in der Berufsausbildung keine Sprachförderung mehr da ist. Da sind sie dann alleine gelassen. Das Gleiche gilt, wenn sie höhere Bildungswege anstreben und Fachabitur oder Ähnliches machen wollen. Da gibt es keine sprachbildenden Maßnahmen mehr. Deswegen ist es wichtig, dass es in der Willkommensklasse und danach in der BQL sehr gründlich läuft, dass da Fundamente gelegt werden.

Said: Das ist wirklich ein grundlegendes Problem für diese Jugendlichen. Sie brauchen eigentlich immer weiter Sprachförderung, nicht nur in der Willkommensklasse, sondern auch später in der BQL, in der IBA und schließlich in der Berufsschule. Berlin reagiert, wie so oft, verspätet. Wir haben ja bereits jetzt Jugendliche in der Berufsschule, die mit der Fachsprache konfrontiert und alleine gelassen werden.

Das Essentielle ist also einerseits, dass der anfängliche Sprachunterricht gut läuft, andererseits plädiert ihr dafür, dass es auch danach in den BQL-Klassen oder in der Ausbildung noch eine begleitende Sprachförderung geben muss.
Martin: Genau. Allerdings reicht auch das nicht. Ich glaube, dass es wichtig und sinnvoll wäre, auch Sozialpädagog*innen an die Betriebe anzudocken. Damit auch für die Auszubildenden noch Unterstützung da ist. Viele von unseren Auszubildenden, die erst seit kurzem in Deutschland sind, haben keinen Status, um in Deutschland zu bleiben. Sie leben zum Teil unter sehr schwierigen Wohnsituationen, beispielsweise in einer Mehrbettunterbringung in kleinen Wohnheimen. Das ist für eine Ausbildung eine Katastrophe. Drei Leute, die zu unterschiedlichen Zeiten schlafen gehen und keinen Raum zum Lernen haben. Dazu kommen Anerkennungsgeschichten, die in der Schwebe sind. Und dann stellt sich die Frage: Wie wird die Ausbildung überhaupt finanziert? Bei uns in den Holzberufen reicht die Ausbildungsvergütung nicht aus, um sie zu finanzieren. Das heißt, hier muss nebenher auch Unterstützung erfolgen und das machen zwar im Normalfall die entsprechenden Behörden, aber es muss nicht sein. Es gibt viele Situationen, wo so eine Begleitung notwendig ist. Die große Frage ist natürlich, wer finanziert das?

Wenn ihr einen Wunsch hättet, der eure Arbeit voranbringen würde, wie würde der lauten?
Martin: Ich würde mir wünschen, dass Sprachbildung nicht nur für ein Jahr stattfindet, sondern begleitend. Dass das auch in der Ausbildung ein ganz großer Bestandteil wird, egal, ob es eine duale Ausbildung ist oder ob es ein weiterer Schulabschluss ist bis zur Prüfung. Wir machen in der dualen Ausbildung die Erfahrung, dass die Schüler*innen die Abschlussprüfung nicht schaffen. Sie sind teilweise begabt und erreichen gute Noten in der Schule. Aber sie scheitern an der Sprachhürde der komplexen Aufgabenstellungen. Außerdem bin ich nicht glücklich damit, dass die Klassen so separiert sind in den Schulen. Es gibt keinen Raum für Integration, die dringend notwendig wäre. Das Miteinander, das Zusammenkommen müsste unterstützt werden.

Kathrin: Das sehe ich genauso. Diese Separation ist schrecklich. Es wäre viel günstiger, wenn die Schü-ler*innen in weniger sprachlastigen Fächern wie beispielsweise Sport, Kunst oder Musik mit den Regelschüler*innen gemeinsam unterrichtet werden würden. Außerdem würde ich mir eine Person wünschen, die sich darum kümmert, wie es mit den Jugendlichen weitergeht nach den Willkommensklassen, die die ganze Berufsorientierung und Koordination übernimmt. Eine Person, die entweder direkt an der Schule arbeitet oder regelmäßig kommt. Die könnte sich dann auch um Praktika kümmern, das kommt bei uns leider zu kurz.Said: Die Lösung liegt nicht nur in den Händen der Senatsverwaltung. Auch Betriebe, Innungen und Kammern müssen dazu beitragen. Ich würde mir wünschen, dass alle an einem Strang ziehen, um beispielsweise die Sprachförderung auf die Berufsschule auszudehnen oder der Zielgruppe einen Nachteilsausgleich für Prüfungen zu ermöglichen.


Kathrin Köhler hat Germanistik und Slawische Philologie studiert und eine Zusatzqualifikation in Deutsch als Zweitsprache absolviert. Sie arbeitet als Deutschlehrerin in verschiedenen Willkommensklassen am Oberstufenzentrum Kommunikation, Information und Medien (OSZ KIM).


Said Oumoussa ist Sozialpädagoge und arbeitet als Sozialarbeiter mit einer halben Stelle am Oberstufenzentrum Logistik, Touristik und Steuern (OSZ LOTIS) und einer halben Stelle an der Max-Taut-Schule, dem Oberstufenzentrum Gebäude, Umwelt und Technik (OSZ GUT). Er betreut und berät die geflüchteten Jugendlichen in Willkommens und BQL-Klassen.


Martin Langer unterrichtet an der Marcel-Breuer-Schule, dem Oberstufenzentrum für Holztechnik, Glastechnik und Design, als Lernfeld- und IT-Lehrer unter anderem in einer BQL-Klasse, die ausschließlich aus geflüchteten Schüler*innen besteht.


BQL: Berufsqualifizierender Lehrgang

Ziel: Grundlagen für Ausbildung schaffen, Berufsbildungsreife oder erweiterte Berufsbildungsreife erlangen, Sprachstand B1 erreichen.
Zielgruppe: Schüler*innen, die nach zehn Jahren Schulbesuch nur die Berufsbildungsreife oder gar keinen Schulabschluss erreicht haben sowie Geflüchtete mit einem abgeschlossenen A2 Sprachstand.


IBA: Integrierte Berufsausbildungsvorbereitung

Individuelle Ziele: Berufsorientierung; Zugang zu einer Ausbildung auch ohne Abschluss, Berufsbildungsreife, erweiterte Berufsbildungsreife oder MSA; Sprachniveau B2.
Zielgruppe: Schüler*innen, die nach zehn Jahren Schulbesuch höchstens den MSA erreicht haben sowie Geflüchtete mit einem B1 Sprachniveau.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Wege finden“ [zur gesamten Ausgabe]