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blz 07 - 08 / 2015

Mein Kopf gehört mir

Zur aktuellen Kopftuch-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Ein Plädoyer gegen Diskriminierung und für die Anerkennung der Chance, die kopftuchtragende Frauen als Lehrkräfte für unsere Gesellschaft sein können.

Vor vielen Jahren, während meines Studiums, kam eine Kommilitonin auf mich zu und grüßte mich. Ich erkannte sie zunächst nicht. Sie fiel auf, denn sie war die einzige Frau mit Kopftuch im Vorlesungssaal. Es handelte sich um Nilgün, eine Mitschülerin, die ich seit dem Abitur nicht mehr gesehen hatte. Ich erinnerte mich an ihr lockiges Haar, das sie zu Schulzeiten stets offen trug. Nach kurzem Plaudern fragte ich sie, ob sie geheiratet habe. Sie sagte, sie sei leider noch immer Single. Ich merkte plötzlich meine Erleichterung darüber, dass sie mein Vorurteil nicht registriert zu haben schien. Denn ich war selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihre Verschleierung mit einem Mann zu tun haben muss. Dabei hatte sie sich, wie im weiteren Gesprächsverlauf deutlich wurde, bewusst und aus freien Stücken dafür entschieden.

Dann erzählte Nilgün von ihren Erlebnissen im Lehramtsstudium. Zum Beispiel von der Lehrerin, die während ihres Praktikums vor der Klasse an ihrem Kopftuch zog und meinte, sie solle »den Lappen« doch lieber ausziehen. Oder dem Professor, der ihr sagte, mit dem Kopftuch könne sie hier »bei uns« nichts werden.

Das Kopftuch als Projektionsfläche für antimuslimische Gefühle

Geschichten wie diese muten extrem an, sie gehören aber zu den Alltagserfahrungen kopftuchtragender Frauen in Deutschland. Dies belegen zahlreiche Untersuchun-gen, wie zuletzt die Studie »Stigma Kopftuch« des Soziologen Florian Kreutzer. Den Frauen werden Rückständigkeit und Fundamentalismus unterstellt, sie gelten als unterdrückt und gefährlich zugleich.

Thilo Sarrazin urteilt in seinem antimuslimischen Beststeller »Deutschland schafft sich ab« über das Kopftuch: »Das Tragen des Kopftuchs drückt niemals nur Religiosität aus (...), sondern den Wunsch, sich von den ›Ungläubigen‹ auch optisch abzugrenzen. Das Kopftuch bedeutet gleichzeitig die Akzeptanz der Unterordnung der Frau unter den Mann, das heißt Ablehnung der Emanzipation der Frau nach abendländischem Muster«. Diese Vorstellung ist weit verbreitet. Ihr liegen zahlreiche Annahmen zugrunde, die es zu hinterfragen gilt. Gibt es wirklich die eine Interpretation des Kopftuchs? Alice Schwarzer brandmarkt das Kopftuch als »Flagge des Islamismus« und setzt damit alle Kopftuchträgerinnen pauschal dem Extremismusverdacht aus. Woher nehmen sich eigentlich Männer wie Sarrazin oder auch Frauenrechtlerinnen wie sie das Recht, den Kopftuchträgerinnen zu erklären, sie seien unemanzipiert? Diese entmündigende Zuschreibung ist bestenfalls paternalistisch, häufig ist sie einfach Ausdruck eines Ressentiments, das sich am Kopftuch entzündet, aber eigentlich »die MuslimInnen« in toto meint. Denn das Kopftuch ist eine der sichtbarsten Markierungen, die eine Person als Muslimin ausweisen. Und dass es einen Diskurs gibt, der diese Gruppe als unintegrierbare Minderheit stigmatisiert und ausgrenzt, wissen wir nicht erst seit Sarrazin oder »Pegida«.

Sichtbare Religiosität im säkularen Staat

Man muss aber kein erklärter Islamfeind sein, um mit der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das ein generelles Kopftuchverbot für Lehrkräfte als verfassungswidrig einstuft, zu hadern. Für religionsferne Menschen ist es mitunter schwer nachvollziehbar, dass Religion eine sinnstiftende Kraftquelle und ein wichtiger Aspekt der eigenen Identität sein kann. Niemand wird nach einem Blick in Geschichte und Gegenwart zudem bestreiten können, dass Religion auch mit Repression einhergehen kann. Dies gilt auch für das Kopftuch, denn schließlich gibt es Mädchen, die subtil oder offen zum Tragen eines solchen gedrängt werden. Ist es da nicht nur folgerichtig, wenn man die Schule von sichtbarer Religiosität freihalten will, um Konflikte zu vermeiden?

Im Gegensatz zu anderen Bundesländern, die das Christentum privilegieren, zielt Berlin mit seinem Neutralitätsgesetz theoretisch auf alle Religionen gleichermaßen ab. Aus der Diskriminierungsforschung wissen wir jedoch, dass Regeln, die für alle gelten, sich dennoch für bestimmte Gruppen benachteiligend auswirken können. Man spricht dann von mittelbarer Diskriminierung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich nämlich, dass das säkulare Religionsverständnis, das Religion als Privatsache begreift, der man innerhalb der eigenen vier Wände nachgeht, keineswegs »neutral« ist. Es orientiert sich am Christentum, oder präziser dem Protestantismus, und dem dort vorherrschenden Verständnis von Religion als innerem Glauben. Für Religionen wie den Islam oder auch das Judentum, in denen eine an Handlungen ausgerichtete Religionspraxis – wie das Einhalten von Speisegeboten, das ritualisierte Gebet oder auch eine bestimmte Form der Kleidung – wesentlich ist, kann ein solches Religionsverständnis ausgrenzende Effekte haben.

Das Kopftuchverbot als faktisches Berufsverbot

Verkannt wird zudem die Strahlkraft, die das Kopftuchverbot in Teilen des öffentlichen Dienstes auch auf andere Sektoren des Arbeitsmarktes hat. Viele ArbeitgeberInnen lehnen Bewerberinnen allein aufgrund ihres Kopftuchs ab und wähnen sich dabei auf der sicheren Seite. Denn wenn der Staat diese Frauen nicht einstellen will, warum sollten sie das dann tun? Hier wird deutlich, dass auch das Argument, wonach es Frauen gibt, die zum Kopftuchtragen gezwungen werden, bei näherem Hinsehen als Begründung für Kopftuchverbote nicht standhält: Denn welcher Frau wäre ernsthaft damit geholfen, wenn zu ihrer Unterdrückung durch den Ehemann oder Vater auch noch ein Berufsverbot und damit die totale finanzielle Abhängigkeit hinzukommt?

Ganz gleich, ob dies für Außenstehende nachvollziehbar ist oder nicht, gibt es zudem Frauen, die aus den unterschiedlichsten Gründen ein Kopftuch tragen wollen und sich dazu auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit berufen. Sie erleben es als gewaltvoll und demütigend, wenn man sie dazu zwingt, es abzulegen. Ihnen vorurteilsfrei zu begegnen, sie als Individuen ernst zu nehmen und nicht durch die Brille stereotyper Zuschreibungen zu betrachten, ist daher weniger eine Positionierung für das Kopftuch als vielmehr eine Entscheidung gegen Diskriminierung.

Wertschätzung religiöser Vielfalt in einer bunten Gesellschaft

Vielversprechender als die Religion wegen ihres Konfliktpotentials aus der Schule heraus halten zu wollen, scheint ein Ansatz zu sein, der einen kompetenten Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt ermöglicht, die unsere Gesellschaft prägt. SchülerInnen müssen einerseits darin gestärkt werden, Verschiedenheit auszuhalten, und andererseits von ihrer positiven wie negativen Religionsfreiheit, also dem Recht, nicht zu glauben, Gebrauch zu machen. Diese endet jeweils da, wo sie die Rechte anderer einschränkt. Eine Missionierung oder Manipulation durch kopftuchtragende Lehrerinnen ist genauso zurückzuweisen wie durch alle anderen Lehrkräfte auch. Davon auszugehen, dass man MuslimInnen hierbei grundsätzlich mit mehr Misstrauen begegnen sollte als ChristInnen oder AtheistInnen, ist nicht nur naiv, sondern zutiefst diskriminierend.

Was aus Nilgün geworden ist, weiß ich nicht, wir haben keinen Kontakt gehalten. Sie dürfte sich über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gefreut haben. Auch zu meiner Schulzeit im Westberlin der 1980er und 90er Jahre arbeiteten übrigens schon Frauen mit Kopftuch in den Schulen, ohne dass sich jemand daran störte – damals allerdings ausschließlich als Putzfrauen. Es stellt aus meiner Sicht einen wichtigen Schritt zur gleichberechtigten gesellschaftlichen Teil-habe dar, wenn SchülerInnen, muslimische wie nichtmuslimische, solche Frauen nicht mehr nur in marginalisierten Rollen, sondern auch als Lehrkräfte und Respektspersonen erleben. Das würde ein gesellschaftliches Klima begünstigen, in dem die Musliminnen, die ein Kopftuch tragen, nicht länger vorrangig danach beurteilt werden, was sie auf dem Kopf, sondern was sie im Kopf haben.