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blz 09 / 2015

This is not a lovesong

Wie sich die tägliche Arbeit an einer Grundschule im sozialen Brennpunkt darstellt, anhand einiger eindrucksvoller Beispiele.

Dieser Artikel will weder besonders ausgewogen, noch besonders freundlich oder unparteiisch die Situation an unserer Schule darstellen, von der wir glauben, dass sie insgesamt typisch für Grundschulen im sozialen Brennpunkt ist. Wir wissen auch, dass das Land Berlin fast pleite und der Finanzposten Bildung nicht der Allerwichtigste im ohnehin knappen Haushalt ist. Und trotzdem haben alle Kinder dieser Stadt ein Recht auf Bildung, Teilhabe und das Recht, nicht diskriminiert zu werden. Diese Rechte, so glauben wir, hat die Schule zu garantieren. Warum wir diese gefährdet sehen, wollen wir beschreiben.

Gnadenlose Selbstausbeutung

Frau B. bereitet ab 7.15 Uhr noch die letzten Materialien für ihren Deutschunterricht vor. In ihrer JüL-Klasse sitzen 23 Kinder der Klassenstufen eins bis drei, davon zwei VerweilerInnen, ein Kind mit Förderbedarf geistige Entwicklung, zwei entwicklungsverzögerte Kinder, eines mit einer Lern- und Körperbehinderung sowie ein erst kürzlich nach Deutschland zugezogenes Kind mit sehr geringem Wortschatz. Unterricht in Deutsch und Mathematik findet überwiegend anhand individualisierter Arbeitspläne statt, es gibt zehn verschiedene. Frau B. unterrichtet 21 Stunden in der Woche. Abends sitzt sie oft bis 18 Uhr, um den Unterricht nach- und vorzubereiten. Dazu kommt das Mitwirken in AGs, Konferenzen, Eltern-versammlungen oder Dienstbesprechungen. Das macht noch einmal eine Vielzahl von Stunden im Monat, die sie für das gute Gelingen in die Schule einbringt.

Später am Nachmittag telefoniert Frau B. häufig mit Eltern, etwa um Absprachen zu treffen oder Elternbriefe für die vier Eltern vorzulesen, die nicht lesen oder kein Deutsch sprechen können. Für ihre vielfältigen Tätigkeiten erhält sie eine Ermäßigungsstunde in der Woche. Die Eltern der Klasse von Frau B. finden, dass sie eine tolle Arbeit macht. Das Geheimnis dieser tollen Arbeit heißt: gnadenlose Selbstausbeutung.

Auch LehrerInnen sind mal krank

Frau G. ist Sonderpädagogin und steht um viertel vor Acht vor dem Vertretungsplan. Eigentlich hat sie heute eine Stunde Fachunterricht, zwei Stunden in Temporären Lerngruppen und in drei Stunden ist sie zur Unterstützung mit LehrerInnen zu zweit in einer Klasse eingesetzt. Von den fünf Stunden, in denen sie SchülerInnen spezifisch fördern soll, können heute sogar drei stattfinden. In den beiden anderen muss Frau G. vertreten. Das wird wohl auch morgen und übermorgen so sein, denn es werden an unserer Schule mehr als ein Viertel der Stunden der SonderpädagogInnen zur Vertretung von Klassenunterricht genutzt. Und das, obwohl die sonderpädagogische Förderung eine hohe Priorität hat und zur Vertretung zuerst die DaZ (Deutsch als Zweitsprache) und Mehrarbeitsstunden genutzt werden. Dass einige Klassen bislang wenig bis gar keine DaZ-Förderung erlebt haben, ergibt sich zwangsläufig daraus. Moment, sagt da der Senat: Ihr habt eine 100,5-Prozent-Ausstattung an LehrerInnenstunden, Ihr seid damit doch sogar überausgestattet! Achtung, wir lüften ein Geheimnis: Auch LehrerInnen sind manchmal krank oder gehen auf eine Fortbildung.

Sechs Stunden für die Vorbereitung

Die Deutschklassenarbeit beginnt kurz nach acht Uhr. Herr W. verteilt eine siebenfach differenzierte Arbeit an die SchülerInnen der Klasse 4-6. Herr W. hat sechs Stunden daran gesessen, denn die Ergebnisse der Arbeit sollen sowohl Vergleichbarkeit als auch das Abbilden des individuellen Lernzuwachses ermöglichen. Den Termin der Arbeit musste er schon zweimal verschieben: Die Kollegin, die ihn wäh-rend der Deutschstunde unterstützen soll, wurde zur Vertretung abgezogen. In Herrn W.s Deutschklasse lernt ein Mädchen mit dem Förderschwerpunkt Lernen, ein Schüler hat eine diagnostizierte Lese--Recht-schreib-Schwäche, ein anderer vermutlich eine Wahrnehmungsstörung. Ohne Unterstützung eine Deutscharbeit zu schreiben, ist für alle eine Herausforderung.

SchulhelferInnen gibt es nicht

Wenn der siebenjährige B. um vier vor Acht in seine Klasse kommt, wartet schon eine UnterstützerIn auf ihn. Denn B. schafft es nicht ohne eine erwachsene Person an seiner Seite durch den Schultag. Er rennt aus der Klasse, läuft durchs Schulhaus oder lehnt sich über das offene Geländer im 2. Stock. B. singt und ruft laut im Unterricht und hört auch nicht auf, wenn ihn andere darum bitten. Manchmal geht er unvermittelt auf andere zu und bedroht, schlägt oder tritt sie. B. bräuchte bis zum Ende seines auf vier Stunden verkürzten Unterrichts eine SchulhelferIn. Die gibt es in Berlin aber für pädagogische und erzieherische Unterstützung nicht.

Wer unterstützt B. also? Die Sozialarbeiterin, die stattdessen keine Elternarbeit und Einzelförderung machen kann, LehrerInnen, deren DaZ-Förderung dafür ausfällt, sowie eine FSJ-lerIn (Freiwilliges Soziales Jahr), die mit viel Herz diese herausfordernde Aufgabe ohne jedwede Ausbildung meistert. Nur durch diese, vom Senat nicht vorgesehene, aber von der Schule unbürokratisch organisierte Unterstützung kann B. lernen, sich in das Schulleben langsam einzugewöhnen. Und sie ermöglicht auch den anderen 24 Kindern ein halbwegs ungestörtes Lernen.

Die Stunden werden schon lange nicht mehr aufgeschrieben

12.50 Uhr – eigentlich wäre jetzt Musik-unterricht in der Klasse von Frau Y. Der fällt aber seit September aus, weil die zuständige schwangere Lehrerin ein Beschäftigungsverbot erhalten hat. Diese Lehrkraft war auch für den Deutschunterricht verantwortlich. Stunden, die über Wochen vertreten wurden, indem man die Lehrkräfte aus der DaZ-Förderung abzog oder diese ganz ausfielen. Frau Y. fragt sich, wer nun die Klassenarbeiten konzipiert und die Noten vergeben wird. Also nimmt Frau Y. das Ganze selbst in die Hand. Jetzt unterrichtet sie auch in den Mathe- und NaWi-Stunden Deutsch. Nach mehreren Wochen findet sich glücklicherweise jemand für Deutsch. Musik bleibt weiterhin gestrichen. Zu Beginn des zweiten Halbjahres wiederholt sich das Szenario. Diesmal erhält die Englischlehrerin ein Beschäftigungsverbot. Frau Y. hat aufgehört, die ausfallenden Stunden aufzuschreiben. Sie hat nicht aufgehört zu hoffen, dass es irgendwann eine angemessene Lehrkräfteausstattung geben wird.

Arbeit für zwei

Um 13.40 Uhr holt die Erzieherin Frau C. die Kinder ab, um mit ihnen zum Hort zu laufen. Die Kleinen dürfen das noch nicht allein, da sich der Hort außerhalb des Schulgeländes befindet. Den Weg ist sie heute schon einmal gelaufen und wird ihn nochmals gehen, denn einige Kinder besuchen noch eine AG in der Schule. Am Vormittag war Frau C. schon zur Unterstützung in mehreren Klassen, hat Spiel- und Bastelangebote in Betreuungsstunden gemacht und größere SchülerInnen in den VHG-Räumen betreut. Das klingt nicht nur nach einer Arbeit für 1,5-2 ErzieherInnen – es ist auch eine. Denn mitunter sind ErzieherInnen auch mal krank. Die verbleibenden KollegInnen machen diese Arbeit mit.

Außer den oben beschriebenen, besuchen noch über 400 andere Kinder unsere Schule. Viele von ihnen benötigen spezifische Aufgaben, Förderkurse, Nachteilsausgleiche, Gespräche mit ihren Familien oder einfach einmal ein vertrauliches Gespräch. Außer den beschriebenen KollegInnen arbeiten mehr als 40 andere Erwachsene an der Schule. Alle machen ihre Arbeit so gut sie können. Und fast alle fühlen sich überfordert. Wir sind eine vergleichsweise gut ausgestattete Schule, viele würden von »paradiesischen Zuständen« für eine Schule im sozialen Brennpunkt sprechen. Doch wir erleben eine Schule, in der angemessene pädagogische Arbeit mit den Kindern nur durch Erwachsene sichergestellt werden kann, die durch Selbstausbeutung zielstrebig aufs Burn-out zuarbeiten. Oder die sagen müssen: »Ich sehe, dass dies und das gemacht, diesem Kind geholfen oder die Schule an dieser Stelle weiterentwickelt werden muss.

Nicht, um das Optimum zu erreichen, sondern nur um das Selbstverständliche sicherzustellen: das Recht auf Bildung, Teilhabe und Diskriminierungsfreiheit. Aber das schaffe ich mit meiner Arbeitskraft einfach nicht.« – »Ich muss meine Stunden reduzieren, an einer anderen Schule arbeiten oder mich mit meinem Engagement nur auf meine Klasse beschränken«, so lauten oft die Konsequenzen. Aufgabe einer verantwortlichen Bildungspolitik ist es, uns nicht vor diese Wahl zu stellen.