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bbz 03 / 2016

Per SMS am Sonntagmorgen

Die türkische Regierung führt Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Die Nachricht kam per SMS an einem Sonntag: Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen in Cizîr und Silopi wurden Mitte Dezember vom türkischen Bildungsministerium dazu aufgefordert, unverzüglich in ihre Heimatstädte zurückzukehren, angeblich um an einer Weiterbildungsmaßnahme teilzunehmen. Zwei Tage später herrschte Krieg in den beiden Städten im Südosten der Türkei, die mehrheitlich von KurdInnen bewohnt werden. Der Konflikt um die Rechte der KurdInnen in der Türkei, der bereits in den neunziger Jahren Zehntausende Todesopfer gefordert und Hunderttausende Menschen zu Vertriebenen im eigenen Land gemacht hatte, war mit voller Wucht neu entbrannt.

LehrerInnen an öffentlichen Schulen der Türkei sind BeamtInnen der Zentralregierung und werden oft fern ihrer Heimat eingesetzt. Die Nachricht des Bildungsministeriums löste bei vielen Lehrkräften in Cizîr und Silopi Panik aus. Hunderte packten in aller Eile ihre Koffer und verließen fluchtartig die beiden Städte. Reisebusse aus Cizîr und Silopi waren komplett ausgebucht. Einige LehrerInnen, die keine Busfahrkarte mehr erhalten hatten, versuchten sogar per Autostopp wegzukommen. Ihnen war nicht entgangen, dass in den Tagen zuvor ein massives Aufgebot an Armee- und Polizeikräften mit Panzern und schweren Waffen in die Region verlegt worden war und eine gewaltsame Auseinandersetzung drohte.
Ein Aufstand kurdischer Jugendlicher

Seit die islamistische AKP-Regierung im Juli 2015 nach einem mehrjährigen Friedensprozess den Waffenstillstand mit der weiterhin verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK aufgekündigt hat, dreht sich die Spirale der Gewalt im Südosten der Türkei immer schneller. Von einem Aufstand kurdischer Jugendlicher ohne Arbeit und Perspektive, die in den Städten Barrikaden bauen und Gräben ausheben, um sich so vor den türkischen Sicherheitskräften zu schützen, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung. In der Mehrzahl handelt es sich dabei um Kinder von in den neunziger Jahren in großer Zahl in die Städte geflohenen KurdInnen, deren Dörfer von der türkischen Armee im Kampf gegen die PKK zerstört worden waren. Die EinwohnerInnenzahl von Cizîr wuchs seitdem von ehemals 40.000 auf heute etwa 250.000 an.

Mit Ausgangssperren und Massenverhaftungen versucht die türkische Regierung, dem Widerstand in den kurdischen Regionen zu begegnen. Mehr als 3.000 Personen, darunter gewählte BürgermeisterInnen und GewerkschaftsvertreterInnen, wurden bisher verhaftet. Die Bevölkerung in den betroffenen Städten darf während der Ausgangssperren ihre Wohnungen nicht verlassen und muss teilweise wochenlang ohne Strom, Wasser und Nahrung ausharren, während Polizei- und Spezialkräfte systematisch die Häuser nach Verdächtigen durchsuchen und dabei nicht zimperlich vorgehen. Nach Angaben der türkischen Regierung, die angekündigt hat, die PKK diesmal auslöschen zu wollen, wurden bei Razzien in den verschiedenen Städten mehrere Hundert Aufständische getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisierte die Gewalt der türkischen Sicherheitskräfte als unverhältnismäßig und beklagte, dass unter den Toten und Verletzten auch zahlreiche zivile Opfer zu finden seien.

Schulen werden von Panzern beschossen

Besonders betroffen von den Kämpfen ist auch die Altstadt von Diyarbakır, kurdisch »Amed«, dessen antike Befestigungsmauern erst im Juni 2015 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurden. Mit rund 1.6 Millionen Einwohnern ist Diyarbakır die größte Stadt der kurdischen Regionen in der Türkei. Der Stadtteil Sûr war eines der Ziele der Operation hendek (zu Deutsch: Gräben), bei der die türkische Regierung Mitte Dezember mehr als 10.000 Militärs und Spezialkräfte aus dem ganzen Land gegen die KurdInnen in Stellung brachte. In Parolen an Häuserwänden bekundeten die Sicherheitskräfte ihre Verachtung gegenüber den kurdischen BewohnerInnen: »Wenn du ein Türke bist, sei stolz. Wenn nicht, gehorche.« Mit Panzern wurde auf Wohnhäuser geschossen, in denen die Armee Aufständische vermutete. Selbst Schulgebäude blie-ben nicht verschont. Nach Angaben des stellvertretenden Vorsitzenden der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen in Diyarbakır, Yıldırım Aslan, wurden bei den Kämpfen mindestens vier Schulen zerstört. Ein Großteil der BewohnerInnen hat die Altstadt von Diyarbakır inzwischen verlassen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Die Kämpfe in den kurdischen Autonomiegebieten haben eine neue Fluchtbewegung in dem Land ausgelöst, das bisher schon mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Nach Schätzungen türkischer Zeitungen sind in den vergangenen Wochen zwischen 200.000 und 300.000 Menschen vor der neuerlichen Gewalt im Krieg gegen die KurdInnen geflohen. Wer kein Auto besitzt oder keinen Platz mehr in einem Überlandbus finden konnte, geht zu Fuß. Männer, Frauen und Kinder ziehen mit ihren Habseligkeiten über Wege und Straßen auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht. Nicht wenige sind durch das unmittelbare Erleben von Tod und Gewalt traumatisiert. Und trotzdem müssen sie mithelfen, das tägliche Überleben ihrer Familien zu sichern. Ihre schulische Entwicklung wird unterbrochen, da kein Unterricht mehr stattfinden kann, wenn Schulen zu Kampfzonen werden und SchülerInnen und Lehrkräfte gezwungen sind, zu fliehen.

Wer nicht flieht, riskiert als TerroristIn erschossen zu werden

Nicht alle Lehrkräfte in den mehrheitlich von KurdInnen bewohnten Städten waren übrigens der Aufforderung des türkischen Bildungsministeriums im Dezember gefolgt, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Einige hatten sich bewusst entschieden, zu bleiben, obwohl ihnen klar war, dass sie sich damit in große Gefahr begeben. Denn wer nicht aus den umkämpften Städten flieht, riskiert, von den Sicherheitskräften als TerroristIn verdächtigt und erschossen zu werden. Serhat Uğur, Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft Eğitim Sen in Cizîr, erklärt, warum er dennoch in Cizîr geblieben ist: »Ich bin seit zehn Jahren Lehrer und habe noch nie so eine Anweisung gesehen. Es ist, als wären wir im Krieg. Sie kommen hierhin, als woll-ten sie unsere Stadt zerstören und dem Erdboden gleichmachen. Wie kann man so etwas rechtfertigen? Ich gehe nicht. Wenn ich jetzt ginge, wie könnte ich dann meinen Schülern ins Gesicht sehen, wenn ich später zurückkäme?«