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bbz 06 / 2018

Noch nicht zur Sprache gebracht

Bei der Förderung von Mehrsprachigkeit wird die Berliner Schule der Migrationsgesellschaft nicht gerecht. Dabei waren wir schon weiter. Aktuelle Initiativen lassen jedoch hoffen.

In einem Artikel der E&W aus dem Jahr 2013 verglich Jürgen Amendt die unterschiedlichen Wege der Bundesländer Hamburg und Berlin bei der Förderung der Herkunftssprache. Mehrsprachigkeit werde in der Berliner Schule nur in »Nischen« gefördert, Hamburg bemühe sich mehr, so das Fazit. Die Stärkung der Herkunftssprachen sei in Berlin politisch nicht gewollt. Ein deutliches Urteil. Stimmte das?

Die Angaben der Bildungsverwaltung, die der damalige bildungspolitische Sprecher der Grünen, Özcan Mutlu, auf seine Anfrage zum Herkunftssprachenunterricht (HU) ein Jahr zuvor erhielt, ließen keine andere Schlussfolgerung zu. Mutlu erinnerte an Forderungen von zahlreichen Wissenschaftler*innen und Migrant*innen-Verbänden nach einer »möglichst umfassenden Sprachkompetenz europäischer Bürger*innen« und »die Förderung der zahlreichen Muttersprachen von in Berlin lebenden Kindern und Jugendlichen«. Die muttersprachliche Bildung sei »ein relevanter Teil der zu entwickelnden Sprachkompetenz« und die bestehenden Möglichkeiten ergäben »ein breites und vielfältiges Angebot an muttersprachlicher Bildung für die in Berlin lebenden Kinder und Jugendlichen«, so die Antwort der Bildungsverwaltung. Tatsächlich beschränkte sich dieses »breite und vielfältige« Angebot jedoch auf die Staatlichen Europaschulen, die nur noch an fünf Grundschulen bestehende deutsch-türkische Zweisprachige Erziehung (ZwErz) und zwei internationale Schulen, zuzüglich des freiwilligen Konsulatsunterrichts, um den es vor vier Jahren noch keinen öffentlich-kritischen Diskurs gab. Angesichts einer Schüler*innenzahl von über 300.000 bot das Land Berlin in der Tat nicht mehr als eine »Nische« für muttersprachliche Bildung, die nur einer kleinen Minderheit zugutekam.

In den 80ern waren wir besser

Dabei war Berlin in Sachen Förderung von Mehrsprachigkeit und Stärkung von Herkunftssprachen bereits in den 1980er Jahren weiter. Wenn in Sitzungen des Landesausschuss für Migration, Diversity und Antidiskriminierung (LAMA) der GEW BERLIN ältere Kolleg*innen aus dieser Zeit berichten, staunen die Jüngeren. Man denke nur an fast 20 Grundschulen mit ZwErz und türkischstämmigen Lehrkräften, die nicht mehr in Fabriken arbeiten mussten, sondern ihre professionelle und herkunftssprachliche Kompetenz in Berliner Schulen zum Einsatz brachten, was den vielen geflüchteten Lehrkräften heute leider immer noch versagt bleibt – es fehlt ein Qualifizierungsprogramm für einen erleichterten Quereinstieg – oder die einjährige, intensive »Lehrerfortbildung im Ausländerbereich« (LIA), die in vielen Durchgängen mehrere hundert Lehrkräfte für ihre multikulturellen Schüler*innen fit machte. Viele Kolleg*innen lernten dabei auch fleißig Türkisch, später wahlweise Türkisch oder Polnisch und wurden unter anderem in Deutsch als Zweitsprache geschult, ein damals relativ neuer Fachterminus.

Schritt für Schritt erlebte Berlins Bildungsbereich im Laufe der 90er Jahre einen Rückfall in den monolingualen Habitus. Dieser gipfelte im neuen Jahrtausend, als die Angst geschürt wurde und zunehmend um sich griff, dass Deutschland sich langsam, aber sicher, abschaffe. Die Parole lautete fortan nur noch: Lernt Deutsch! Die Pflege der Herkunftssprachen wurde als integrationshinderlich abgelehnt. Sie wurde sogar als Ausdruck von Integrationsunwilligkeit und als symptomatisch für das Leben in vermeintlichen Parallelgesellschaften gedeutet, die es aufzubrechen galt. Es sollte Schluss sein mit Multi-Kulti, so als sei Multi-Kulti jemals mehr als nur eine nette, fast liebevolle Bezeichnung für die Realität unserer Gesellschaft gewesen, als hätte es jemals etwas wie ein Multi-Kulti-Konzept oder Multi-Kulti-Programm gegeben.

Leitet die rot-rot-grüne Regierung nun die Wende ein und rudert an neue Ufer der Einsicht mit dem Ziel, der Migrationsgesellschaft auch bildungspolitisch gerecht zu werden? Unter dem Titel »Beste Bildungschancen für mehr Teilhabe« stellt die Berliner Koalition den Bildungsbereich an den Anfang der Koalitionsvereinbarung mit dem erklärten Ziel, »allen Kindern und Jugendlichen eine Bildung zu ermöglichen, die ihre Begabungen und Potenziale ausschöpft.« Dass dies die Wertschätzung und Förderung des mehrsprachigen Potenzials miteinschließt, wird unter der Überschrift »Mehrsprachigkeit und interkulturelle Öffnung« angesichts der vielen, in Aussicht gestellten Maßnahmen deutlich. Das klingt vielversprechend und lässt erkennen, dass die bildungspolitischen Erfordernisse der Migrationsgesellschaft mental angekommen sind. Es gibt ein erfreuliches Umdenken.

Umdenken im Koalitionsvertrag

Es geht voran, zwar langsam und in kleinen Schritten, aber deutlich wahrnehmbar arbeiten Koalition und Bildungsverwaltung ernsthaft an der Umsetzung der Vereinbarungen. Auch die Fülle an schriftlichen Anfragen von Abgeordneten aller Parteien zur Lage der Förderung von Mehrsprachigkeit, zum HU- und Fremd-sprachenunterricht, zum Zugang von Bewerber*innen mit ausländischen Lehramtsabschlüssen in den Berliner Schuldienst als auch das Basiscurriculum Sprachbildung des Rahmenlehrplans für die Klassen 1 bis 10 zeugen von einem geschärften Bewusstsein für die Bedeutung durchgängiger Sprachbildung und der Förderung von Sprachbewusstheit durch Einbeziehung der Mehrsprachigkeit. Das geht in eine gute Richtung.

Auch mit dem Zentrum für Sprachbildung (ZeS) geht es voran. Dieses wird schrittweise personell und inhaltlich ausgebaut und entwickelt sich zu einer wichtigen, zentralen Anlaufstelle für Lehrkräfte in Sachen Sprachbildung. Bald kann der Beschluss, eine zweite staatliche internationale Schule in der Levetzowstraße einzurichten, in die Tat umgesetzt werden. Das Gebäude wird für die Unterbringung von Geflüchteten nicht mehr benötigt. Bilinguale Beschulung findet seit 25 Jahren auch in den Staatlichen Europaschulen Berlin (SESB) statt und Berlin darf stolz darauf sein. Die im Jahr 2017 veröffentlichten Ergebnisse der umfangreichen Evaluation durch ein Expert*innenteam dokumentieren eine Erfolgsgeschichte. Weitere SESB-Schulen sind deshalb in Planung, auch für osteuropäische Sprachen und in den damit unterversorgten Ostbezirken Berlins.

Herkunftssprachenunterricht auf dem Vormarsch

Unter staatlicher Kontrolle wird seit Februar dieses Jahres an 20 Berliner Grundschulen HU Türkisch angeboten. Ein weiteres Signal, dass der additive HU beziehungsweise muttersprachliche Ergänzungsunterricht (MEU) in Berlin nicht zur Disposition steht. Wird diese neue Alternative zum bestehenden türkischen Konsulatsunterricht von Eltern angenommen, stellt die Bildungsverwaltung den weiteren Ausbau der Maßnahme in Aussicht. An vier Weddinger Grundschulen wurden bereits im Jahr 2014 AGs für HU Arabisch eingerichtet, das Angebot soll erweitert werden. Auch der HU Kurdisch soll laut Koalitionsvereinbarung berücksichtigt werden und das ist gut so, denn mittlerweile leben schätzungsweise rund 100.000 Kurd*innen in Berlin. Ihre Anzahl hat sich in den letzten Jahren durch die Aufnahme Geflüchteter erheblich erhöht. Dem berechtigten Anliegen der Kurd*innen sollte schnellstmöglich entsprochen werden. Sie engagieren sich mittlerweile seit Jahrzehnten dafür, dass die Familiensprache ihrer Kinder mit staatlicher Unterstützung gefördert wird und bieten ihre Kooperation an.

Das Menschenrecht auf Muttersprache ist laut UNESCO ein kulturelles Menschenrecht und als solches selbstverständlich nicht abhängig von der Staatsangehörigkeit und der Existenz eines Konsulats.
Vor allem beim HU als erster oder zweiter Fremdsprache bleibt es bislang noch bei Vorhaben auf Papier. Die volle Umsetzung der Vereinbarungen im Koalitionsvertrag wird eine viel breitere Dimension herkunftssprachlicher Bildung einleiten als dies ein freiwilliger, additiver Unterricht in Form einer AG von zwei Stunden wöchentlich vermag. Sie wird deshalb von der GEW BERLIN sehr begrüßt. Für die Umsetzung bedarf es diverser Voraussetzungen, die in langwierigen Prozessen geschaffen werden, unter anderem die Einrichtung von Studiengängen für den Unterricht in Herkunftssprachen als vollwertige Lehramtsfächer. Je früher Initiativen in diese Richtung ergriffen werden, umso besser. Denn die Berliner Schule braucht mehrsprachige Pädagog*innen mit dem sogenannten Migrationshintergrund – nicht erst seit heute, aber mehr denn je.


Muttersprache – Herkunftssprache
Der Begriff Muttersprache findet in der Sprachwissenschaft immer weniger Verwendung. Für die Normalität der Mehrsprachigkeit weltweit greift er nicht. Herkunftssprache(n) beziehungsweise nicht-deutsche Herkunftssprache (ndH) ist gebräuchlich und fungiert immer noch als ein Kriterium für die  Zumessung von Stunden für Sprachförderung. Dabei lassen weder die Nationalität noch der Name valide Rückschlüsse auf die Herkunftssprache(n) zu. Familiensprache(n), inklusive familienähnliche Netze von Bezugspersonen, sagt in solchen Fällen mehr aus. Es gibt in Berlin noch keine Statistik über Familiensprachen unserer Schüler*innen. Geplant ist, mit der Einführung der Berliner Lehrer- und  Schülerdatenbank (LUSD) bis 2019 auch Daten über die Familiensprache(n) Berliner Schüler*innen zu erheben.


Erstsprache – Zweitsprache – Fremdsprache
Die Erstsprache ist die Sprache, mit der die meisten die sogenannte Muttersprache assoziieren. Dieser Terminus im Singular klammert die bilingual/mehrsprachig aufwachsenden Kinder aus, wovon es jedoch auch in Deutschland immer mehr gibt. Sie verfügen über mehrere Erstsprachen. Kinder erwerben ihre Erstsprache(n) »natürlich« von Geburt an. Moderne Fremdsprachen werden aus deutscher Sicht im Ausland gesprochen. Wird Deutsch im Ausland gelernt, so ist von DaF (Deutsch als Fremdsprache) die Rede. Deutsch als Zweitsprache (DaZ) wird im Inland erworben und kommt bei Kindern oft zeitversetzt hinzu, beispielsweise als Zweitsprache im Kindergarten. DaZ wird in Phasen mit vergleichbaren Meilensteinen analog zur Erstsprache erworben.


Dieser Artikel ist Teil des bbz-Themenschwerpunkts „Sprachakrobat*innen“  [zur gesamten Ausgabe]