Zum Inhalt springen

bbz 09 / 2016

Let’s talk about Sex … jetzt auch wieder in der Berliner Schule!

Wie das Thema Sexualerziehung bei der Überarbeitung des Berliner Rahmenlehrplanes vor dem Abdriften in die Bedeutungslosigkeit gerettet wurde.

Foto FOTOLIA / IQONCEPT

Für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen ist auch eine umfassende und altersangemessene Sexualerziehung wichtig. Was heißt das? Reicht es, wenn SchülerInnen lernen, wie die Fortpflanzungsorgane gebaut sind, wie ein Kind entsteht und wie eine Schwangerschaft verhütet werden kann?

Sexualerziehung ist eine fächerübergreifende Aufgabe

Die Antwort auf diese Frage ist NEIN! Das Berliner Schulgesetz definiert die schulische Sexualerziehung als fächerübergreifende Aufgabe. Sie soll auch die biologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen von Sexualität und Geschlecht vermitteln, um SchülerInnen zu einem verantwortlichen Handeln zu befähigen. Wer bin ich? Wer sind die anderen? Wann benachteilige ich andere auf Grund ihrer geschlechtlichen Identität oder sexuellen Orientierung? Was bedeutet eine Schwangerschaft oder die Übertragung einer sexuell übertragbaren Krankheit für mich und andere? Wie mache ich anderen meine körperlichen Grenzen klar? Wie wird unser Dasein von Geschlecht und Sexualität geprägt?

Diese Fragen berühren die eigene sexuelle und geschlechtliche Identitätsentwicklung, das Eintreten gegen Diskriminierung, den verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität und das Reflektieren der Bedeutung von Geschlecht und Sexualität. Die Teilnahme am Aufklärungsunterricht im Fach Biologie reicht zu deren Beantwortung nicht aus. Vielmehr bedarf es in allen Fächern der Thematisierung von Identität, Geschlecht, Partnerschaft und Zusammenleben, aber auch Formen von Diskriminierung wie Sexismus, Homophobie und sexueller Gewalt. Eine Riesenaufgabe, die nicht nur Zeit, sondern auch gut ausgebildete Lehrkräfte aus allen Unterrichtsfächern benötigt.

Kaum jemand kennt die Richtlinien zur Sexualerziehung

Um die Umsetzung dieser Aufgabe zu sichern, gibt es im Allgemeinen Teil des Rahmenlehrplans für Unterricht und Erziehung in der Berliner Schule die »Richtlinie zur Sexualerziehung (A V 27)«. Sie ist zuletzt 2001 überarbeitet worden. 2012 wurde im Rahmen einer Studie im Auftrag der Senatsbildungsverwaltung bekannt, dass nur ein Drittel der Berliner Lehrkräfte um die Existenz der A V 27 weiß. Nur die Hälfte von ihnen kennt auch ihren Inhalt.

Auch vor diesem Hintergrund erschien es logisch, dass die Regelungen der A V 27 Eingang in den fächerübergreifenden Teil B des neuen Rahmenlehrplans finden würden. Gleichzeitig war zu erwarten, dass es im Teil C verbindliche Verweise oder Konkretisierungen in den Vorgaben zu den einzelnen Unterrichtsfächern geben würde.

Doch genau das Gegenteil war passiert! Die Sexualerziehung hatte erheblich an Stellenwert eingebüßt. Dies ergab Anfang Februar 2015 die Analyse der Anhörungsfassung der neuen Rahmenlehrpläne für die Grundschule und die Sekundarstufe I durch die AG Schwule Lehrer in der GEW Berlin. Im Teil B dieser Fassung tauchte das Wort »Sexualerziehung« nur ein Mal auf. Bezüge in den fachspezifischen Vorgaben in Teil C waren ebenfalls an einer Hand abzuzählen. Den Entwürfen zufolge hätte sich die Sexualerziehung auf den Sachkundeunterricht und den Naturwissenschaften-Unterricht (NaWi) in der Grundschule sowie den Biologieunterricht in der Sekundarstufe I beschränkt. Sexualität als biologische Notwendigkeit mit dem Ziel der Fortpflanzung. Andere Funktionen und damit auch die Existenz von nicht-heterosexuellen Orientierungen und anderen Geschlechtsidentitäten sollten immerhin noch beiläufig erwähnt werden.

GEW verhindert den Rückschritt

Für die GEW BERLIN stand fest: Die Anhörungsfassung stellte in Bezug auf eine moderne schulische Sexualerziehung, auch im Sinne der Sexualpädagogik der Vielfalt, einen gravierenden Rückschritt dar. Deshalb forderte die GEW dringend eine Überarbeitung. Der Plan durfte keinesfalls in dieser Form in Kraft treten. Das Ziel war, die schulische Sexualerziehung als fächerübergreifende Aufgabe genau wie die Gesundheits- oder Demokratieerziehung deutlich und verbindlich im fachübergreifenden Teil B des neuen Rahmenlehrplans zu positionieren. Außerdem sollten in den fachbezogenen Teilen C verbindliche inhaltliche Bezüge zumindest auf dem Niveau der bis dato geltenden Rahmenlehrpläne dargestellt werden.

Durch den Druck der GEW Berlin und die inhaltliche Arbeit der AG Schwule Lehrer wurde zumindest das erste Ziel erreicht. In der nun amtlichen Fassung des neuen Rahmenlehrplans wurden im Teil B unter anderem »Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt (Diversity)«, »Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter« sowie »Sexualerziehung/Bildung für sexuelle Selbstbestimmung« als fächerübergreifende Aufgaben verbindlich festgelegt. Für diese Aufgaben wurden jeweils deren Bedeutung begründet, der Kompetenzerwerb beschrieben und relativ allgemeine Bezüge zu den Fächern des Teils C aufgeführt. Im fachspezifischen Teil C finden sich dann allerdings nur in den Fächern Biologie, NaWi 5/6 und Sachunterricht verbindliche Bezüge zu den drei genannten fächerübergreifenden Aufgaben. Diesen Fächern wurde ohnehin schon immer die schulische Sexualerziehung zugeschrieben. In der überwiegenden Zahl der restlichen Fächer fehlen die Bezüge völlig oder sind nur vereinzelt und fakultativ.

Was noch zu tun bleibt

In der amtlichen Fassung des Rahmenlehrplans fehlen so in den fachspezifischen Ausführungen im Teil C weitgehend Hinweise, an welchen Stellen welches Unterrichtsfach welchen Beitrag zur Kompetenzentwicklung leistet. Um bei der Erstellung künftiger schulinterner Curricula dem fächerübergreifenden Charakter der Sexualerziehung dennoch Rechnung zu tragen, fordert die AG Schwule Lehrer, dass diese Bezüge in der Online-Version deutlich hervorgehoben werden. Die Fachkonferenzen an den Schulen sollen durch Verweise auf entsprechendes Material unterstützt werden. Außerdem muss seitens der Senatsbildungsverwaltung eindeutig kommuniziert werden, dass es sich bei der derzeit in Überarbeitung befindlichen Richtlinie zur Sexualerziehung (A V 27) nicht nur um bloße »Hinweise« im Sinne von fakultativen Möglichkeiten zur Gestaltung des Unterrichts handelt. Es sind verbindliche Regelungen, die konkret in jedem Unterrichtsfach von jeder Lehrkraft umzusetzen sind. Nur so kann sichergestellt werden, dass SchülerInnen nicht nur lernen, wie man zum Beispiel die Geschlechtsorgane benennt oder wie ein Kondom funktioniert. Es ist die Grundlage dafür, dass SchülerInnen auch eine akzeptierende Haltung gegenüber der Vielfalt von Geschlechtsidentitäten entwickeln, über ein starkes Ich gegenüber sexuellen Übergriffen verfügen oder sich gegen Sexismus und Homophobie stark machen