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bbz 11 / 2016

Verschleppt, misshandelt und verheiratet – aber niemals vergessen

Jedes Jahr kommen hunderte Berliner Mädchen nicht aus den Sommerferien zurück. Mehr als die Hälfte von ihnen wird in Länder verschleppt, die die Haager Konvention zur Kindesentführung nicht unterzeichnet haben. Verzweifelten Lehrkräften sind die Hände gebunden.

Eine Umfrage des Arbeitskreises gegen Zwangsheirat ergab, dass es im Jahr 2014 in Berlin 460 Fälle von drohenden oder vollzogenen Eheschließungen gegen den Willen der Betroffenen gab. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Die meisten der Betroffenen waren Mädchen und Frauen, hauptsächlich zwischen 18 und 21 Jahre alt, die zweitgrößte Gruppe waren 16- bis 17-Jährige. Allerdings gab es auch vier Fälle, in denen zehn- bis zwölfjährige Kinder verheiratet werden sollten oder wurden. Ein Drittel der Betroffenen hatte türkische Wurzeln, je ein Fünftel kam aus dem arabischen Raum oder aus Balkanländern.

Obwohl die von Zwangsheirat betroffenen Mädchen oft einen Migrationshintergrund aus muslimischen Ländern besitzen, ist sie kein explizit religiöses Phänomen. Es handelt sich vielmehr um patriarchale Traditionen, die die Eltern aus ihrem Herkunftsland kennen. Sie halten an überkommenen Wertvorstellungen fest, es mangelt an Bildung und aufgrund existenzieller oder sozialer Probleme ist »Ehre« der letzte Weg, Ansehen zu erhalten. Auch bei jüngeren Menschen führen Schulabbruch, Arbeitslosigkeit und mangelnde Deutschkenntnisse oft dazu, dass Ehrvorstellungen weiter tradiert werden. Zwangsheirat ist nur eine extremere Ausprägung eines viel weitreichenderen Problems: Viele Mädchen dürfen in ihrer Freizeit nicht alleine vor die Tür, Kontakte zu Jungen pflegen oder soziale Netzwerke wie Facebook nutzen. Tun sie es doch, werden sie oft geschlagen und erniedrigt.

Warnsignale frühzeitig erkennen, präventiv arbeiten

Wenn gute SchülerInnen plötzlich abbauen oder unauffällige plötzlich aggressiv werden, Verwandte in der Schule auftauchen, um zu kontrollieren, ob sie wirklich dort sind, gilt es genauer hinzuschauen. Wenn SchülerInnen bei Gesprächen über Zukunfts- oder Berufschancen den Kopf auf den Tisch legen und abweisend reagieren, gilt es das zu hinterfragen. Jugendliche, die berichten, für den Besitz eines Facebookaccounts erniedrigt worden zu sein oder keinerlei Freiheiten zu haben, benötigen unser Verständnis und unsere Aufmerksamkeit.

Allerdings fürchten sich SchülerInnen, die wir als bedroht einstufen, oft davor, sich Erwachsenen anzuvertrauen. Sie haben Erwachsene kaum als verlässliche Schutzpersonen kennengelernt. Deshalb muss Schule hier vielfältige und kontinuierliche Angebote machen.

Gesprächsangebote machen – Ganztagsstrukturen nutzen

In Einzelgesprächen kann eine Lehrkraft nach Zukunftswünschen fragen: Wie viele Kinder willst du? Wo willst du einmal wohnen? Wie soll deine Beziehungskonstellation aussehen? Im Anschluss wird gefragt »Was kann dich daran hindern?«. Wichtig bei solchen Gesprächen ist immer, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Als ich hörte, dass eine Schülerin in den Libanon gehen wird, bot ich an, mit ihr über Auswanderung zu sprechen, da das ja ein großer Schritt für eine junge Frau sei und sie vielleicht ein wenig Beratung wünsche. Sie rief tatsächlich zwei Tage später an – auch da lag der Fokus des Gespräches auf Auswanderung. Das Wort »Heiraten« vermied ich bewusst. Ein vertrautes Gespräch ist oft ein guter Anfang. Um solche Gespräche jenseits von Unterricht zu ermöglichen, sollten Schulen Sprechzeiten anbieten.

Das Ganztagsangebot an Schulen ermöglicht es uns, verschiedene ExpertInnen in den Schulalltag einzubinden. So gibt es bei uns mittlerweile die Mädchen-AG, die Mädchen-Rap-AG oder die Mädchen-Box-AG, die von erfahrenen TeamerInnen geleitet werden. Schlagen diese Alarm, werden TeamerInnen, Schulsozialarbeit und Lehrkräfte gemeinsam tätig.

Gute Präventivarbeit kann dazu führen, dass irgendwann deutlich wird, dass ein Mädchen von Zwangsheirat oder Verschleppung bedroht ist. Im Fall von Suza (Name geändert) verliebte sich das Mädchen, die Eltern bekamen es raus und sie wurde von ihrer Mutter mit einem Kabel geschlagen. Sie wartete nicht mehr, bis der Vater heim kam, sondern lief weg und nahm Kontakt zu uns auf. Sie wollte frei leben, nicht mehr eingesperrt und geschlagen werden. Sie entschied sich für die Inobhutnahme durch das Jugendamt. Dort war das Personal in diesem Fall leider nicht sehr geschult oder sensibel. Dabei fällt es Mädchen sehr schwer vor Fremden Familienangehörige zu belasten. Das war auch bei Suza der Fall und das Jugendamt wollte erst nicht zuhören und begann dann, den Fall zu verharmlosen.

Suza erzählte später, dass sie bereits seit anderthalb Jahren weglaufen wollte. Sie wurde gehalten wie eine Haussklavin. Vier Wochen lief die Inobhutnahme gut. Suza war glücklich, schaute ihrer Zukunft entgegen. Aber natürlich hatte sie Heimweh. Dazu kamen Schuld- und Schamgefühle. Das Jugendamt stellte den Kontakt zu den Eltern her. Diese versprachen, dass sich alles ändern würde. Der verstoßene Bruder kam zurück und wirkte auf Suza ein. Psychische Erpressung ist oft ein beliebtes Druckmittel. Suza war nicht mehr zu halten und ging nach Hause zurück.

Jetzt ist sie weg. Der Vater behauptet, sie würde im Libanon eine FriseurInnenausbildung machen. Niemand hat mehr Kontakt zu ihr. FreundInnen, Schulsozialarbeit und Lehrkräfte gehen von Verschleppung aus. Nach der polizeilichen Abmeldung durch den Vater sind uns nun die Hände gebunden. Wir hätten deutlicher machen müssen, dass sich trotz Beteuerung der Eltern nichts schnell ändern wird. Wir hätten ihr begreiflicher machen müssen, dass die Hilfsmöglichkeiten sehr eingeschränkt sind, wenn sie erstmal weg ist. Wir hätten vehementer darauf drängen müssen, dass sie eine Passkopie und eine Erklärung, nicht in den Libanon zu wollen, schriftlich bei uns lässt. Wir hätten ihr ein Handy mitgeben sollen. Doch als Loyalitätsbeweis den Eltern gegenüber, brach sie den Kontakt ab. Mädchen, die nie Entscheidungen für sich treffen konnten, können in Situationen von Druck und Schuld und dem Bedürfnis nach Familie ihre Entscheidung wieder kippen. Oft brauchen Mädchen auch einen zweiten Versuch und laufen nach der Heimkehr wieder weg. Für viele Mädchen ist es jetzt zu spät. Doch wir können lernen und es in Zukunft besser machen. Ohne mehr staatliches Engagement geht es aber nicht.

Zeigen wir ihnen, dass sie uns etwas wert sind

Seit Juli 2011 gibt es ein spezielles Gesetz zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer, das die Täter mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. Leider gilt das Gesetz nicht für im Ausland vollzogene Zwangsehen. Außerdem stellt Zwangsheirat oder Verschleppung keinen eigenen Straftatbestand dar, sondern fällt unter Nötigung.

Wir brauchen in Ländern mit einer hohen Verschleppungszahl deutsche Anlaufstellen, die die Mädchen aufspüren und bei einer Rückkehr unterstützen. Lehrkräfte benötigen Fortbildungen, um besser erkennen zu können, wann und ob junge Frauen Betroffene von häuslicher Gewalt oder Zwangsehe sind. MitarbeiterInnen von Jugendämtern, Polizei und anderen Behörden brauchen Fortbildungen, um adäquater und sensibler reagieren zu können.

Wir brauchen viel mehr Mädchenkriseneinrichtungen, Mädchenjugendclubs und eine eigene Anlaufstelle bei den Jugendämtern. Die Arbeitsvorraussetzungen müssen attraktiver gestaltet werden, um auch wirklich gutes und engagiertes Personal einstellen zu können. Der Staat muss es sich endlich etwas kosten lassen, unsere Jugendlichen vor Verschleppung oder Zwangsehe zu schützen. Sonst sind diese Mädchen auch bei uns nichts wert. Zeigen wir ihnen, dass das nicht der Fall ist!

Unterstützen wir auch junge Männer. Ein Schutz für sie existiert bislang gar nicht. Auch hier muss nachgebessert werden, indem Anlaufstellen geschaffen werden und thematisiert wird, dass auch Männer Betroffene sein können. Wir müssen jungen Männern auch ermöglichen, ihr Leben so zu gestalten, dass sie erfolgreich jenseits von traditionellen Rollen einen Lebensentwurf aufbauen können. Wir müssen ihnen ein Selbstbewusstsein ermöglichen, dass sich nicht aus ihrer Rolle als Patriarch speist.
Ein weiteres Problem ergibt sich für so genannte »Importbräute«. Das sind nach Deutschland verschleppte Mädchen. Es sollte für diese sichergestellt werden, dass sie unabhängig von der Eheaufhebung Unterhalt und Aufenthalt bekommen.

Für Suza ist es zu spät – doch da draußen sind tausende Jugendliche, die unsere Unterstützung noch brauchen. Seien wir vorbereitet.

Auf dem Jugendportal www.zwangsheirat.de können sich Betroffene, Angehörige und Menschen, die helfen wollen, informieren.

Die Organisation Terre des Femmes hat die Fachberatungsstelle gegen Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre LANA eingerichtet. Die Beratungsstelle ist in Berlin ansässig und zu finden unter: www.frauenrechte.de/unsere-arbeit/themen/gewalt-im-namen-der-ehre