Zum Inhalt springen

Anne Frank

Nach dem Tagebuch

Was viele von uns über Anne Frank noch nicht wussten

Grabstein von Anne Frank (Foto: bernswaelz auf Pixabay)

Wenn Anne Frank den Holocaust überlebt hätte, würde sie am 12. Juni 2019 zusammen mit Familie und Freund*innen ihren 90. Geburtstag feiern. Sie starb jedoch schon im Alter von 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen, kurz nach ihrer älteren Schwester Margot.

Anne Franks Tagebuch ist weltberühmt und wurde in über 70 Sprachen übersetzt. Es ist das Tagebuch eines deutschen Mädchens jüdischen Glaubens, das nach Ausgrenzung und Entrechtung in Nazi-Deutschland 1934 nach Amsterdam emigrierte, wo sich ihr Vater Otto Frank mit seiner Familie in Sicherheit wähnte. Aber schon 1940 besetzte die Deutsche Wehrmacht die Niederlande. Ab 1942 musste Anne mit ihrer Familie und anderen in einem Hinterhaus versteckt leben, um am Leben zu bleiben. Am 4. August 1944 wurden sie entdeckt und verhaftet. Der letzte Tagebucheintrag Anne Franks stammt vom 1. August 1944.

Weniger bekannt ist der Leidensweg Annes in den wenigen Monaten bis zu ihrem Tod in Bergen-Belsen. Besucher*innen der dortigen Gedenkstätte sind manchmal überrascht, auf dem Gelände einen symbolischen Grabstein für Anne und Margot Frank zu finden. Viele fragen sich, wie es dazu kam, dass beide in Bergen-Belsen starben.

Die Verhafteten wurden von der Prinsengracht zunächst in das Hauptquartier des SD (Sicherheitsdienst) der SS in Amsterdam gebracht. Das Tagebuch von Anne hatte niemand beachtet. Vom SD-Hauptquartier erfolgte wenige Tage später die Verlegung der Familie in das Durchgangslager Westerbork südlich von Groningen.

Westerbork war in den Niederlanden das Hauptsammellager für Juden, die innerhalb des KZ-Komplexes »auf Transport« zu gehen hatten. Prinzipiell war die maximale Ausbeutung der Arbeitskraft das oberste Gebot im KZ-System. In der vierwöchigen Westerbork-Zeit mussten Anne und Margot Zwangsarbeit leisten und Batterien demontieren. Am 3. September 1944 ging der Transport mit der Familie Frank nach Auschwitz. Besonders tragisch: es war der letzte Transport von Westerbork nach Auschwitz, zu diesem Zeitpunkt hatten alliierte Truppen bereits Brüssel erreicht. Der Transport bestand aus 1.019 Personen. Transport hieß zu jener Zeit: Tage und Nächte unter Bewachung in geschlossenen und meist überbelegten Waggons fahren, oft auch in Viehwaggons. Die Bahn war Teil des Gefängnissystems. Versorgung mit Nahrung und Wasser waren oft nicht gewährleistet.

Am 6. September 1944 kam der Zug aus den Niederlanden in Auschwitz an. Dort wurde wie üblich zuerst selektiert. Die Selektion erfolgte im Schnelltempo nach dem Hauptkriterium: wer ist noch nützlich, wer nicht? Kinder und Jugendliche unter 15 waren von vornherein nicht nützlich und wurden mit Alten und Kranken nach Augenschein aussortiert. Anne Frank hatte »Glück«, sie war gerade 15 und sah älter aus. Die anderen Menschen, 549 von 1019, wurden sofort ermordet. Auch das war trotz der rauchenden Schornsteine der Krematorien nicht die offizielle Version, vielmehr hieß es, die Neuankömmlinge würden zunächst geduscht. Vor den als Gemeinschaftsduschen getarnten Gaskammern hatten die Ankömmlinge ihre Kleidung ordentlich an nummerierten Haken aufzuhängen. Man sagte ihnen auch, sie sollten sich die Nummern merken, damit sie ihre Kleidung nach dem Duschen wiederfinden ….

Selektiert wurde auch nach Geschlecht. Otto Frank sah seine Familie am 6. September 1944 wahrscheinlich das letzte Mal. Seine Frau Edith und seine Töchter Anne und Margot mussten zu Fuß ins Frauenlager Birkenau marschieren. Otto Frank konnte an diesem Tag nicht wissen, dass er wenige Monate später der letzte Überlebende seiner Familie sein und man ihm später einmal das Tagebuch seiner Tochter übergeben würde.

Das Frauenlager Auschwitz-Birkenau hatte zu diesem Zeitpunkt 39.000 Insassinnen. Nahrungsversorgung, Hygiene und Gesundheitsvorsorge waren katastrophal. Neben der geplanten »Vernichtung durch Arbeit« ging deshalb bereits während des Transports und direkt nach der Ankunft die größte Gefahr für Leib und Leben von Hunger und Krankheit aus. Wegen der mangelnden Hygiene erkrankten Anne und Margot an Krätze. Sie kamen deshalb in den »Krätzeblock«, denn diese hochinfektiöse Hautkrankheit erforderte eine Isolation. Selektiert wurde fortwährend nach vermuteter Arbeitsfähigkeit. Man konnte also auch aus einer Krankenstation zur Vergasung ausgesucht werden. Anne und Margot waren noch jung und widerstandsfähig. Sie wurden behandelt.

Im Oktober 1944 rückte die Ostfront näher an das KZ heran. Die Deutsche Wehrmacht befand sich fast überall auf dem Rückzug. Propagandaminister Goebbels stellte das der deutschen Bevölkerung gegenüber als »planmäßige Frontverkürzung« dar. Gleichzeitig hatte die NS-Führung schon Mitte 1944 damit begonnen, arbeitsfähige Häftlinge ins Reich zurückführen zu lassen. Zu diesem Vorgang gibt es unter dem Stichwort »Todesmärsche« erschöpfende Informationen, auch über die oft grauenhaften Zustände bei der Rückführung per Bahn. Auch Anne und Margot wurden in Auschwitz »zurückselektiert«. Sie wurden als junge Zwangsarbeiterinnen gebraucht und mussten Auschwitz Ende Oktober schon wieder verlassen, »auf Transport« mit dem Ziel Bergen-Belsen mitten im Reich. Die Mutter Edith Frank musste in Birkenau bleiben und starb dort am 6. Januar 1945. Die massenhafte Rückführung von Häftlingen verlief natürlich keineswegs geordnet. Das Reich und die angeblich perfekte »deutsche Ordnung« befanden sich überall in einem Auflösungsprozess, an dessen Ende als infernalischer Höhepunkt im KZ-Komplex schließlich Chaos und Massensterben in Bergen-Belsen stehen sollten. Zunächst aber kamen Anne und Margot Frank wie geplant in Bergen-Belsen an. Innerhalb des KZ-Systems war Bergen-Belsen ursprünglich in der Ausnahmeform eines »Austauschlagers« geplant worden, nicht als Vernichtungs- oder Arbeitslager. Bergen-Belsen war entgegen jener Legende, die Nazis wären bei Planung und Ordnung erstklassig gewesen, in gar keiner Weise auf rückflutende Häftlinge vorbereitet. Man hatte ab Sommer 1944 als Notmaßnahme auf einer Freifläche im hinteren Teil ein Zeltlager errichtet, in dieses »Frauenlager« kamen auch Anne und Margot.

Beim ersten Sturm Ende November 1944 brachen die Zelte zusammen. Die Frauen standen im Freien, der Winter nahte. Zusätzlich befand sich das Lager im ständigen Kampf gegen das Fleckfieber, das sich immer mehr ausbreitete. Die Frauen wurden zusätzlich in schon dicht belegte Baracken gepfercht, daher wurden die Lebensbedingungen immer schlechter. Die unter anderem von Kleiderläusen übertragene Krankheit Fleckfieber breitete sich seuchenartig aus, im Gefolge der explosionsartig zunehmenden Zahl von Läusen.

Auch Anne und Margot erkrankten. Zum Krankheitsbild gehört hochgradiges Fieber in Schüben, Delirium, Schwäche bis zum Tod. Eine der letzten Zeuginnen, die Anne Frank lebend gesehen hat und deren Aussage dokumentiert ist, ist die Mitgefangene Jenny Brandes-Brilleslijper. Sie beschreibt unter anderem das Chaos im Lager, den Verlust des Bewusstseins für Zeit und Raum. Sie hat Anne Frank im Februar 1945 draußen bei Kälte das letzte Mal lebend gesehen. Sie berichtete dem niederländischen Filmemacher Willy Lindwer: »In den letzten Tagen stand Anne vor mir, nur in eine Decke gehüllt. Sie hatte keine Tränen mehr (…) und sie erzählte, es hätte ihr so gegraut vor den Tieren in ihren Kleidern, dass sie alle ihre Kleider weggeworfen hätte. Zwei Tage später bin ich hingegangen, um nach den Frank-Mädchen zu sehen. Sie waren beide tot.«

Der symbolische Grabstein von Anne und Margot Frank steht heute in etwa da, wo sich das Frauenzeltlager befand. Eine genaue Grabstelle gibt es naturgemäß nicht, denn Chaos und Massensterben machten Einzelbestattungen unmöglich. Ein Krematorium von geringer Kapazität gab es in Bergen-Belsen, auch versuchte die SS noch, der Lage Herr zu werden, indem sie Leichen auf Scheiterhaufen verbrennen ließ. Auch Gruben zur Leichenentsorgungen waren schon angelegt, wie Jenny Brandes-Brilleslijper berichtet. Dorthin musste sie die Verstorbenen bringen, indem sie die nackten Leichen, nur in eine Decke gehüllt, in eine »stinkende Grube« als Massengrab fallen ließ und die Decke mitnahm. Die Leichen von Anne und Margot Frank wurden also mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Grube »entsorgt« oder verbrannt.

Bei der Befreiung von Bergen-Belsen durch die britische Armee lagen überall »weiße Berge« von Leichen. Die heutigen Massengräber in Bergen-Belsen wurden nach der Befreiung angelegt, alle Baracken wegen der Fleckfieberseuche verbrannt. Die Befreiung fand am 15. April 1945 statt, zu spät für Anne und Margot Frank und knapp 50.000 andere Opfer nur aus dem Jahr 1945.

Anne Frank aber hat dennoch überlebt. Ihrem Tagebuch hatte sie am 5. April 1944 anvertraut, dass es ihr sehnlichster Wunsch war, Journalistin und Schriftstellerin zu werden: »Mit dem Schreiben werde ich alles los, meine Traurigkeit verschwindet, mein Mut lebt wieder auf!« Anne Frank ist durch ihr Schreiben zu einer weltweiten Ikone des Holocaust geworden und lebt in der Erinnerung weiter.

Wir müssen als Demokrat*innen und Gewerkschafter*innen dafür sorgen, dass die Erinnerung an Zeiten von Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung überlebt. Denn für ganz Europa gilt leider: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« (Bertholt Brecht) Anne Frank und ihr Tagebuch helfen uns, aus Erinnerung guten Unterricht zu machen und politisch bewusste Demokrat*innen zu erziehen. Deshalb: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Anne! Wir danken dir.