Zum Inhalt springen

Perspektive Quereinstieg

Ohne Führerschein auf der Überholspur

Bildungsforscher Jörg Ramseger bewertet die Einstellung von Quereinsteiger*innen kritisch. Ein Auszug aus seiner Stellungnahme vor dem Abgeordnetenhaus.

Foto: GEW BERLIN

Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen stehen unter einem enormen Stress. Sie unterrichten ohne hinreichende pädagogische und fachdidaktische Qualifikation voll- und eigenverantwortlich Kinder und Jugendliche, die nur einmal in ihrem Leben zur Schule gehen und alle Anfängerfehler der neuen Lehrkräfte am Ende selber auszubaden haben. Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger müssen sich daneben weiterqualifizieren und dabei auch jede Menge Prüfungen bestehen.

Man lernt nichts richtig in irgendwelchen Schnellkursen. Wir leisten uns normalerweise ein Universitätsstudium als Regelvoraussetzung für den Lehrberuf, aus Einsicht in die Tatsache, dass es in der Pädagogik, im Unterschied zu technischen Berufen, nicht um die Anwendung von bewährten Methoden auf Werkstücke geht, sondern um die Entwicklung von Methoden bei den Schülerinnen und Schülern. Hierzu müssen Lehrkräfte nicht nur ihrerseits mehrere Methoden kennen, sondern auch die den Methoden zugrundeliegenden Theorien einschließlich ihrer Prämissen und ihrer Konsequenzen. Und dafür brauchen sie Denkzeit, eben jene Zeit handlungsentlasteter Reflexion, die wir unseren Lehramtsstudierenden gewöhnlich im Rahmen eines akademischen Studiums sehr zu Recht gewähren und auch abverlangen. Das Drama ist in der Regel der Mangel an erziehungswissenschaftlicher Reflexion, an Fachkenntnis im zweiten Fach und eine vollständige Inkompetenz in fachdidaktischer Hinsicht in allen Fächern. Es ist aber noch viel mehr der Mangel an Denkzeit während der berufsbegleitenden Nachqualifizierung.

Wo die Not am Größten ist

Es gibt für die Alphabetisierung der Schulanfänger und -anfängerinnen grundlegende Kernkonzepte. Man kann Kindern nach jedem dieser Konzepte das Lesen und Schreiben beibringen – aber nur, wenn man sie wirklich durchschaut hat. Wenn man nämlich ihre theoretischen Prämissen und ihre praktischen Konsequenzen kennt. Dafür braucht man wenigstens ein bis zwei Semester in entsprechenden Hauptseminaren an der Universität, und zwar bevor man auf die Kinder losgelassen wird. Denn angesichts der Heterogenität in unseren Grundschulklassen und unter dem Anspruch einer erfolgreichen Inklusion käme es vorrangig darauf an, jeweils im Hinblick auf das einzelne Kind zu prüfen, welche dieser Methoden die jeweils angemessene ist. Das setzt nicht nur vertiefte theoretische Einsichten in den Prozess des Schriftspracherwerbs, sondern auch eine mehrjährige Unterrichtserfahrung in Grundschulklassen voraus. Wer das nicht hat, produziert leicht Lese-Rechtschreibschwächen und funktionalen Analphabetismus.

Schließlich zum Thema Inklusion: Die große Mehrheit unserer Grundschulen bietet bereits gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung an. Niemand sollte glauben, dass wir gelingende Prozesse inklusiven Unterrichts mit Lehrkräften erreichen können, die sich nie selbstkritisch mit ihrem Verhältnis zu Behinderung und Menschen mit Behinderungen auseinandergesetzt haben. Wir fördern solche Auseinandersetzungen in unseren Kursen zur Inklusion an der Universität.

Die Kinder haben nur eine Schulzeit

Wir haben angesichts der Not einen erheblichen Kontrollverlust, wer unter welchen Umständen zu welchen Bedingungen derzeit und demnächst als Lehrerin oder Lehrer an den Berliner Schulen unterrichten darf. Es gibt Studierende, die noch nicht einmal den Bachelorabschluss haben und trotzdem, finanziert mit Mitteln der Personalkostenbudgetierung, ohne jede fachliche Begleitung bereits eigenverantwortlichen Unterricht geben. Das ist weder mit dem Berliner Lehrkräftebildungsgesetz noch mit den Kultusministerkonferenz-Standards für die Lehrkräftebildung zu vereinen.

Derzeit erhalten in Berlin Menschen ohne jedes Lehramtsstudium bereits beim Dienstantritt als Quereinsteigerinnen oder Quereinsteiger unbefristete Anstellungsgarantien für den Fall, dass sie anstelle eines ordentlichen Fachstudiums eine einjährige Nachqualifizierung in Schnellkursen und das Referendariat bestehen. Ein so genannter »Studientag« pro Woche wird einem zehnsemestrigen Vollzeit-Fachstudium an der Universität mit fünf Wochentagen gleichgesetzt.

Ich bin sehr unsicher, ob es klug ist, den Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern unbefristete Verträge für eine dauerhafte Beschäftigung als Lehrkraft auf der Basis eines Studienersatzes anzubieten. Es mag unter ihnen einige pädagogische Naturtalente geben. Es gibt aber genauso viele Fälle absolut fehlender Eignung fürs Lehramt. Ich hielte es für sinnvoller, weitere Bewährungshürden nach dem Referendariat vorzusehen, bevor man ihnen einen unbefristeten Vertrag anbietet.

Wenn die Senatsverwaltung jetzt Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern auf der Basis von Schnellkursen unbefristete Anstellungsverträge gibt, die auf Jahre die Stellen besetzen, steht auch zu befürchten, dass die ordentlich ausgebildeten Lehramtsstudierenden des Landes Berlin in wenigen Jahren vor verschlossenen Schultüren stehen werden.

Sieben Empfehlungen für die Politik

1.   Die Unterrichtsverpflichtung der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sollte auf 14 Wochenstunden begrenzt werden.

2.     Die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sollten vor dem ersten eigenverantwortlichen Unterricht wenigstens einen sechsmonatigen Vorbereitungslehrgang erhalten.

3.     Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger sollten in den Fächern Deutsch und Mathematik unter keinen Umständen in der Schulanfangsphase eingesetzt werden.

4.     Wir brauchen zweifellos flexiblere Zugangswege zum Lehramtsstudium und die Möglichkeit zur Nachqualifizierung von Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern an der Universität.

5.     Es wäre wünschenswert, wenn ein solches Kurzstudium mit ungekürztem Curriculum auch für Interessentinnen und Interessenten für das Lehramt an Grundschulen eingeführt würde.

6.     Wir brauchen dringend eine professionelle faktenbezogene Lehrkräfte-Bedarfsplanung auf der Basis von wissenschaftlich erprobten Prognosemodellen.

7.     Es wäre schließlich zu prüfen, ob es angesichts der Not nicht sinnvoller wäre, die quer-einsteigenden Personen zunächst nur mit der Fakultas für ein Fach einzustellen und sie zunächst nur ein Fach unterrichten zu lassen.

»Q-Master«
Im Rahmen der »Qualitätsoffensive Lehrerinnen- und Lehrerbildung « wird an der Freien Universität derzeit ein Modellstudiengang für Lehrkräfte im Sek-I-Bereich erprobt – der »Q-Master«. Hier erhalten Quereinsteiger*innen unter großzügiger Anrechnungspraxis ihrer bisherigen Studien in einem weitgehend individualisierten Studiengang alle jene Module, die sie brauchen, um ein vollwertiges Lehramtsstudium gemäß dem geltenden Lehrkräftebildungsgesetz auf der Basis der KMK-Standards für die Lehrkräftebildung in nur zwei Jahren abschließen zu können.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46