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Sprachakrobat*innen

Türkisch für Fortgeschrittene

Im Februar startete an 20 Berliner Grundschulen ein neues Unterrichtsprojekt, das in zwei Schulstunden pro Woche eine Arbeitsgemeinschaft »Herkunftssprache Türkisch« anbietet.

Foto: GEW BERLIN

Der Unterricht in der AG »Herkunftssprache Türkisch« hat als ein Angebot für Schüler*innen der Klassenstufen eins bis drei begonnen. Er wird von Lehrer*innen des Landes Berlin erteilt, ergänzt den Regelunterricht und ist kostenlos. Im Herkunftssprachigen Türkisch-Unterricht (HSU) sollen die unterschiedlichen sprachlichen Vorkenntnisse der Schüler*innen aufgegriffen und systematisch weiterentwickelt werden. So erwerben sie schriftsprachliche Basiskompetenzen in der türkischen Standardsprache. Die mündliche Sprachkompetenz der Kinder wird erweitert, die Erzählfreude geweckt und angeregt. Das Hörverstehen wird systematisch trainiert, die Wortschatzerweiterung und Fähigkeit auch komplexe Satzstrukturen anzuwenden, wird kontinuierlich angeregt und ausgebaut. Im Vergleich der eigenen Lebenswelt mit der von anderen werden unterschiedliche Werte und Lebensweisen bewusst gemacht. Dabei werden auch übergreifende Themen des Rahmenlehrplans berücksichtigt, wie zum Beispiel Bildung zur Akzeptanz von Vielfalt, interkulturelle Bildung, Gesundheitsförderung, Mobilitätsbildung, Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter, Demokratiebildung, Gewaltprävention und Verbraucherbildung. Der Unterricht in der »Herkunftssprache Türkisch« knüpft an die mündlichen und schriftsprachlichen Sprachfähigkeiten der Kinder in Türkisch an. So können beispielsweise Themen wie »Meine Familie und ich«, »Die Schule und meine Wohnumgebung« oder die Türkei auf den unterschiedlichen Niveaustufen angeboten werden.

Die Zweisprachige Erziehung hat Vorbildcharakter

Neben den neuen Türkisch AGs gibt es seit dem Jahr 1993 das Modell der Zweisprachigen Erziehung (ZwErz) an Berliner Schulen. Dieses Modell hat über die Grenzen Berlins hinaus immer wieder Anerkennung gefunden. Dass es von großem internationalem Interesse ist, zeigen die über 50 Besucher*innengruppen aus Schule, Hochschule, Wissenschaft und Medien, die in den letzten zehn Jahren sich allein an unserer Schule ein konkretes Bild von diesem besonderen Angebot gemacht haben.

Es richtet sich nicht nur an Kinder türkischer Herkunftssprache, sondern an Schüler*innen mit anderen Herkunftssprachen. Vorgesehen ist dies gemäß Paragraph 12 der Grundschulverordnung. Die Inhalte des Unterrichts werden in Deutsch und Türkisch koordiniert und vermittelt. An Schulen, die sowohl über entsprechende Anmeldungen für zweisprachige Klassen, als auch über qualifizierte Lehrkräfte verfügen, konnte und kann dieses Konzept realisiert werden – dies allerdings nur im Rahmen eines festgelegten Stellenumfangs. Die ZwErz ist nicht nur ein spezielles Sprachlernprogramm in besonderen Klassen. Sie dient im hohen Maß der Förderung von Integration und der Entwicklung von Sozialkompetenz. Ein elementarer Bestandteil des Modells ist der zweisprachige Kooperationsunterricht. Er bietet für alle Schüler*innen, ungeachtet ihres sprachlichen Hintergrunds, die Chance, Offenheit gegenüber Sprachen und Kulturen zu entwickeln.

Die besondere Qualität und Effektivität eines koordinierten bilingualen Unterrichts ist inzwischen durch Untersuchungen belegt und allgemein anerkannt. Der Lernprozess verläuft hier sowohl sprach-systematisch als auch situativ. Er unterstützt die individuellen Ansätze einer Bewältigung kommunikativer Aufgaben stärker als im reinen Sprachunterricht. Die Schüler*innen werden deutlich als Sprachhandelnde herausgefordert. Bilingualer Unterricht motiviert, da er die Sprachkompetenz auf hohem Niveau weiterentwickelt und aktuelle Problemstellungen in den Mittelpunkt stellt. Die Einbeziehung der türkischen Sprache in den Unterricht bietet für die Schüler*innen deutscher Herkunftssprache die außergewöhnliche Chance, schon vom ersten Schultag an die Begegnungssprache Türkisch in echten Kommunikationssituationen zu erleben. Dadurch werden sie generell für sprachliche Phänomene sensibilisiert. Sie werden in die Lage versetzt, ihre eigene Sprache mit der Zweitsprache zu vergleichen und die unterschiedlichen Strukturen der Sprachsysteme zu erfassen. Sie erreichen dadurch ein, für die Altersstufe überdurchschnittliches, Niveau an Sprachbewusstsein.

Der systematische Unterricht in Türkisch und die sprachvergleichende Arbeit im Kooperationsunterricht hat nach den sechs Schuljahren eine ausgeglichene Zweisprachigkeit zum Ziel, das bedeutet im Deutschen Anschluss an die Anforderung der weiterführenden Schulen – und im Türkischen Anschluss an die türkischsprachige Schriftkultur.

Auch die türkischen Eltern fühlen sich in den zweisprachigen Klassen besonders akzeptiert und beteiligen sich mit großem Engagement an Projekten, Festen und an zweisprachigen Elternabenden. Die deutschen Eltern der zweisprachigen Klassen haben sich auch bewusst für dieses schulische Modell entschieden, weil sie eine gemeinsame Erziehung wünschen, die auf Wissen, Akzeptanz und Toleranz aufgebaut ist. Sie betrachten dies als Teil des Zusammenlebens, in dessen Mittelpunkt das Gemeinsame und nicht das Trennende steht.

In der Grundschule wird der Sprach-, Sach- und Fachunterricht in Kooperation mit einer türkischsprachigen und einer deutschsprachigen Lehrkraft unterrichtet. Auch die musisch- ästhetischen Fächer können in den fachübergreifenden ZwErz-Unterricht integriert werden. Um das Ziel der Zweisprachigkeit zu erreichen, müssen mehrere Bedingungen erfüllt werden. So müssen beide Sprachen kontinuierlich quantitativ und qualitativ ausgewogen im Unterricht zum Tragen kommen. Sprachwechsel von Seiten der Lehrkräfte müssen funktional begründet statt willkürlich vorgenommen werden. Dieser funktionale Sprachwechsel, der zur Klärung eines Inhaltes führt, ersetzt permanenten Übersetzungsunterricht. Außerdem sind binnendifferenzierende Unterrichtsmethoden unabdingbar. Im Kooperationsunterricht sollte die freie Sprachwahl bestehen.

Erfahrungen sollten beim HSU-Türkisch berücksichtigt werden

Wenn nun der HSU und das ZwErz-Modell verglichen werden, kommt man zu folgendem Ergebnis. Das ZwErz-Modell erfüllt Erwartungen und Forderungen, die weit über die hinausgehen, die an den Herkunftssprachen-Unterricht Türkisch gestellt werden. Die Jahrzehnte langen positiven Erfahrungen im ZwErz-Modell sollten bei der Konzeption des HSU--Türkisch Berücksichtigung finden. So erscheinen der angesetzte Stundenumfang für die formulierten Ziele und Erwartungen für den HSU Türkisch als nicht ausreichend. Es wäre wünschenswert, HSU mit einem höheren Stunden-umfang anzusetzen und in die Stundentafel zu integrieren. Außerdem sollten Voraussetzungen für eine Kooperation mit den anderen Lehrkräften der Klassen geschaffen werden. Unterrichtliche Inhalte könnten so koordiniert werden. Die HSU-Lehrkraft könnte zusätzlich als Kultur- und Sprachvermittler*innen eine Unterstützung für erfolgreiche Elternarbeit sein. Es sollte auch eine Bewertung der erzielten Leistungen erfolgen. Dazu sollte es am Ende der 6. Klasse eine Sprachstandsmessung nach dem EU-Referenzrahmen der Sprachen geben. Somit erhielten die Schüler*innen eine Bescheinigung oder ein Zertifikat über die Kompetenzen in ihrer Herkunftssprache. Insgesamt könnte so ein anderer Stellenwert und eine höhere Akzeptanz erreicht werden.

Je besser und differenzierter die Erstsprache beherrscht wird, desto erfolgreicher sind Sprachlerner*innen beim Erwerb jeder weiteren Sprache. Inwieweit diese Erkenntnisse in der unterrichtlichen Realität zum Tragen kommen, hängt von den Bedingungen ab, die die Politik ermöglicht.

Mehrsprachigkeit/ Bilingualismus

Wer mit Deutsch als Erstsprache aufgewachsen ist und in der Schule Englisch gelernt hat, mag im umgangssprachlichen Sinn mehrsprachig sein, da sie*er über Sprachkenntnisse in mehreren Sprachen verfügt. Werden außerdem die diversen Sprachvarietäten des Deutschen (beispielsweise bayerischer Dialekt/ niederdeutscher Regiolekt/Soziolekt Kiezdeutsch) der »inneren Mehrsprachigkeit« zugerechnet, so sind fast alle Menschen mehrsprachig. Linguist*innen verstehen unter Mehrsprachigkeit: Mehrsprachige wachsen mit zwei oder mehr Sprachen auf, simultan oder zeitversetzt, und können in der Alltagskommunikation ad hoc von einer Sprache in die andere umschalten und sich erfolgreich verständigen. Erwerben Kinder von Anfang an simultan zwei Sprachen, so spricht man von Bilingualismus.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46