Zum Inhalt springen

Inklusive Haltung

Das Förderzentrum muss keine Sackgasse sein

Eine ehemalige Förderschülerin blickt auf ihre Schul- und Ausbildungszeit zurück. Wie sähe heute ihre Wunschschule aus?

Foto: GEW BERLIN

Kindern, die so wie ich von Geburt an auf den Rollstuhl angewiesen sind, war es 1973 nicht möglich, in eine Regelschule eingeschult zu werden. Deshalb besuchte ich zehn Jahre die Biesalski-Schule in Zehlendorf, die zu damaliger Zeit eine Schule mit regulärem Lernpensum nur für körperbehinderte Schüler*innen war. Mit einem Realschulabschluss verließ ich die Schule und absolvierte mein Fachabitur am Oberstufenzentrum für Wirtschaft und Verwaltung, inklusive eines Praktikums in der öffentlichen Verwaltung. Anschließend machte ich eine dreijährige Ausbildung im öffentlichen Dienst als Verwaltungsfachangestellte. Seit 31 Jahren arbeite ich in der Berliner Bezirksverwaltung im Gesundheitsamt. Kurz gesagt: Ich bin auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert.

Meine Schulzeit an der Förderschule

Eine Klassengemeinschaft bestand aus acht bis zwölf körperbehinderten Schüler*innen. Ich fühlte mich in dieser Umgebung geschützt und geborgen. Ich schloss Freundschaften, die teilweise bis heute bestehen. Einzelne Behinderungen spielten im Schulalltag keine Rolle; es gab eine große Hilfsbereitschaft und Akzeptanz der behinderten Mitschüler*innen untereinander. Leider musste ich auch traurige Erlebnisse verarbeiten, denn während der Schulzeit verstarben mehrere Mitschüler*innen.

Der Unterricht wurde von einem Lehrer oder einer Lehrerin ohne Unterstützung von Erzieher*innen durchgeführt. Für die täglichen Verrichtungen, die nicht jede*r selbständig erledigen konnte, sowie in manchen Fächern wie Werken und Schwimmen oder bei Ausflügen, standen Helfer*innen dem Lehrpersonal und den Schüler*innen unterstützend zur Seite. Der Schulweg war durch Schulbusse als Gruppenfahrten organisiert.

Der Unterricht war nach dem regulären Lehrplan der allgemeinen Schulen und den üblichen 45-minütigen Schulstunden gestaltet, mit Rücksichtnahme auf das individuelle Lern- und Arbeitstempo. Diese Rücksichtnahme führte dazu, dass das vorgesehene Lernpensum nicht vollständig vermittelt werden konnte. Somit beendete ich die Realschule in etwa mit einem Schulwissen von sieben statt zehn Schuljahren, bezogen auf die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch.

Kein Schonraum in der Regelschule

In der zehnten Klasse musste ich für die Übernahme von integrativen Rehabilitationskosten durch das Arbeitsamt zur Eingliederung in das Arbeitsleben eine Berufserprobung im Annedore-Leber-Berufsbildungswerk absolvieren. Diese vierwöchige Berufserprobung, die ich erfolgreich bestand, diente dazu, meine geistige und körperliche Leistungsfähigkeit für das Berufsleben zu testen. Ich empfand die dort durchgeführten täglichen achtstündigen Tests als ausgesprochen körperlich und emotional anstrengend, insbesondere aber auch als persönlich erniedrigend. Diese stark negative Erfahrung war für mich ein Schlüsselerlebnis. Ich wollte nicht unter Behinderten in einer Behindertenwerkstatt »untergehen«. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte künftig ein Leben außerhalb eines geschützten Bereiches wagen.

Die Umstellung von der Förderschule zum Oberstufenzentrum für Wirtschaft und Verwaltung war für mich sehr groß. Die Klassengröße lag jetzt bei 20 Schüler*innen und ich erhielt keine begleitende Schulunterstützung (Assistenz). Es gab zwar ein barrierearmes Gebäude mit Aufzug und Behindertentoiletten, aber weder das Lehrpersonal noch die Mitschüler*innen haben mir von sich aus Unterstützung angeboten. Freundschaften ergaben sich nicht.

Die Fahrten zur Schule musste ich eigenständig organisieren. Dies bedeutete einen zeitlichen Zusatzaufwand für die Antragsstellung bei Rehabilitationsträgern für Beförderungskosten und deren Abrechnung sowie für die Terminplanung mit dem Beförderungsunternehmen. Den fehlenden Lehrstoff in Deutsch, Mathematik und Englisch musste ich aufholen und nebenbei ein wesentlich umfangreicheres Lernpensum bewältigen. Es gab keinen geschützten Bereich mehr. Jetzt musste ich mich in der Welt der Nichtbehinderten behaupten.

Zwangsläufig führten die massiven Umstellungen zur Wiederholung der elften Klasse im Fachabitur. Mit viel Disziplin, starkem Willen, mental wachsender Härte und dem fast vollständigen Verzicht auf Freizeit erreichte ich aber schließlich meine Ziele: erst die Fachhochschulreife und dann den Abschluss einer Ausbildung als Verwaltungsfachangestellte. Der Weg in das normale Berufsleben war steinig, anfänglich auch von Mobbing begleitet, aber ich konnte stetig an den Anforderungen wachsen. Heute bin ich auf meiner Arbeitsstelle im Kollegenkreis vollständig integriert.

Meine Vorstellung einer idealen Inklusionsschule

In einem barrierefreien Gebäude sollten Förderschulkinder von professionell ausgebildeten Sonderschullehrkräften unterrichtet werden. Zusätzlich sollte ausreichend Personal zur Unterstützung für behinderte Schüler*innen zur Bewältigung des Schulalltags vorhanden sein. Idealerweise sollte es in einer Klassenstufe drei Regelklassen und parallel dazu eine Förderklasse mit etwa neun Schüler*innen geben.

In der Grundschule stelle ich mir einen gemischten Unterricht in Nebenfächern wie Lebenskunde, Musik und Kunst vor, an dem je drei Förderschüler*innen teilnehmen. Die Hauptfächer Deutsch, Mathematik und Englisch werden in einer reinen Förderklasse unterrichtet im Lern- und Arbeitstempo der Behinderten.

In der Oberstufe wünsche ich mir einen gemeinsamen Unterricht von allen Schüler*innen in allen Fächern. Behinderte Schüler*innen, die das Lern- und Arbeitstempo der Nichtbehinderten nicht halten können, nehmen weiterhin nur in Nebenfächern am gemischten Unterricht teil. Somit wird parallel zum Unterricht in der Regelklasse ein individuelles Lern- und Arbeitstempo ermöglicht. Dieses Modell bietet die größtmögliche Flexibilität bei der Inklusion.

Um Eltern den kräftezehrenden Aufwand beim Beantragen zahlreicher Förderanträge zu ersparen, sollte die Schule standardmäßig über jegliche Form von Assistenzleistungen verfügen. Dazu gehören auch Räumlichkeiten für Physio- und Ergo-Therapeut*innen sowie Logopäd*innen, die als feste Mitarbeiter*innen der Schule beschäftigt sind.

Ein regelmäßiger Kontakt zwischen Behinderten und Nichtbehinderten von Kindheit an sorgt für einen selbstverständlichen Umgang miteinander und fördert auch Freundschaften. So kann eine neue Generation zusammenwachsen, in der Behinderte ganz selbstverständlich ein Teil der Gesellschaft sind.

Gleichzeitig unterstützt dieses Schulmodell auch den regelmäßigen Kontakt von Behinderten unter-einander, der den Erfahrungsaustausch ermöglicht. Weiterhin werden Behinderte über mindestens zehn Schuljahre an das »normale« Lern- und Arbeitstempo gewöhnt, so dass der Übergang von der Schule zum Berufsleben relativ weich und fließend gestaltet werden kann. Schließlich können unabhängig von den gleichwertigen Schulabschlüssen bereits fundierte Aussagen zu potentiellen Berufsfeldern für Behinderte getroffen werden ohne die mental stark erniedrigenden Tests zur Feststellung der Arbeitsfähigkeit.

Neben dem geschilderten Modell der Inklusionsschule halte ich jedoch auch separate Förderschulen für wichtig, da nicht alle Behinderten dem Lern- und Arbeitstempo einer Inklusionsschule gewachsen sind.

Gelungene Integration ermöglicht Inklusion

Um eine Inklusion zu erreichen, ist es zuerst erforderlich, Menschen mit Behinderungen zu integrieren bevor man sie inkludieren kann. In der Politik wird viel über das finale Ziel, die Inklusion, gesprochen, während ich im Alltag noch mit den Herausforderungen der Vorstufe Integration konfrontiert bin, die eine lebenslange und oft kräftezehrende Aufgabe darstellt.

Um zuerst einmal die Vorstufe der vollständigen Integration für Behinderte zu erreichen, sollten sich Politiker*innen mehr um einen direkten Erfahrungsaustausch bemühen. Daraus könnten sie dann die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen schaffen, mit denen die verbleibenden Lücken zur Integration geschlossen werden könnten. Erst wenn dieser noch viel Arbeit erfordernde Weg beschritten worden ist, erscheint mir eine Beschäftigung mit dem Idealziel Inklusion sinnvoll. Darüber hinaus stellt sich mir die Frage, ob eine vollständige Inklusion aus Kostengründen überhaupt möglich sein wird, da jeder Bewilligung einer Fördermaßnahme immer eine Wirtschaftlichkeitsberechnung gegenüberstehen wird.

Mein Lebenswunsch ist: Ich möchte mich nicht jeden Tag mit meiner Behinderung auseinandersetzen müssen, sondern einfach nur »barrierefrei leben«.   

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46