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bbz 06 / 2017

Ungleiches ungleich behandeln – mehr Chancengleichheit schaffen!

Die Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen aus benachteiligten Sozialräumen muss zu einem übergeordneten Ziel werden

Der demografische Wandel in Deutschland und der sich daraus ergebende Fachkräftemangel erfordern gesellschaftspolitische Strategien, die auf die vorhandenen Potenziale aller Jugendlichen setzen. Dabei neue Zielgruppen zu erschließen ist eine Aufgabe, die nicht nur den öffentlichen Dienst, sondern auch die Privatwirtschaft vor Herausforderungen stellt: »Bewährte« Praktiken der Rekrutierung müssen sich der »neuen Diversität« potenzieller Nachwuchskräfte anpassen. Für eine erfolgreiche Einwanderungsgesellschaft brauchen wir eine offene und vielfaltsfähige Kultur der Fachkräftegewinnung. Dies gilt besonders für Schulen und Arbeitgeber*innen.

Anders als Kinder und Jugendliche aus bildungsbürgerlichen Sozialräumen kann ein*e Schüler*in aus einer sogenannten »Brennpunkt-Schule« bei der Berufswahl mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf Netzwerke, Ressourcen und Erfahrungswissen der Eltern und aus dem familiären Umfeld zurückgreifen. Dies bedeutet auch, dass diese Jugendlichen aufgrund fehlender Vorbilder und häufiger Unkenntnis sozio-kultureller Codes kaum in der Lage sind, sozialräumliche Kodierungen zu entschlüsseln. Infolgedessen fühlen sie sich in ihrer Selbstwirksamkeit eingeschränkt. Verstärkt wird dies bei vielen Jugendlichen zusätzlich durch internalisierte Diskriminierungserfahrungen, die sie aufgrund der Migrationsgeschichte ihrer Familien gemacht haben.

Die Direktive muss daher heißen: Ungleiches ungleich behandeln und Chancengleichheit herstellen. Diese schwierige Ausgangslage der Jugendlichen manifestiert sich unter anderem in geringen Übergangsquoten in die Ausbildung, was weitere Schwierigkeiten nach sich zieht: Viele von ihnen gehen prekäre Beschäftigungsverhältnisse ein oder müssen ihren Schulbesuch unproduktiv verlängern. Ihre soziale Ausgrenzung verschärft sich in der Folge.

Die Arbeitsmarktintegration von Jugendlichen aus benachteiligten Sozialräumen muss daher zu einem übergeordneten Ziel werden. Dies ist keine vorübergehende Sonderaufgabe, die mit zeitlich befristeten Projekten gelöst werden kann. Es muss nachhaltige und strukturelle Anpassung geben. Ansonsten werden Chancenungleichheit und perspektivlose Lebensverläufe weiterhin reproduziert.

Nach eineinhalb Jahren unzähliger Beratungen mit Expert*innen aus Politik, Schule und Wirtschaft hat der Berliner Senat 2015 das Landeskonzept Berufs- und Studienorientierung (LaKo BSO) auf den Weg gebracht und im Land Berlin implementiert. Gemeinhin wird es zu Recht als »großer Wurf« und wichtige Weiterentwicklung im Übergangssystem Schule-Beruf bewertet. Das Übergangssystem des Landes Berlin wurde durch die Novellierung konzeptionell aufgewertet und zielorientierter ausgerichtet. Es schafft eine einheitliche Grundlage für die systematische Heranführung von Schüler*innen an die Arbeitswelt.

Das Herzstück bildet die von BQN Berlin entwickelte und erfolgreich erprobte Qualifizierte Vierstufigkeit, wonach Betriebsbegegnungen ab Klassenstufe 7 als aufeinander aufbauende »Module« gestaltet werden und die Vor- und Nachbereitung zu einer Querschnittsaufgabe der »ganzen Schule« wird.

Als Brücke in die Ausbildung werden attraktive Betriebsbegegnungen von der Klasse 7-10 nach dem Modell der Qualifizierten Vierstufigkeit aufgebaut – ein Lösungsansatz, der nun also Programm in Berlin ist, aber bei Weitem noch nicht Realität. Denn aufgrund der dominanten Förderlogik, alle Schüler*innen gleich zu behandeln, trägt das aktuelle LaKo BSO nicht dazu bei, dass herkunftsbedingte Benachteiligungen ausgeglichen werden.

Auch deshalb haben die Landesvorsitzenden des DGB Berlin-Brandenburg und der GEW BERLIN, Doro Zinke und Doreen Siebernik, gemeinsam mit zahlreichen Expert*innen ein Ergänzungskonzept für Schulen mit besonderem Bedarf an Berufsorientierung (sogenannte BO-Bedarfsschulen) zum Landeskonzept Berufs- und Studienorientierung erarbeitet.

Das Ergänzungskonzept zielt sowohl auf qualitative Maßnahmen als auch auf strukturelle Anpassungen. Im strukturellen Bereich geht das DGB-Ergänzungskonzept von einer »fachlichen Stelle« aus – eine »Figur«, die im Kontext der Schule angesiedelt, aber von ihr unabhängig sein soll. Ihre Aufgabe ist es, die vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen Schule und Umwelt konzeptionell und praktisch mit in den Blick zu nehmen. Ihre Funktion besteht darin, den Fokus auf die Kompensation langwieriger Benachteiligung und strukturellen Barrieren zu legen. Gleichzeitig ist ihre Funktion die eines Vermittlers und Kommunikators mit der Aufgabe, die »kreative Lücke« zwischen den verschiedenen Zuständigkeiten und Fachlichkeiten im Übergang Schule-Beruf zu verringern.

Diese Figur hat somit zwei zentrale Aufgaben: Sie erprobt praktisch, wie den Auswirkungen vorgängiger Benachteiligung entgegengewirkt werden kann und aktuell drohende Benachteiligungen vermieden werden können. Zugleich erforscht sie – in einer Art »Sonden-Funktion« –, wie künftig strukturell und handlungsorientiert die Kumulation von Benachteiligungen eingedämmt werden kann, insbesondere in der schulischen Lebenswelt und im Übergang von der Schule in die Ausbildung.

Im qualitativen Bereich müsste der Faktor »Internalisierung« von Fremdwahrnehmung und Selbstwirksamkeitsempfinden eine gewichtigere Rolle spielen. Wir haben es in diesen Schulen mit Schüler*innen zu tun, die aufgrund von Verallgemeinerungen ihres Milieus, ihrer Herkunft, ihres Geschlechts und/oder phänotypischer Merkmale Abwertungserfahrungen gemacht haben. Jugendliche sind meist nicht in der Lage, solche Abwertungserfahrungen als beispielsweise rassistische Haltungen Dritter zu identifizieren. Viel eher wirken diese Abwertungserfahrungen so, dass sie das Selbstbewusstsein und die Selbstwahrnehmung negativ beeinflussen. Mit der defizitorientierten Fremdwahrnehmung geht auch einher, dass Schüler*innen diese Rolle, die ihnen zugeschrieben wird, im Zuge ihrer Perspektivlosigkeit und Ohnmacht annehmen. Diese daraus entstehende Haltung der Schüler*innen kann man als internalisierte Resignation beschreiben. Hier müssen qualitative Maßnahmen getroffen werden, die Ausdruck in einer Art Empowerment-Modul in der schulischen BO finden.

Ein weiterer qualitativer Bedarf ist die regelhafte und konsequente Beschulung im Bereich der (De-)Codierung. Schüler*innen, denen man einen Zugang auf den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ermöglichen will, muss man neben der Stärkung ihrer Selbstwahrnehmung auch notwendige soziale Codes vermitteln, die in den unterschiedlichen sozialen Räumen der realen Arbeitswelt unabdingbar sind. Fakt ist auch, dass die Art und Weise der Vermittlung und die Code-Sets an die Zielgruppe angepasst werden müssen.

Benachteiligte Jugendliche werden erst dann gleiche Chancen auf Bildung haben, wenn ihnen eine besondere und eine ihren Bedürfnissen angemessene Zuwendung zuteilwird. Die Berliner Bildungspolitik hat mit der Einführung des Bonus-Programms für »Brennpunktschulen« einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Schulen mit besonders hohen Anteilen sozial benachteiligter Jugendlicher vollzogen. Der nächste Schritt in diese Richtung sollte sein, auch beim Übergang in den Beruf die »BO-Schulen« besonders zu stärken.