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bbz 09 / 2019

Mein Plan ist, dass ich keinen Plan habe

Der »Vater des Mauer-Radwegs« und Erfinder des Iron-Curtain-Trail Michael Cramer über seine schulischen und politischen Jahre

Michael, du feierst dieses Jahr deinen 70. Geburtstag. Aus der aktiven Politik ziehst du dich jetzt zurück und hast nicht mehr bei den Europawahlen kandidiert. Was meinst du, hättest du als Lehrer auch so lange durchgehalten?

Wer weiß, aber die Frage hätte sich wegen der festgesetzten Altersgrenze ja gar nicht gestellt.

 

Du wärst als Lehrer 2014 pensioniert worden, hast aber bis jetzt im Europaparlament gearbeitet.

Ja, und mit viel Einsatz! Ich hatte drei Etappen in meinem Berufsleben: 20 Jahre im Schuldienst, 15 Jahre im Abgeordnetenhaus und 15 Jahre als EU-Abgeordneter in Brüssel und Straßburg. Und mir haben alle drei Arbeitsplätze sehr gut gefallen. Ich werde immer gefragt, was besser gewesen sei. Die Aufgaben und Herausforderungen waren sehr unterschiedlich, aber immer interessant.

 

Bis 1995 warst du im Schuldienst. Woran kannst du dich noch erinnern? Oder ist da eigentlich nichts mehr?

Doch, doch. Ich habe ja an der Albrecht-Dürer-Oberschule in Neukölln unterrichtet. Neulich war ich mal wieder dort, um über die Europa-Wahl zu sprechen. Mit den Schüler*innen diskutiere ich immer gern. Einige Kolleg*innen kannte ich sogar noch. Und Anfang des Jahres war ich bei einer Veranstaltung des Museums Neukölln als Zeitzeuge über Auswirkungen der 68er-Bewegung auf die Neuköllner Schulen.

 

Deine GEW-Aktivitäten kenne ich nur noch aus der Zeit der Spaltung. Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du gar nicht in den DGB zurück damals, oder?

Nein, weil der DGB die Berufsverbote akzeptierte. Wir waren gegen Berufsverbote und Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Das war ja auch verrückt, morgens kriegst du von der Schulverwaltung Berufsverbot, und wenn du abends zur Gewerkschaft gehst, fliegst du da auch noch raus. In der GEW gab es zwei Lager in der Frage der Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Ich kann mich noch gut an eine Demo-Veranstaltung mit Heinz Brandt erinnern, der ja wegen seiner Verteidigung der Aufstände am 17. Juni 1953 als SED-Sekretär abgesetzt wurde und später in den Westen ging, wo er dann als Redakteur bei der IG Metall gearbeitet hat. Heinz Brandt sagte 1974 am Wittenbergplatz: »Wenn wir heute hier gegen Berufsverbote demonstrieren, dann müssen wir aber auch an diejenigen denken, die weiter östlich leben.« Und er nannte Biermann und Havemann. Die eine Hälfte der Demonstranten hat geklatscht, die andere Hälfte nicht. Ich habe natürlich geklatscht.

 

Du warst in Neukölln auch im Personalrat aktiv. Was hat sich da bei dir besonders eingeprägt?

Neukölln war eine Hochburg der Berufsverbote. Der Stadtrat und die Schulverwaltung waren damals besonders aktiv bei der Disziplinierung linker Lehrer*innen. Mehr als ein Dutzend wurden aus dem Dienst entlassen. Sie gehörten unterschiedlichen linken Organisationen an. Manchmal gelang es aber auch, durch massiven Protest Entlassungen zu verhindern. Und in wenigen Fällen konnten wir durch unsere Personalratsarbeit auch eine Wiedereinstellung erreichen. Als ein Schulrat beispielsweise jemanden einstellen wollte, der in der DDR nicht als Lehrer arbeiten durfte, haben wir in den Einstellungsverhandlungen darauf hingewiesen, dass es auch bei uns Berufsverbote gab. Wir konnten erreichen, dass neben dem Berufsverbotsopfer aus Ost-Berlin auch ein Lehrer berücksichtigt wurde, der in West-Berlin mit Verweis auf den Radikalenerlass entlassen worden war. Beide wurden eingestellt.

 

Themenwechsel: Während die meisten Gewerkschaften des DGB die Atomkraftwerke behalten wollten, hat sich die GEW BERLIN dagegen ausgesprochen. Und du hast stolz deinen selbst gestrickten Pullover mit der AKW- Nein, danke!-Sonne getragen!

Ja, das ist eine schöne Geschichte. In Neukölln gab es damals ja diesen Bildungsstadtrat Böhm, rechte SPD. So einen Reaktionär gibt es selbst in der CDU heute nicht mehr. Wir hatten bei einer Besprechung mit ihm den Anti-AKW-Button getragen. Da hat er uns sofort wieder rausgeworfen. Das Tragen von Plaketten sei verboten, sagte er, und bezog sich auf einen Erlass von 1948. Ich kam dann auf die Idee, einen Pullover mit dem Anti-AKW-Symbol zu stricken. Hat eine Weile gedauert, hat sich aber gelohnt. Den trug ich auf Gesamtkonferenzen, auf Elternsprechtagen und im Unterricht. Keine*r hat mich aufgefordert, ihn auszuziehen.

 

Wie bist du denn überhaupt zum Stricken gekommen?

Ich habe das Stricken auf einer Italien-Reise gelernt. Eine der Mitreisenden nutzte die Autofahrt zum Stricken. Wir machten einen Deal, ich gab ihr Gitarren-Unterricht und sie brachte mir das Stricken bei. Später habe ich sogar noch in der Diesterweg-Hochschule einen Strickkurs angeboten. Da kamen acht Teilnehmerinnen, kein einziger Mann hat sich hingetraut.

 

Zum Stricken gibt es ja noch eine andere Anekdote. Als sich im Abgeordnetenhaus jemand über den strickenden Abgeordneten Cramer beschwert hat, soll die damalige Sitzungsleiterin Hanna-Renate Laurien (CDU) ihn in Schutz genommen haben mit den Worten: »Der Herr Cramer ist immer aufmerksam und immer kompetent. Da ist es mir egal, ob er strickt.«

Stimmt, da hat sie mich unterstützt. Hier und bei einigen anderen Sachen hatte sie wirklich Format. Als sie in den Ruhestand ging, habe ich ihr bei der Abschiedsfeier ein von mir gestricktes Paar Socken übergeben, die sie mit der Bemerkung entgegennahm: »Vielen Dank, dieses Hackenmuster kenne ich ja gar nicht!«

 

Du bist aber weniger als Produzent handgestrickter Pullis und Socken bekannt, sondern vor allem als Verkehrsexperte. Und besonders als »Vater des Berliner Mauer-Radwegs«. Wie bist du zum Fahrradfahren gekommen? Das westfälische Ennepetal, wo du aufgewachsen bist, ist doch ringsum ziemlich hügelig, oder?

Ja, das stimmt. Aber es war so, dass es in Ennepetal kein Schwimmbad gab, man musste dafür extra nach Gevelsberg. Aber wie komme ich dahin, zumal es gleich den Berg hochging? Die Lösung war das Fahrrad, mit dem ich mich bei den Steigungen dann verbotenerweise hinten an die Laster gehängt habe. So ist meine Liebe zum Fahrrad entstanden, die dann aber durch die Zeitumstände erst einmal versiegte. Denn wie alle anderen machte ich mit 18 den Führerschein und wollte Auto fahren.

 

Du bist nach deinem Studium in Mainz 1974 nach Berlin gekommen.

Genau. In Berlin sind übrigens damals nur ganz wenige mit dem Fahrrad gefahren. Mein Auto habe ich auch erst 1979 abgeschafft. Aus Überzeugung und weil ich es hier in Berlin auch nicht brauchte. Aber zunächst habe ich das Referendariat absolviert. Sport und Musik an der Ernst-Abbe-Oberschule. Meine Examensarbeit war zum Thema Koedukation in der Oberstufe am Beispiel Basketball. Das war eine spannende Sache. Ich habe da zunächst eine Basketballstunde aufgenommen und die hinterher mit den Schüler*innen analysiert. Dabei stellte sich heraus, dass von den Mädchen kaum eine den Ball bekommen hatte. Das haben wir dann besprochen und diskutiert, so funktionierte das soziale Lernen. In der letzten Stunde habe ich das Spiel wieder aufgenommen. Diesmal gab es aber im Unterschied zur ersten Stunde Regeln, nämlich dass jede*r Spieler*in mindestens fünfmal den Ball bekommen und einmal auf den Korb geworfen haben musste. Das klappte wunderbar: »Die muss noch auf den Korb werfen, der war zu wenig im Ballbesitz«, waren die Kommentare während des Spiels. Aber diese Richtung passte dem Fachbereichsleiter Sport nicht, sodass ich, obwohl mich der Schulleiter haben wollte, dort nicht bleiben konnte.

 

Und wie ging es dann weiter?

Ich bin an die Dürer-Oberschule gegangen, ab 1982 nur noch mit halber Stelle, weil ich inzwischen im Neuköllner Personalrat und gewerkschaftlich aktiv war. 1989 bin ich dann auf der Liste von Bündnis90/Die Grünen ins Abgeordnetenhaus gekommen und habe bald gemerkt, dass Schule und Politik zusammen nicht zu machen waren. Ich wollte ja nicht, dass für die Schüler*innen ständig was ausfällt. 1995 war dann Schluss. Denn mit der Gründung des Landesschulamtes waren wir auf einmal Landesangestellte. Und für die galt, dass sie nicht gleichzeitig Abgeordnete und im Land berufstätig sein durften. Ich war übrigens die erste Zeit Angestellter, weil ich aus politischer Überzeugung nicht Beamter werden wollte. Aber nach 66 Monaten musste ich mich auf Druck der Verwaltung doch verbeamten lassen.

 

So, jetzt müsste aber kommen, wie und wann du die Idee zum Mauer-Radweg gehabt hattest. Damals wurde doch auch diskutiert, ob man nicht einfach alles verschwinden lassen sollte: Die Schandmauer muss weg!

Die Idee, aus dem Grenzstreifen einen Radweg zu machen, hatten ADFC und Grüne schon ziemlich früh. Entlang der Mauer gab es in West-Berlin den Zollweg, zwischen Vorder- und Hinterlandmauer den Kolonnenweg der DDR-Grenztruppen. Erst der rot-grüne Senat stellte 2001 die verbliebenen Mauerreste unter Denkmalschutz und beschloss die fahrradfreundliche Gestaltung des 160 Kilometer langen Mauer-Radwegs. Was heute allseitig begrüßt wird als Bereicherung der Stadt, war damals aber durchaus strittig.

 

Und als das alles erledigt war, hast du dich gleich an den Europa Radweg Eiserner Vorhang gemacht?

Es war ja nicht nur Berlin gespalten, sondern auch Deutschland. Deswegen kam zunächst die Idee auf, einen Radweg an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zu initiieren. Die Grünen haben das dann im Bundestag eingebracht und es wurde 2004 einstimmig beschlossen. Ich bin im selben Jahr zum ersten Mal ins EU-Parlament gewählt worden und habe gleich weitergemacht. Der Kalte Krieg hatte ja auch Europa gespalten. Das spürten alle Länder, nicht nur die an der Grenze. Deswegen ist der Iron-Curtain-Trail auch ein die Identität Europas stärkendes Band! Das haben alle begriffen. Darum wurde dann 2005 auf meine Initiative hin mit überwältigender Mehrheit aus allen Ländern und allen Fraktionen beschlossen, den Iron-Curtain-Trail zu unterstützen. 10.000 Kilometer an der Westgrenze der ehemaligen Warschauer Pakt-Staaten entlang von der Barentssee bis zum Schwarzen Meer.

 

2007 ist der erste Band mit deiner Tourenbeschreibung erschienen, gerade dieses Jahr der letzte. Wenn du selbst alles abgeradelt hast, sind das pro Jahr über 800 Kilometer, reife Leistung!

Von den 10.000 Kilometern bin ich inzwischen 9.500 Kilometer abgeradelt und habe nebenbei noch im österreichischen Esterbauer-Verlag die fünf Radtourenbücher geschrieben. Die Strecken bin ich natürlich nicht alleine geradelt, sondern meist zusammen mit den Radexpert*innen aus den jeweiligen Ländern. Letztes Jahr bin ich beispielsweise mit einem bulgarischen Fahrradfreund von Thessaloniki zum Schwarzen Meer gefahren. Und die längste Tour war sechs Wochen und 2.000 Kilometer lang durch Norwegen, Finnland, Estland und Russland.

 

Und nie in Bedrängnis geraten?

Nein, eigentlich nicht. Ich hatte aber natürlich meist kundige Leute dabei. Und in Norwegen und Finnland werden ja Fahrradfahrer*innen behandelt wie Rentiere. Da bremsen die Autos sofort ab, um abzuwarten, was das Tier oder der*die Radelnde jetzt macht. So etwas Rücksichtsvolles habe ich sonst nie erlebt!

 

Jetzt kommt natürlich die Frage, was machst du denn in Zukunft?

Ja, die kommt immer. Aber ich sage auch immer: »Mein Plan ist, dass ich keinen Plan habe.« Mal ganz davon abgesehen, dass die bikeline-Bücher weiterhin ständig aktualisiert werden müssen. Da ist also immer noch ein bisschen zu tun bei fünf Bänden und 10.000 Kilometern! Gerade hat der Europarat übrigens beschlossen, dass der Iron-Curtain-Trail zur europäischen Kulturroute gehört. Toll!

 

In die Radtourenbücher hast du immer viel über die Geschichte der Länder geschrieben.

Ich bin kein Historiker, habe aber bei der Beschäftigung mit dem Iron-Curtain-Trail ziemlich viel mitbekommen. Und das gerade über die baltischen Staaten, die ja im Geschichtsunterricht oft stiefmütterlich behandelt wurden. Dazu gibt es auch noch eine schön-schreckliche Geschichte. Wir hatten ja gelernt, dass der Zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begonnen hat. Als wir im Parlament die Debatte über den Zweiten Weltkrieg hatten, haben dort sehr viel Osteuropäer*innen gesprochen und gesagt, ihr sprecht immer vom 1. September. Das ist zwar richtig, da kamen die Deutschen von Westen, aber am 17. September, da kamen die Sowjets von Osten. Und in der Mitte haben sie sich getroffen und eine Siegesfeier veranstaltet. Danach griffen sie im »Winterkrieg« Finnland an. Aber in Russland stehen auf den zahlreichen Denkmälern zum Zweiten Weltkrieg immer nur die Jahreszahlen 1941-1945. Unglaublich. Dass sie vorher Angriffskriege geführt haben, wird verschwiegen!

 

Mal zurück zu deiner abgebrochenen Schulkarriere. Hast du mitbekommen, was in den letzten Jahren in den Schulen so gelaufen ist?

Nicht alles, aber einiges habe ich schon noch mitbekommen. Zum Beispiel, dass nicht mehr alle Jahrgänge Kunst und Musik haben. Jetzt müssen die Schüler*innen wählen. Diejenigen, die zuhause kein Instrument gelernt haben, werden dazu verleitet, Musik abzuwählen. Das schmerzt mich als ehemaligen Musiklehrer natürlich besonders. Und dann dieser ständige Richtlinienwahnsinn. Dadurch wird Schule auch nicht besser.

 

Machst du eigentlich noch Musik?

Nein, nicht mehr. Ich habe Trompete gespielt. Und wenn man da nicht regelmäßig übt, dann verschwindet der notwendige Ansatz. Aber neulich war ich bei einer österreichisch-schweizerischen Veranstaltung, die dort ein Alpenmenü vorgestellt hatten. Und da stand auch ein Alphorn. Da habe ich dann doch mal gespielt und es ging gut!

 

Michael, die lauten Töne liegen dir eben! Wir danken für das informative Gespräch.