Nr. 34/2021
GEW BERLIN fordert Ausbildungsoffensive für die Lehrkräftebildung
Der Lehrkräftemangel hat sich zum Start des Schuljahres 2021/22 weiter zugespitzt und nimmt inzwischen dramatische Ausmaße an. Rund 60 Prozent der neu eingestellten Lehrkräfte haben kein Lehramtsstudium absolviert. In den Grundschulen konnten nur 15 bis 20 Prozent der neuen Stellen mit Lehramtsabsolvent*innen besetzt werden. Zudem bleiben Hunderte Stellen unbesetzt.
Besonders alarmierend ist, dass die größte Gruppe (40 Prozent) der neu eingestellten Lehrkräfte inzwischen Lehrkräfte sind, die weder über ein Lehramtsstudium noch über eine berufsbegleitende Qualifikation verfügen. Diese Kolleg*innen sind überwiegend befristet beschäftigt und erfüllen nicht die Voraussetzungen für den Quereinstieg. „Die Senatsverwaltung behandelt diese Kolleg*innen als reine Lückenfüller, bezahlt sie schlechter, befristet sie und macht ihnen keine gezielten Qualifizierungsangebote“, kritisierte Tom Erdmann, Vorsitzender der GEW BERLIN.
Die Ursache für den Lehrkräftemangel ist nach Auffassung der GEW BERLIN nicht die fehlende Verbeamtung, sondern, dass Berlin den Ausbau der Lehramtsstudienplätze verpasst hat. „Berlin bleibt bei der Ausbildung meilenweit hinter dem Bedarf zurück. Dabei sind die Herausforderungen seit Jahren bekannt.“ Die Berliner Universitäten haben sich in den Hochschulverträgen verpflichtet: Bis 2022 sollen jährlich insgesamt 2.000 Absolvent*innen mit Lehramtsabschluss (Master of Education) die Unis verlassen. Auch der Koalitionsvertrag der zu Ende gehenden Legislaturperiode sah das vor. Dieses Ziel wird deutlich verfehlt: 2018 waren es gerade einmal 910 Absolvent*innen. 2019: 878. Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor.
Die GEW BERLIN forderte angesichts der miserablen Ausgangslage eine Ausbildungsoffensive in der Lehrkräftebildung. „Die Politik könnte seit Jahren deutlich mehr tun, um den hohen Bedarf an pädagogischen Fachkräften zu decken. Der Senat hat hier versagt. Die künftige Berliner Landesregierung muss Lehrkräftebildung sofort zur Chefsache machen“, forderte Martina Regulin, Vorsitzende der GEW BERLIN.
Unsere Vorschläge für eine Ausbildungsoffensive in der Lehrkräftebildung:
- Der Schlüssel zur Deckung des Lehrkräftebedarfs durch Lehramtsabsolvent*innen liegt in der Verbesserung der Studienbedingungen, der gezielten Unterstützung der Studierenden, der Schaffung von Anreizen für ein erfolgreiches Absolvieren des Lehramtsstudiums und auch der Flexibilisierung des Praxissemesters. Die Zahl der Studienplätze im Lehramt wurde zwar seit 2015 schrittweise ausgebaut; der Aufwuchs beim Hochschul-Personal ist aber noch unzureichend. Betreuung und Beratung der Studierenden müssen verbessert werden. Dafür braucht es mehr Personal mit geringerer Lehrverpflichtung und zusätzliche Tutorien, besonders auch in den Fachwissenschaften.
- Das Berliner Senats-Sonderprogramm „Beste Lehrkräftebildung für Berlin“ von Juni 2020 war ein Versuch, die Studienbedingungen zu verbessern. Die meisten der Vorhaben sind bisher aber nicht umgesetzt. So hat es keinen Ausbau der Studienplätze für die Quereinstiegs-Masterstudiengänge gegeben.
- Insbesondere das Praxissemester im Masterstudium ist inzwischen ein Flaschenhals. Masterstudierende müssen ohne Verzögerung in das Praxissemester gehen können. Lehramtsstudierende im Praxissemester und im gesamten Masterstudium benötigen zudem finanzielle Unterstützung, wenn wir sie an Berlin binden wollen.
- Auch der Übergang in das Referendariat muss verbessert werden, damit Lehramtsabsolvierende keine Zeitverzögerungen haben. Die Universitäten müssen ihre Abläufe bei der Erfassung und Ausstellung der Studien- und Prüfungsleistungen verbessern und die Fristen mit der Senatsverwaltung koordiniert werden.
- Absolvent*innen im Lehramt ISS/Gymnasium müssen die Möglichkeit erhalten, ihr Referendariat (Vorbereitungsdienst) auf Wunsch im Grundschullehramt zu absolvieren. Zahlreiche Bundesländer haben dazu Sondermodelle aufgelegt (z. B. Hessen).
- Schulwünsche von Bewerber*innen zum Referendariat sollten stärker berücksichtigt werden, insbesondere bei familiären Verpflichtungen. Seminarzeiten sind familienfreundlicher zu gestalten.
- Hürden bei der Anerkennung von Lehramtsabschlüssen ausländischer Lehrkräfte sind abzubauen, durch einen leichteren Zugang zum Studium für ein zweites Fach, durch Sprachpraxiskurse, finanzielle Unterstützung und eine Begleitung bis zur vollständigen Anerkennung.
- Alle Maßnahmen zur Bindung von Lehramtsabsolvent*innen in den Phasen Masterstudium, Übergang ins Referendariat und Übergang in den Schuldienst sollten durch eine Taskforce des Berliner Senats mit den Unis zusammen begleitet werden.
Unsere Vorschläge für den Quereinstieg und für Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung:
- Die Plätze für die Quereinstiegs-Masterstudiengänge müssten bedarfsgerecht ausgebaut werden, vor allem für das Grundschullehramt und die MINT-Fächer. Auch an der Freien Universität brauchen wir einen Q-Master Grundschullehramt. Interesse ist da – es fehlt an Plätzen. An der Humboldt Universität gab es 2020/21 für 90 Studienplätze 400 Bewerbungen.
- Das Stipendium für Studierende in den Quereinstiegs-Masterstudiengängen Lehramt in MINT-Fächern muss erhöht, fortgeführt und auf alle Masterstudiengänge Lehramt ausgedehnt werden.
- Die Ausbildungskapazitäten der Senatsverwaltung im StEPS für Quereinsteiger*innen sind deutlich auszubauen, damit die Quereinsteigenden nicht wie bisher erst ein Jahr nach der Einstellung mit ihren „Studien“ beginnen können. Unis müssen in diese Ausbildung einbezogen werden.
- Lehrkräfte ohne volle Lehrbefähigung (LovL) bzw. Seiteneinsteiger*innen müssen gezielt für die Quereinstiegs-Masterstudiengänge der Universitäten gewonnen und unterstützt werden. Berlin muss diesen Lehrkräften eine Ausbildungschance geben und sie bei Aufnahme eines Q-Masterstudiums durch bezahlte Ermäßigungsstunden unterstützen.
Auch der Bedarf an Erzieher*innen kann in den Schulen und Kitas nicht gedeckt werden
Die zu Beginn der Legislaturperiode versprochene Verbesserung des Personalschlüssels in der Ganztagsschule ist auch im neuen Schuljahr erneut ausgeblieben. „Die Erzieher*innen warten nun schon seit mehr als fünf Jahren auf die ersehnte Personalverbesserung. So ist nahezu jeder Tag ein Kampf hart an der Belastungsgrenze. Das geht zu Lasten der Kinder und der Kolleg*innen. Es ist unmöglich, unter diesen Bedingungen den qualitativen Ausbau der Ganztagsschulen voranzutreiben“, stellte Regulin fest.
Auch für die Kitas und den Ganztag fordert die GEW eine echte Ausbildungsoffensive und attraktive Arbeitsbedingungen. Die schlechten Arbeitsbedingungen wiederum führen zu einer hohen Personalfluktuation, was unstetige Betreuungssettings, Überarbeitung und Krankheit der Kolleg*innen mit sich bringt und die Attraktivität des Erzieher*innenberufs sinken lässt.
Inklusion ist unter diesen Bedingungen nur schwer umzusetzen. Zunehmend sehen sich Kitas und Eltern gezwungen, erhöhte Förderbedarfe für ihre Kinder nicht zu beantragen, da es schlicht an Facherzieher*innen fehlt, die die zusätzlichen Aufgaben dann auch übernehmen könnten. „Wir müssen feststellen, dass die Kitas auf Basis der Regelausstattung nicht allen Kindern mit Förderbedarf gerecht werden können. Kinder mit schweren körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen können nur mit erhöhter Unterstützung im Kitaalltag betreut werden. Bei einigen Kindern ist eine Eins-zu-eins-Betreuung erforderlich. Die aktuelle Personalbemessung sieht das aber nicht vor. Nur die wenigsten Kitas können unter diesen Bedingungen Kinder mit entsprechendem Förderbedarf betreuen“, unterstich Christiane Weißhoff, Leiterin des Vorstandsbereichs Kinder-, Jugendhilfe und Sozialarbeit in der GEW BERLIN.
Corona-Management mit offenen Fragen
Die GEW BERLIN begrüßt, dass zum Schuljahresstart zumindest für einen kurzen Zeitraum einheitliche Infektionsschutzmaßnahmen vorgesehen sind. Um zusätzliche Konfliktfelder an den Schulen zu vermeiden, wären dauerhaft einheitliche Regeln für das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes sinnvoll. Präsenzunterricht ohne Mund-Nase-Schutz (MNS) ist angesichts der wieder steigenden Infektionszahlen schwer vorstellbar. Immerhin werden viele ungeimpfte Kinder und Jugendliche ohne Abstand in geschlossenen Räumen viel Zeit miteinander verbringen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) empfiehlt die Beibehaltung der Basismaßnahmen in Innenräumen bis mindestens Frühjahr 2022.
Die GEW BERLIN fordert, dass es bei allgemein erhöhtem Infektionsgeschehen in Berlin und bei Auftreten eines Infektionsfalls in der Schule verbindliche tägliche Tests an den Schulen geben sollte. Sie erneuert ihre Forderung, dass hier zusätzliches Personal unterstützen muss. Sollten sich auch Ansteckungen von Geimpften häufen, müssten die Regelungen zum Testen angepasst werden.
Klare Richtwerte fehlen im Stufenplan
Die Überarbeitung des Stufenplans und Reduzierung auf drei Stufen Regelbetrieb (grün), Wechselunterricht (gelb), Schulschließung (rot) ist aus Sicht der GEW BERLIN sinnvoll. Was jedoch im Stufenplan weiter fehlt, sind konkrete Zahlen bzw. definierte Bedingungen, ab wann welche Stufe gelten soll. Beschäftigte, Schüler*innen, Eltern brauchen Klarheit und Transparenz. Der Senat sollte zeitnah möglichst kohärente und einheitliche Absprachen treffen. Auch der Umgang mit positiven Fällen muss einheitlich und klar geregelt werden – in welchen Fällen ist Quarantäne erforderlich oder wann reicht die tägliche Testung?
Die angeschafften Luftfilter sind zwar ein begrüßenswerter erster Schritt, aber zu wenig. Jeder Unterrichtsraum in Berlin sollte zeitnah über einen Luftfilter verfügen. Die Lüftung wird im Herbst und Winter wieder viele Schulen vor große Herausforderungen stellen.
Aufholprogramm ohne langfristige Perspektive
Die Einrichtung von Schulbudgets zum Abfedern von entstandenen Lernrückständen und von psychosozialen Schwierigkeiten ist der richtige Schritt. Wichtig ist, dass die Mittel den Schulen zügig bereitgestellt werden, damit die Programme starten können. Begrüßenswert ist auch die zusätzliche Unterstützung von Schulen, die einen besonders hohen Bedarf haben. Die GEW BERLIN vermisst jedoch die Perspektive für den langfristigen Ausbau von Unterstützungsstrukturen. So fehlt die Schulpsychologie in dem Programm „Stark trotz Corona”. Obwohl davon auszugehen ist, dass im psychosozialen Bereich auch in den nächsten Jahren schulpsychologische Expertise zur Begleitung von Schüler*innen, Eltern und Beratung von Schulpersonal erforderlich sein wird, erfährt dieser Bereich keine Stärkung. Die GEW BERLIN fordert eine Ausweitung der schulpsychologischen Stellen.
Auch für die Bereiche der Jugendarbeit und Jugendhilfe sind strukturelle und langfristige Verbesserungen von Nöten. Eine Ausrichtung auf einjährig befristete Projekte ist aus Sicht der GEW BERLIN wenig zielführend. Das Land Berlin täte gut daran, Perspektiven für die Zeit nach Ablauf der einjährig befristeten Bundesmittel für die Bereiche Kita, Schule und Jugendhilfe zu entwickeln, um Unterstützungsangebote langfristig abzusichern.