Nr. 18/2023
Wie kommen wir aus der Bildungskrise?
Die Bildung in Berlin steckt in einer fundamentalen Krise. Es wird zu den großen Herausforderungen des künftigen Senats gehören, adäquate Antworten darauf zu finden. Vor den finalen Koalitionsverhandlungen im Bereich Bildung haben sich wesentliche Akteur*innen der Berliner Bildungslandschaft zusammengetan, um die drängendsten Herausforderungen im Bildungsbereich zu benennen und den Verhandler*innen von SPD und CDU Maßnahmen mit auf den Weg zu geben.
„Wir vertreten die Schüler*innen, die Eltern und die Beschäftigten von der Kita bis zur Hochschule. Unsere Perspektiven sind unterschiedlich, unsere Botschaft ist eindeutig: Wir brauchen einen Ausweg aus der Bildungskrise. Dieser wird nur gelingen, wenn Bildung endlich Priorität erhält!“, so die Vertreter*innen von GEW BERLIN, Landeselternausschuss Schule, Landesschüler*innenausschuss, Schule muss anders, Kitabündnis, Berliner Bündnis Qualität im Ganztag, AG Weiße Fahnen und der Landesvertretung Akademischer Mittelbau Berlin. „Gemeinsam stehen wir für ein inklusives und sozial gerechtes Bildungssystem, das alle Kinder und Jugendlichen individuell stärkt und echte Teilhabe ermöglicht. Das erfordert mutige Konzepte, motivierte und gut ausgebildete Fachkräfte, inklusive Räume und finanzielle Ressourcen. Ja, das ist ein großes Paket. Und ja, das ist notwendig. Notwendig für unsere Kinder und Jugendlichen, notwendig gegen soziale Spaltung und für Demokratie und Teilhabe, notwendig für gute Arbeit in den Bildungseinrichtungen und notwendig, um künftig pädagogische Profis gewinnen und ausbilden zu können.“
Zehn zentrale Forderungen stellt das Bündnis an die designierten Koalitionsparteien CDU und SPD. Folgende Punkte sollten Eingang in den neuen Koalitionsvertrag finden:
Demokratie, Partizipation und Antidiskriminierung
- Dialog auf Augenhöhe mit den relevanten Gremien, Akteur*innen und Praxisvertreter*innen der Berliner Bildungslandschaft – zur Vereinbarung mutiger Schritte zur Lösung der Probleme im Bildungsbereich.
- Inklusion und Antidiskriminierung in allen Bildungsbereichen. Für alle Kinder und Jugendlichen muss ein gemeinsames, gut begleitetes und auch diskriminierungsfreies Lernen ermöglicht werden. Benachteiligte Gruppen müssen besonders im Blick behalten und zusätzlich unterstützt werden. Ein neuer Koalitionsvertrag darf keinesfalls hinter in der Vergangenheit beschlossene Vorhaben zurückfallen. Inklusion und Antidiskriminierung müssen vorangetrieben und umgesetzt werden.
Personalausstattung
- Personalaufwuchs in der Kita! Wir brauchen einen Kita-Personalschlüssel von 1:3 für unterdreijährige und von 1:6 für überdreijährige Kinder, um die so entscheidende pädagogische Arbeit in der frühkindlichen Bildung machen zu können.
- Der gesetzlich vorgeschriebene Personalschlüssel im Ganztag muss von jetzt 1:22 auf 1:15 abgesenkt werden. Für Leitungstätigkeit ist ein kindgebundener Schlüssel von 1:150 mit einer Deckelung von maximal zwei vollen Stellen an einer Schule vorzusehen.
- Stärkung der Sozialen Arbeit durch ein Personalbedarfsbemessungsmodell in den regionalen sozialpädagogischen Diensten der Jugendämter. Bemessung des Bedarfs am tatsächlichen zeitlichen Aufwand und Einführung einer längst überfälligen Fallzahlenbegrenzung.
- Multiprofessionelle Teams: Dauerhafte Einstellung von zusätzlichem pädagogischem und nichtpädagogischem Personal in den Schulen, Umsetzung von Entlastungsmaßnahmen www.gew-berlin.de/aktuelles/detailseite/fuenf-mittel-gegen-akute-beschwerden.
Ausbildungsoffensive und gute Arbeit in der Wissenschaft
- Ausbildungsoffensive und Hochschulverträge: Ausbau der Lehramtsstudienplätze mit dem Ziel, dass jährlich 3.000 Lehramtsabsolvent*innen ihr Studium abschließen; Erhöhung der Erfolgsquote im Lehramt durch gezielte Unterstützung und bessere Betreuung und Beratung der Studierenden. Hierfür müssen die lehrkräftebildenden Universitäten deutlich mehr Geld und Personal erhalten, um diesen Kapazitätsaufwuchs leisten zu können. Dazu müssen die Hochschulen über den prozentualen jährlichen Aufwuchs hinaus eine “Sonderfinanzierung Lehrkräftebildung” von mind. 17 Mio. Euro pro Jahr zusätzlich erhalten, die langfristig für die gesamte Laufzeit der Hochschulverträge und darüber hinaus festgeschrieben werden muss.
- Gute Arbeit in der Wissenschaft stärken: Dauerstellen für Daueraufgaben und attraktive Beschäftigungsverhältnisse in den Hochschulen, um Lehrkräfte und die in Erziehung und Wissenschaft tätigen Fachkräfte adäquat auszubilden.
Rahmenbedingungen und Infrastruktur
- Ein Tarifvertrag für kleinere Klassen. Den Weg ebnen könnte eine schulgesetzliche Regelung.
- Ausbau der Infrastruktur, Digitalisierung, Sanierung und Neubau in allen Bildungsbereichen.
Zu den Forderungen liegen konkrete Umsetzungsvorschläge der anwesenden Organisationen vor.
Martina Regulin, Vorsitzende der GEW BERLIN: „Die Bildung ist von der Kita bis zur Hochschule in einer Notlage. Es geht nicht um einzelne Probleme oder Versäumnisse, es geht um eine Krise des ganzen Systems. Die GEW BERLIN hat – ebenso wie andere bildungspolitische Akteur*innen der Stadt – schon seit Langem auf Problemlagen aufmerksam gemacht und Lösungswege aufgezeigt. Wir erwarten von einer zukünftigen Landesregierung, dass sie dem Thema Bildung die höchste Priorität einräumt! Wir erwarten auch, dass sie sich mit uns Bildungsakteur*innen an einen Tisch setzt und gemeinsam nach Lösungen sucht, anstatt über unseren Kopf hinweg zu entscheiden“.
Sonya Mayoufi, Kitabündnis: „Um unseren gesetzlichen Auftrag der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung sowie das politisch ausdrücklich formulierte Ziel der Bildungsgerechtigkeit umzusetzen, brauchen wir dringend einen angemessenen Personalschlüssel, entsprechende Gruppengrößen, ausreichende Räume sowie qualifizierte Fachkräfte mit entsprechenden Zeitressourcen. Das Kitabündnis fordert daher, die Empfehlungen der Bertelsmann-Stiftung umzusetzen. Innerhalb der Legislaturperiode muss das Ziel erreicht werden, einen Betreuungsschlüssel für unterdreijährige Kinder von 1:3 und für überdreijährige Kinder von 1:7,5 umzusetzen. Eine angemessene Ausstattung der Berliner Kitas mit Fachpersonal ist Voraussetzung für mehr Zuwendung und mehr Zeit für jedes Kind.“
Fabian Schmidt, AG Weiße Fahnen: „Für die Soziale Arbeit in den Jugendämtern ist es dringend erforderlich, dass die Kolleg*innen Fälle nach einem transparenten und verbindlichem Personalbemessungsmodell bearbeiten. Aktuell können die Kolleg*innen in den Regionalen Sozialpädagogischen Diensten der Jugendämter die Anforderungen, die sich aus dem SGB VIII ergeben, nicht umsetzen. Eine optimale Personalausstattung bei Berücksichtigung aller genannten Parameter sieht demnach mindestens eine Fachkraft pro 28 Fälle und Familien vor. Zurzeit berichten Kolleg*innen von mehr als 70 Fällen pro Fachkraft. Neben der öffentlichen Jugendhilfe leisten die vielen freien Träger der Jugendhilfe in dieser Stadt einen wesentlichen Beitrag zur Sozialen Arbeit. Eine auskömmliche und verlässliche Finanzierung von freien Trägern der Jugendhilfe ist unabdingbar, um gesetzliche Hilfsangebote auch zu garantieren. Jegliche Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe kosten die Gesellschaft langfristig doppelt und dreifach.“
Elvira Kriebel, Berliner Bündnis Qualität im Ganztag: „Das Berliner Bündnis Qualität im Ganztag fordert Ganztagsschulen, die gute Lebens- und Bildungsorte sind. Orte, an denen Kinder mit unterschiedlichsten Voraussetzungen gemeinsam aufwachsen, gemeinsam Bildung und Erziehung erfahren. Voraussetzung für gelingende Sozialisationsprozesse und Kompetenzentwicklung ist Qualität, wie Studien belegen. Diese Qualität muss erreicht werden! Auch 18 Jahre nach der Übertragung der Horte an die Berliner Ganztagsschulen fordert unser Bündnis: 1. Mehr Personal! 2. Mehr Zeit für gute Arbeit! 3. Ausreichend Platz! 4. Bessere digitale Ausstattung!“
Philipp Dehne, Schule muss anders: „Jetzt müssen die Weichen für Auswege aus dem Lehrkräftemangel gestellt werden. In Koalitionsvertrag und Hochschulverträgen muss eine Ausbildungsoffensive mit dem Ziel, 3.000 Lehrkräfte jährlich auszubilden, verankert werden. Für diesen Aufwuchs und gute Studienbedingungen müssen den Unis zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt werden. Zur Sofortunterstützung der Schulen braucht es multiprofessionelle Teams und eine ernsthafte Diskussion über eine Anpassung der Stundentafel. Die aktuelle Bildungskrise betrifft alle, aber nicht alle gleich. Trotz all der Mangeldiskussionen müssen Bildungsgerechtigkeit, Inklusion und Antidiskriminierung die Leitplanken bildungspolitischer Entscheidungen sein.”
Aimo Görne, Vorsitzender des Landesschüler*innenausschusses Berlin: „Das Berliner Bildungssystem steckt in einer tiefen Krise! Nicht nur, dass die Gegenmaßnahmen zu langsam gestartet werden, sondern auch der grundlegende Fakt, dass noch nicht Alle diese Bildungskrise anerkennen möchten, verschlimmert diese nur umso mehr. Das zeigt sich vor allem durch die vorgeschlagenen bzw. angeschlagenen Maßnahmen, welche entweder nicht weit genug gehen oder untragbar in der Umsetzung wären und vor allem einseitig Lehrkräfte, Schüler*innen oder die Bildungsqualität stark belasten. Wir brauchen jetzt die Maßnahmen, mit denen wir die Bildungsqualität von morgen sichern und die Bildungskrise von heute bezwingen!“
Norman Heise, Vorsitzender des Landeselternausschusses Schule: „Wir erleben in den letzten Jahren einen fließenden Übergang aus einer Mangelsituation in eine echte Bildungskrise mit unabsehbaren Folgen für Berlin und ganz Deutschland. Allen derzeitigen und zukünftigen Schüler*innen sind wir es schuldig, einen klaren Fokus auf Bildung zu setzen – auch aufgrund der Versäumnisse der letzten Jahrzehnte und der Folgen aus der Pandemie. Die heutige gemeinsame Runde ist Ausdruck der Geschlossenheit der beteiligten Akteur*innen, notwendige Schritte nicht nur zu beschreiben und auf ihre Umsetzbarkeit zu prüfen, sondern klare Forderungen zu stellen, die auch zeitnah umgesetzt werden.“
Dr. Constanze Baum, Landesvertretung Akademischer Mittelbau Berlin: „Wir sehen große Herausforderungen für die Ausbildung von Lehrkräften an Universitäten, die vielfach von Seiten des akademischen Mittelbaus getragen wird. Der Ausbau von Hochdeputatsstellen sowie Kurzfristförderungen in überlasteten und maroden Infrastrukturen können nicht Allheilmittel für die Lehrkräftebildung sein. Ziel muss es sein, den Ausbildungsort zukunftsfähig zu gestalten, gute Betreuungsverhältnisse zu schaffen und die Qualität in der Lehre verlässlich zu sichern und forschungsnah auszubauen. Das kann nur gelingen, wenn attraktive Arbeitsbedingungen für Beschäftigte an der Universität geschaffen werden.“