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Schwerpunkt "Demokratie und Hochschule"

Allein unter Akademiker*innen

Dass an deutschen Unis immer noch sehr wenige Menschen aus Nichtakademiker-*innen-familien studieren, ist ein Problem für unsere Demokratie. An der Humboldt Universität setzt sich das Netzwerk »Seid Ihr die Ersten?« für mehr Unterstützung ein.

Foto: Joshua Schultheis und Fabian Bennewitz

Was bedeutet es für eine Demokratie, wenn Kinder aus Nichtakademiker*innenfamilien an Universitäten so deutlich unterrepräsentiert sind wie in Deutschland? Dies ist kein Versuch einer wissenschaftlichen Antwort, sondern ein Bericht über Probleme im universitären Alltag der Geschichtswissenschaften.

Der letzte Bildungsbericht des Centrums für Hochschulentwicklung von 2022 zeichnet ein düsteres Bild der Gesamtsituation. Jugendliche, deren Eltern keinen Hochschulabschluss erworben haben, entscheiden sich auch mit eigener Hochschulreife weitaus seltener für ein Studium als Kinder aus Akademiker*innenfamilien.

Erschwerend kommt hinzu, dass an deutschen Universitäten und Hochschulen viel zu wenig Unterstützungsangebote für diese »Ersten« zur Verfügung stehen, sodass sich der unselige Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungsmisserfolg auch nach Aufnahme eines Studiums fortsetzt.

Die Elite unter sich

In Deutschland reproduzieren sich die Eliten also in hohem Maße selbst, und verhindern – ob absichtlich oder unbewusst – sozialen Aufstieg durch Bildung, was wiederum zentral für politische Teilhabe ist. Das zeigt sich allein daran, dass die überwältigende Mehrheit der Bundestagsmitglieder über einen Hochschulabschluss verfügt. In den Bundesländern, in der Ministerialbürokratie, in Verbänden und bei politischen Parteien dürfte es ähnlich aussehen.

Die Idee der Demokratie, ihre Definition und Umsetzung werden in der Geschichtswissenschaft diskutiert, durchaus auch kontrovers. Doch wie geht die Geschichtswissenschaft jenseits eines Forschungsinteresses mit der Demokratie um? Wie demokratisch ist das Geschichtsstudium in Deutschland?

In der Theorie ist der Zugang zum Studium der Geschichtswissenschaften völlig demokratisch geregelt. Das Studium steht allen Interessierten offen und ist sogar nur an wenigen Hochschulen zulassungsbeschränkt. Im Alltag zeigt sich jedoch, dass eine Selektion unmittelbar wahrzunehmen ist.

Auffällig wenige Studierende mit nichtdeutschem Hintergrund wählen das Studienfach, selbst in Städten wie Berlin. Das Studium beruht weitestgehend auf Arbeitstechniken, die eine hohe Selbständigkeit und Disziplin verlangen. Zugleich werden viele Anforderungen nicht explizit definiert, da sie scheinbar selbstverständliche Fähigkeiten sind. Zum Beispiel wissenschaftliches Lesen, Schreiben und Sprechen. So etwas kann man halt, und wem es nicht leichtfällt, der*die sei zum Studium vielleicht einfach nicht geeignet, so lautet oft die unterschwellige Botschaft.

Jedoch sind diese Fähigkeiten mitnichten selbstverständlich oder gar eine Begabung, sondern erlernbare Arbeitstechniken: zeiteffizientes Lesen und das Exzerpieren der relevanten Informationen aus dichten wissenschaftlichen Texten, das Formulieren von Thesen, Meinungen und Argumentationen als Text oder als mündlicher Vortrag.

Diese Techniken sind Studierenden aus Akademiker*innenhaushalten oft so geläufig wie ihren Dozierenden, sodass es keiner großen Erklärung bedarf. Gegebenenfalls lässt sich eine Frage an die Eltern stellen, die im Idealfall sogar im Fach sattelfest sind oder zumindest Erfahrung mit wissenschaftlichem Arbeiten haben.

Fehlt diese Rückendeckung zu Hause, kann schnell der Eindruck entstehen, es handele sich um fehlendes Talent, ohne welches das Studium zum Scheitern verurteilt sei. Die strukturellen Probleme im deutschen Hochschulwesen (große Personalfluktuation und überfüllte Seminare) führen dazu, dass insbesondere Studierende mit nichtakademischem Hintergrund die notwendige Betreuung bei der Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten und oder Referaten nicht erhalten. Das führt dann zu Verzweiflung und unter Umständen zum Abbruch des Studiums.

Auslandsaufenthalte und die Studiendauer sind unter diesen Umständen nicht von persönlichen Entscheidungen abhängig, sondern von den Möglichkeiten, diese zu finanzieren. Das kratzt am Selbstbewusstsein und führt in der weiteren wissenschaftlichen Karriere zu weiterer sozialer Unsicherheit, weniger nützlichen Kontakten oder der voreiligen Aufgabe von Drittmittelanträgen.

Arbeiter*innenkinder organisieren sich

An den Universitäten wurde dieses Problem lange Zeit nicht als solches wahrgenommen. Erst durch engagierte Betroffene wurde das Thema öffentlich gemacht. Seit über 15 Jahren existiert zum Beispiel das Netzwerk arbeiterkind.de und versucht, Kindern aus Nichtakademiker*innenfamilien vor und während des Studiums dringende Unterstützungsangebote anzubieten.

Aus diesem Kontext heraus wurde im Jahr 2013 unter anderem von Lehrenden und Studierenden am Institut für Geschichtswissenschaften der HU Berlin eine Art Ableger gegründet: die Initiative »Seid Ihr die Ersten?«. Ziel war es, ein Unterstützungsformat zu entwickeln, welches geisteswissenschaftliche Arbeitsmethoden in den Mittelpunkt stellt und Sichtbarkeit vor Ort schafft.

Die Mitglieder geben ihre Erfahrungen weiter, bieten Unterstützung an und vermitteln Hilfsangebote. Ein sehr erfolgreiches Format ist der Hausarbeiten-Workshop und ein regelmäßig stattfindendes Seminar zu wissenschaftlichem Schreiben.

Zentral ist auch die Aufklärungsarbeit. Vielleicht noch stärker als in anderen Fächer ist die Geschichtswissenschaft eine Bastion bildungsbürgerlicher Exklusivität. Es gilt hier auch Überzeugungsarbeit nach innen zu leisten, dass auch in diesem exklusiven Fach soziale Diversität dringend nötig ist.

Geschichte braucht soziale Diversität

Unsere heutigen Studierenden sind die Forscher*innen von morgen, die dringend zu neuen Themen wie Migration, Ungleichheit und sozioökonomische Teilhabe arbeiten müssen. Auch bilden sie die Geschichtslehrer*innen von morgen aus, die in einer mittlerweile stark migrantisch geprägten Gesellschaft vor der Herausforderung stehen, deutsche Geschichte im Kontext anderer Erfahrungshorizonte zu vermitteln.

Kulturelle und soziale Sensibilität sind hierfür eine zentrale Voraussetzung. Eine Studierendenschaft, die diverse soziale, ethnische oder andere Herkunftskontexte abbildet, ist daher unbedingt nötig für die Integration aller gesellschaftlichen Gruppen in das politische Gemeinwesen und leistet einen Beitrag für die Sicherung der Demokratie. Wir brauchen dringend mehr Studierende aus Nichtakademiker*innenfamilien. Die Universitäten müssen die nötigen Ressourcen bereitstellen, um diesen Studierenden auch den Studienabschluss zu ermöglichen.

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46