Zum Inhalt springen

Schule

Bildung als Selbstoptimierung

Lehrer und Autor Nils B. Schulz blickt kritisch auf die vermeintlich emanzipatorische Dimension der Digitalisierung.

Foto: Adobe Stock

bbz: Du hast gerade einen sehr kritischen Essay über das Schulsystem und dessen Digitalisierung veröffentlicht. Woher rührt diese kritische Einstellung?

Nils B. Schulz: Ich bin im Studium in Gießen ganz früh mit Kritischer Theorie in Kontakt gekommen, also zum Beispiel mit Adorno und auch mit psychoanalytischer Gesellschaftstheorie. Im Studium war Schulkritik immer Teil der Ausbildung. Die Referendar*innenausbildung habe ich als sehr eindimensional und doktrinär empfunden. Damals fing schon diese Methoden-Fixierung an, die wir heute noch haben, und die Lehrer*innen-Persönlichkeit, also die Individualität, spielte kaum eine Rolle. Wir wurden relativ schnell in bestimmte Schablonen und Unterrichts-Schemata gepresst.

 

Das Kompetenz-Modell hat vor etwa 20 Jahren im deutschen Bildungssystem Einzug gehalten. Welche Unterschiede bestehen für dich zwischen diesem und dem vorherigen Modell?

Schulz: Der grundlegende Unterschied ist für mich, dass mit der Kompetenz-Modellierung von Unterricht ein sehr technokratisches Vokabular nicht nur in die Lehrer*innenausbildung, sondern auch in den Unterrichtsalltag gekommen ist. Die Kompetenzorientierung ist nicht ohne die Fixierung auf Output statt Input zu verstehen, also auf Messbarkeit statt auf Inhalte. Es wird nur noch das als Bildungsziel oder als Lernziel deklariert, was sich auch irgendwie messen lässt. Ich denke aber, dass im Unterricht überhaupt gar keine Kompetenzen gezeigt werden können, sondern nur der Vollzug von Kompetenzen, also Performanzen. Wenn jemand eine Klausur schreibt, dann habe ich am Ende nicht seine Kompetenz, sondern die Performanz dieses Tages geprüft.

 

Welche Nachteile hat dieses Modell aus der Perspektive der Lernenden?

Schulz: Sie können das gar nicht so verbalisieren. Sie spüren diffus, die Schule ist stressig. Testungen und Methoden-Workshops spielen eine immer größere Rolle. Sie kennen ja das alte Modell nicht, wie auch die jungen Lehrer*innen nicht. Ich möchte die alte Schule auch überhaupt nicht verklären, aber die Schüler*innen kennen nicht den bildungszentrierten Unterricht von früher. Der Unterricht verkommt heute zum Training: Ich muss auf Prüfungsformate hintrainieren und weniger Inhalte bedenken. Schule ist durch die Kompetenzorientierung quasi industrialisiert worden. Dieses Problem kann man mit kritischen Schüler*innen diskutieren.

 

Was hat dieses Modell für uns Lehrende verändert?

Schulz: Wenn man das Kompetenz-Modell ernst nimmt, muss man die Schüler*innen in verschiedene Kompetenzbereiche zerlegen. In Ethik oder in Deutsch sind es vier bis sechs Kompetenzen, die ich eigentlich mehrmals im Jahr, an meiner Schule mindestens sechs Mal, bewerten müsste. Das heißt, wenn ich 150 Schüler*innen unterrichte, habe ich am Ende 5.000 bis 6.000 Noten. Diese Zunahme von Daten und Quantifizierungen würde ich auch der Technisierungstendenz zuordnen.

 

Liegt dem Kompetenz-Modell ein andersartiges Bildungsideal oder Menschenbild zugrunde?

Schulz: Ich glaube, dass das Modell sehr gut in das utilitaristisch-kapitalistische Denken passt. Der Grundgedanke ist, dass wir in einer so dynamischen Gesellschaft leben, dass es sich angeblich nicht mehr lohnt, feste Inhalte zu vermitteln, weil sie so schnell veralten würden. Also vermittelt man sogenannte Kompetenzen. Meiner Erfahrung nach bilden sich Menschen aber an Inhalten, an Fragen, an Themen, und die werden – wenn man sich die Lehrpläne anguckt – immer unwichtiger. Das führt zu einer neuen Form von Subjekt, das zu sich selbst einen eher technischen Zugang findet. Also: »Wie wende ich etwas an?«, »Wie setze ich etwas um?« Die Digitalisierung kann daran viel besser andocken als an das alte humanistische Bildungsideal mit seinen Wachstumsmetaphern.

 

Was ist an der Digitalisierung zu kritisieren?

Schulz: Da gibt es das Ergänzungspapier der Kultusministerkonferenz zur Digitalisierung, in dem es ständig um die Entwicklung von Potenzialen geht. Man merkt aber erst beim zweiten Lesen, dass es nicht mehr um die Potenziale der Schüler*innen, sondern um die Potenziale der Digitaltechnik geht. Wir Lehrer*innen sollen also jetzt angeleitet werden, die Technik, die von Digitalpakt-Geldern gekauft worden ist, im Unterricht »anzuwenden«, »zu implementieren«, »umzusetzen«. Der Entwicklungs- oder Wachstumsgedanke aus dem alten Bildungsmodell verschwindet, und jetzt soll es sogar vornehmlich darum gehen, die Potenziale der Technik zu entfalten.

Auch der Bildungsbegriff ist eigentlich verschwunden aus diesem Papier. Er kommt nur noch in Konglomeraten wie »Medienbildung« oder »Bildungsdaten« vor. Auch die alten Begriffe von »Unterricht« sind ersetzt durch Begriffe wie »Lehr-Lern-Szenarien« und »Lernumgebung«. Schüler*innen als sich entwickelnde Individuen tauchen immer weniger in diesen kompetenz- und digitalisierungsgetriebenen Modellen auf. Und das Unheimliche ist ja, dass gerade jetzt der Individualisierungsbegriff Konjunktur hat.

 

Im politischen Bildungsdiskurs ist die Rede vom Erwerb einer digitalen Kompetenz durch die Schüler*innen oder von der Optimierung der Lernprozesse durch Digitalisierung. Hat das denn keine emanzipatorische Dimension?

Schulz: Ich würde den Optimierungsbegriff auch innerhalb eines technisch-neoliberalen Dispositivs sehen: das spätmoderne Subjekt soll sich ständig selbst optimieren, selbst steuern. Die Außensteuerung des alten Systems wird nach innen verlegt. Und das beobachten wir nicht nur bei uns selbst, sondern auch bei den Schüler*innen. Das erzeugt enormen Stress, sich ständig selbst zu kontrollieren, selbst zu optimieren, zu fragen: »Wo stehe ich?« Das hat für mich mit Individualität in einem emphatischen Sinne nichts zu tun. Individuelle Bildung braucht zum einen viel mehr Ruhezonen als die Jugendlichen heute haben, und zum anderen können sich Menschen nur im Kontakt mit anderen bilden. Wenn man jetzt zunehmend Unterrichtsszenarien so gestaltet, dass Schüler*innen alleine vor Laptops und Tablets sitzen, bin ich sehr skeptisch, ob das eine starke Individualität erzeugt. Wir wissen ja auch: Die Mediennutzungszeiten von Jugendlichen liegen bei bis zu acht Stunden am Tag. Die sozialen Netzwerke dezentrieren und destabilisieren, sie arbeiten der Individualität und einem starken Selbst entgegen. Für mich sind Begriffe wie »Individualisierung« im Kontext der Digitalisierung nur Marketingbegriffe.

 

Ist auch ein positiver Einsatz von digitalen Medien in Schule denkbar?

Schulz: Es gibt sicherlich Aufgaben – vor allem in den Naturwissenschaften –, die man rechnergestützt machen kann und muss. Ich habe mir an unserer Schule beispielsweise zeigen lassen, was man mit einem 3D-Drucker machen kann. Der hat in Physik einen Ort. Ich unterrichte mit Latein eine Schriftsprache, und da wüsste ich keinen großen Nutzen von Digitaltechnik. In meinem Medientheoriekurs in der Oberstufe benutze ich sie aber, nämlich unter anderem dazu, mit Schüler*innen über Digitalisierung nachzudenken. Wir untersuchen zum Beispiel gamifizierte Lernprogramme, um zu gucken: »Wie funktionieren sie?«, »Was bringen sie uns?«, »Welche Probleme gibt es da?« Wenn man das Thema »Medienmündigkeit« als wichtiges Thema entdeckt, kann man in einer reflexiven Form mit diesen Medien arbeiten, und das tue ich auch. Es gibt einen wesentlichen Grund, Lehrer*in zu sein: die Schüler*innen vertraut zu machen mit der Welt, in der sie leben. Und das heißt jetzt gerade, die digitale Revolution kritisch zu reflektieren, und auch was es heißt, in der Klimakrise zu leben.

 

Im Claudius-Verlag erschien kürzlich von Nils B. Schulz der Essay »Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik«.

shop.claudius.de/kritik-und-verantwortung.html

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46