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Schwerpunkt „Ukraine und Russland – Furchen eines Krieges“

Bildung unter Beschuss

Kateryna Maliuta-Osaulova von der Gewerkschaft der in Bildung und Wissenschaft Beschäftigten der Ukraine (TUESWU) berichtet, wie sich das Bildungssystem verändert hat.

Foto: Ministerium für Bildung und Wissenschaft der Ukraine

bbz: Welche Auswirkungen hat die russische Invasion auf das Bildungswesen in der Ukraine?

Kateryna Maliuta-Osaulova: Der Krieg in der Ukraine hat verheerende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Es gibt niemanden in der Ukraine, der die schrecklichen Folgen nicht zu spüren bekommen hat. Der Bildungsbereich ist mit anderen am stärksten betroffen. Nach offiziellen Angaben wurden 3.428 Bildungseinrichtungen beschädigt und 365 vollständig zerstört. Mehr als 800 Schulen befinden sich in den vorübergehend besetzten Gebieten.

Bisher starben über 500 Kinder, über 1.600 wurden verletzt. Diese Zahlen sind noch nicht endgültig. Es wird daran gearbeitet, sie in den umkämpften Gebieten, in den vorübergehend besetzten und den befreiten Gebieten zu ermitteln. Eine der schmerzlichsten Folgen dieses Krieges ist, dass er negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der ukrainischen Schüler*innen und Studierenden hat. Sie haben Traumata erlebt, die durch ständigen Luftalarm und Angriffe verursacht wurden.

Erschreckend sind auch Berichte über gefolterte Kinder und die Deportation von 19.500 ukrainischen Kindern nach Russland. Bislang wurden nur 500 zurückgebracht. Die Entführung der Kinder ist ein eklatanter Verstoß gegen die Menschenrechte und das Völkerrecht, was durch die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs bestätigt wurde.

Mehr als ein Viertel des ukrainischen Territoriums ist von den Russen vermint. Nach der Befreiung besetzter Gebiete ist es unmöglich, sofort in Bildungseinrichtungen und Häuser zurückzukehren. Dort sind Entminung und Wiederaufbau erforderlich. Selbst mit Hilfe ausländischer Expert*innen werden wir mehr als zehn Jahre brauchen, um alle Gebiete zu räumen.

 

Ist es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich, Bildung aufrechtzuerhalten?

Maliuta-Osaulova: Bildung findet vor allem dank der außerordentlichen Anstrengungen aller Ukrainer*innen statt. Pädagog*innen unterrichten die Schüler*innen in Luftschutzkellern, U-Bahn-Stationen und an anderen Orten. Eltern und Kinder suchen nach Möglichkeiten, im Ausland am Online-Unterricht teilzunehmen, oder auch in der Ukraine, während sie in Schutzräumen ausharren.

 

Wie sehen die Bedingungen in den umkämpften und vorübergehend besetzten Regionen aus?

Maliuta-Osaulova: Dort, wo Kämpfe stattfinden, gibt es keine Voraussetzungen, die Arbeit in den Bildungseinrichtungen aufzunehmen. Mehr als 70 Prozent der am Bildungsprozess Beteiligten wurden aus des umkämpften Regionen evakuiert. Wenn sich die Lage in diesen Regionen stabilisiert, wird die Entscheidung über die Arbeitsweise der Schulen von den örtlichen Militärverwaltungen getroffen.

Wir haben keinen Kontakt zu Pädagog*innen in den vorübergehend besetzten Gebieten. Das würde das Leben dieser Menschen gefährden, da die gesamte Kommunikation über Telefone und Internet von Russland kontrolliert wird.

 

Was passiert in den Schulen unter Besatzung?

Maliuta-Osaulova: Die Besatzungsbehörden zwingen die Lehrkräfte, nach russischen Standards zu arbeiten. Sie werden mit Folter, Verhaftung und Abschiebung nach Russland bedroht, wenn sie sich weigern, mit den Besatzer*innen zusammenzuarbeiten. Eltern, die ihre Kinder nicht zur Schule gehen lassen, wird gedroht, sie in Internate zu bringen.

Die ukrainische Sprache ist in Bildungseinrichtungen verboten. Auch ukrainische Literatur sowie die Geschichte der Ukraine sind von der Liste der Schulfächer ausgeschlossen. Die Lehrkräfte werden gezwungen, alle Fächer auf Russisch zu unterrichten. Ukrainischsprachige Lehrbücher und Bücher ukrainischer Schriftsteller*innen und Dichter*innen wurden vollständig aus den Bibliotheken der Bildungseinrichtungen entfernt.

Lehrkräfte in der Besatzungszone werden gezwungen, Unterrichtsstunden durchzuführen, in denen die russische Invasion gerechtfertigt wird. Es gab bereits Fälle von Verfolgung von Lehrkräften wegen ihrer pro-ukrainischen Haltung, ihrer Weigerung, mit den Besatzungsbehörden zusammenzuarbeiten, und ihrer Weigerung, nach russischen Lehrplänen zu unterrichten.

 

Viele Lehrkräfte, Schüler*innen, Studierende und Wissenschaftler*innen haben das Land verlassen. Welche Folgen hat das für das Bildungssystem?

Maliuta-Osaulova: Einige unserer Lehrkräfte, die im Ausland sind, arbeiten immer noch online und werden vom ukrainischen Staat bezahlt. Wenn wir Hilfeersuchen aus dem Ausland erhalten, bitten wir unsere Kolleg*innen in diesen Ländern, ihnen zu helfen.

Viele Lehrkräfte, die ins Ausland gegangen sind, bleiben dort und wechseln den Arbeitsplatz. Die Ukraine braucht hoch motivierte, gut bezahlte Lehrkräfte, die unsere Kinder trotz dieser schwierigen Umstände weiter unterrichten. Und die Lehrkräfte brauchen wettbewerbsfähige Gehälter und sichere Arbeitsbedingungen. Je länger dieser Krieg andauert, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie in die Ukraine zurückkehren. Ähnlich verhält es sich mit Studierenden und Jugendlichen. In ihren Aufenthaltsländern besuchen junge Menschen Schulen und Universitäten, sie werden eine hochwertige Ausbildung und die Stabilität erhalten, die sie für die Gestaltung ihrer Zukunft brauchen.

Wenn wir wollen, dass die Ukraine sich entwickelt und eine Zukunft hat, müssen diese Menschen in die Ukraine zurückkehren. Wir brauchen die junge Generation, um unser Land nach dem Krieg wieder aufzubauen.

 

Welche Rolle spielt eure Gewerkschaft im ukrainischen Bildungssystem?

Maliuta-Osaulova: Die Gewerkschaft TUESWU ist die wichtigste Organisation der Beschäftigten im Bildungswesen und der Studierenden in der Ukraine. Sie ist eine der größten Mitgliedsorganisationen des Gewerkschaftsbundes der Ukraine. Sie organisiert Lehrkräfte an Schulen, Beschäftigte von Kinderbetreuungseinrichtungen, Erzieher*innen, Professor­*innen und Dozent*innen von Hochschulen sowie Verwaltungs- und Hilfspersonal von Bildungseinrichtungen, Studierende und Rentner*innen. Im Januar 2023 hatte die TUESWU 22.300 Betriebsgruppen mit mehr als eine Million Mitglieder.

Die TUESWU kämpft für die Verbesserung des Lebensstandards der Beschäftigten, für höhere Löhne, ein angemessenes Arbeitsumfeld und den sozialen Schutz von Studierenden. Wir analysieren Gesetzes­entwürfe, die sich auf die Rechte und Interessen unserer Mitglieder auswirken, und übermitteln Vorschläge an die staatlichen Behörden.

 

Wie hat sich eure Arbeit seit Beginn des Krieges verändert?

Maliuta-Osaulova: Wir leisten finanzielle Unterstützung aus dem Solidaritätsfonds der Bildungsinternationale, von Gewerkschaften aus anderen Ländern sowie aus eigenen Mitteln für verwundete Mitglieder und die Familien getöteter Pädagog*innen sowie für diejenigen, die ihre Häuser verloren haben. Binnenflüchtlinge, die Gewerkschaftsmitglieder sind, erhalten ebenfalls finanzielle Unterstützung.

Dank der internationalen Solidarität führt unsere Gewerkschaft zahlreiche weitere Aktivitäten durch. So wurden 50 Generatoren für 12 Bildungseinrichtungen im westlichen Landesteil bereitgestellt. Derzeit wird ein Projekt zur Einrichtung eines Schutzraums in einer Schule in Kyjiw durchgeführt. Außerdem organisieren wir Sommercamps für ukrainische Kinder in Deutschland und Litauen, um den durch den Krieg verursachten Stress zu reduzieren.

Auch unter den Bedingungen des Kriegsrechts setzen wir unsere Aktivitäten in den Bereichen, in denen dies die Sicherheitslage zulässt, fort und kombinieren sie mit der humanitären Arbeit von Freiwilligen. Anfragen nach Unterstützung und Beratung haben zugenommen. Die Vertreibung von Pädagog*innen im ganzen Land, neue Lebens- und Arbeitsbedingungen und alle Arten von mobiler Arbeit – auch für diejenigen, die gezwungen waren, ins Ausland zu gehen – führen zu vielen Problemen.

In einigen Regionen haben sich die Gewerkschaftsbüros zu Drehscheiben für die Sammlung und Verteilung von humanitärer Hilfe und psychologischer Unterstützung entwickelt. Schulen, Kindergärten und Turnhallen wurden für die vorübergehende Unterbringung von Menschen aus dem Kriegsgebiet oder von Menschen, deren Häuser durch Bomben zerstört wurden, bereitgestellt.

 

Wie ist die Haltung der Gewerkschaft zu dem Widerstand gegen die Invasion?

Maliuta-Osaulova: Die Gewerkschaft ist allen aufrichtig dankbar, die den Staat verteidigen, sich freiwillig melden und helfen, die im diplomatischen Bereich arbeiten, Leben retten, Kommunikation herstellen, neue Generationen unterrichten und erziehen, die Welt über unseren Kampf und die Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Bevölkerung informieren und für einen Sieg arbeiten.

Ein wichtiger Aspekt der aktuellen Aktivitäten ist die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen sowie der internationalen Bildungsgemeinschaft, um über den Krieg zu informieren, Unterstützung zu leisten, den Druck auf das Aggressorland zu erhöhen und alle Mittel zur Deeskalation der Situation und zur Beendigung der Kämpfe einzusetzen.

 

Wie haben sich die Rechte der Arbeitnehmer*innen ent­wickelt?

Maliuta-Osaulova: Mit der Verhängung des Kriegsrechts zu Beginn des Krieges wurden die Arbeitsrechte eingeschränkt. Es hat daraufhin viele Änderungen in der Gesetzgebung gegeben. Zum Beispiel wurde die Arbeitszeit auf 60 Stunden verlängert, vor allem in Einrichtungen der kritischen Infrastruktur oder für Beschäftigte, die mit den Folgen von Bombardierungen zu tun haben. Arbeitsbefreiung an gesetzlichen Feiertagen wurde gestrichen. Die Dauer des Urlaubs ist für alle reduziert worden. Arbeitgeber*innen können Arbeitnehmer*innen jetzt, außer bei Schwangerschaft und Mutterschaftsurlaub, auch während des Urlaubs entlassen, etwa wegen des Verlusts des Arbeitsplatzes infolge eines Bombenangriffs. Gleichzeitig können Arbeitnehmer*innen jedoch ihren Arbeitsvertrag sofort kündigen, wenn sich ihr Arbeitsplatz in einem Kampfgebiet befindet. Die Änderungen bedeuten für Arbeitnehmer*innen erhebliche Kürzungen, fehlende Lohngarantien und unsichere Arbeitsplätze.

 

Was können Bildungsgewerkschaften international tun, um Kolleg*innen in der Ukraine zu unterstützen?

Maliuta-Osaulova: Jede humanitäre, finanzielle oder moralische Unterstützung unserer Mitglieder ist willkommen. Die Ukrainer*innen sind darauf angewiesen, dass die Welt aus allen möglichen Quellen das wahre Bild der brutalen russischen Aggression, des Völkermords und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erfährt und die Kosten dieses Krieges für die Ukraine versteht, damit alle bewussten Menschen im Ausland die ukrainischen Forderungen für Frieden unterstützen.   

 

Das Interview wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche übersetzt. Stand der Informationen: 10/2023

Weitere Informationen und Statistiken: https://saveschools.in.ua/en

Website der TUESWU: https://pon.org.ua/info-english

Kontakt
Markus Hanisch
Geschäftsführer und Pressesprecher
Telefon:  030 / 219993-46