Gewerkschaft
»Der Lehrkräftemangel ist eiskalte politische Fehlplanung«
So lief die erste zentrale Streikversammlung der GEW BERLIN in Berlins größtem Outdoorwohnzimmer.
Binnen weniger Minuten hat sich das Halbrund in ein rotes Meer verwandelt. Ein Spiel von Union Berlin? Die Bundesliga-Saison ist an diesem heißen Sommertag Anfang Juni bereits beendet und es sind auch keine roten Plastiksitze, auf denen die Menge sitzt, sondern rohe Granitblöcke. Die gut 1500 streikenden Kolleg*innen haben sich ihre Trikots in Form von Streikwesten übergestreift, rote Kappis sind der Fußball-Schalersatz. Sie sitzen in Berlins größtem Outdoorwohnzimmer, dem Mauerpark; im Amphitheater, wo sonst jeden Sonntag einige Mutige beim Karaoke die innere Rampensau entfesseln.
Die fußballähnliche Kulisse im ehemaligen Grenzstreifen zwischen Prenzlauer Berg und Wedding ist eine Premiere. Es ist die erste zentrale Streikversammlung der GEW BERLIN. Die Atmosphäre kann durchaus mit einem Fußballspiel mithalten. Das Gemeinschaftsgefühl ist ansteckend und entfacht eine innere Kraft, das große Ziel zu erreichen. Auch Artur Gorlatschov von der Thomas-Mann-Grundschule (Prenzlauer Berg) hat mit seinen ehemaligen Kolleginnen Astrid Kaiser und Denise Feske auf dem Halbrund Platz genommen und blickt gespannt in Richtung Bühne.
Die GEW-Tarifexpertin Anne Albers begrüßt das rote Meer und nennt die Dinge gleich beim Namen.
»Der Lehrkräftemangel ist eiskalte politische Fehlplanung. Es muss Schluss sein mit dem Taktieren. Wir brauchen Verbindlichkeit in Form eines Tarifvertrages.« Riesiger Applaus. Den Nerv der Kolleg*innen trifft Albers auch mit dieser Aussage: »Die neue Bildungssenatorin will, dass mehr Lehrkräfte in Vollzeit unterrichten. Wir sagen: Der Weg zur Vollzeit führt nur über Freiwilligkeit, kleinere Klassen und eine Arbeitszeiterfassung.«
Eine Frage, die im offenen Mikro oft diskutiert wurde, war: »Wie werden wir mehr?«. Anne Albers drückt es so aus: Wie schaffen wir es den Druck zu erhöhen, ohne den eigenen Druck auf uns zu erhöhen? Sie beantwortet die Frage mit einer Metapher: »Es ist wie im Flugzeug. Man muss sich erst selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen und dann anderen helfen zu können. Artur Gorlatschov plagt das Pflichtgefühl seinen Schüler*innen gegenüber bei jedem Streik. An seiner Schule gibt es einen harten Streikkern von fünf bis sieben Kolleg*innen. »Viel fehlt eine klare Sicht-Perspektive hin zu einem Tarifvertrag. 14 Streiktage und keine Antwort vom Senat«, sagt Gorlatschov. Ob es diese Perspektive so schnell geben wird? Für die Bezahlung der Grundschullehrkräfte nach E13 waren wir mindestens 17 mal auf der Straße, weiß ein Kollege zu berichten. Und Thomas Weiske, Lehrer am OSZ Knobelsdorff, erinnert an den historischen 16-wöchigen Ausstand der IG Metall für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956: »Tarifauseinandersetzungen brauchen Zeit.«
Mehrere Kolleg*innen fordern in Wortbeiträgen den Ausstand auszuweiten sowie eine klare Eskalations-Strategie bis hin zum Erzwingungsstreik. Wiederum andere Teilnehmer*innen berichten, dass längere Streiks bei ihren Kollegien zu einer sinkenden Beteiligung führen würden. Viel Zustimmung von allen Seiten gibt es für die Bemühungen, mehr Schüler*innen und Eltern mit »auf die Straße zu nehmen« und einen Weg zu finden, dass Erzieher*innen mitstreiken können. Allein der Bezirk Pankow hat innerhalb weniger Tage 700 Unterstützungs-Unterschriften online und auf Papier von Eltern gesammelt. »So ein richtiger SchulGeneralstreik. Das wär’s«, sagen die ehemaligen Kolleginnen von Artur Gorlatschov, Astrid Kaiser und Denise Feske, die jetzt an einer Schule im Wedding unterrichten. Sie werden weiter streiken.
Und wer hat ein Patentrezept gegen den Lehrkräftemangel? Eine Satire-Einlage der Impro-Theatergruppe »samt & sonders« verspricht schnelle Abhilfe: »Das ist mein neues Klassenzimmer. Ich habe fünf Bildschirme für fünf Klassen. Ich gebe ihnen Frühs Aufgaben via Chat und dann stelle ich alles stumm. Läuft super.«
Darf der Senat mit der GEW BERLIN überhaupt Tarifverhandlungen führen?
Es gibt mehrere Bundesländer (darunter auch Berlin), die in der Vergangenheit sehr wohl eigenständige, landesspezifische Regelungen erlassen haben.
- Von 2011 bis 2022 zahlte Berlin allen angestellten, voll ausgebildeten Lehrkräften die Zulage zur Erfahrungsstufe 5. Begründet wird dies auf der Gehaltsabrechnung mit §16 (5) TV-L, obwohl dieser maximal eine Vorweggewährung von zwei Stufen vorsieht.
- Für IT-Kräfte und Ärzt*innen beschließt die Tarifgemeinschaft die Erlaubnis außertarifliche Zulagen von bis zu 1.000 Euro.
- Ärzt*innen erhalten seit 2019 TV-L widrig Arbeitsverträge mit höheren Eingruppierungen als vereinbart.
- Bayern hat 2009 einen Tarifvertrag über eine Ballungsraumzulage vereinbart. Dieser fand auch 2022 noch Anwendung.
- Seit 1.11.2020 wird allen Berliner Landes-Beschäftigten bis A/E13 die Berlin-Zulage von 150 Euro monatlich gezahlt. Berlin wurde daraufhin das Stimmrecht in der TdL entzogen. Wenn bis Ende 2025 die Zulage nicht zurückgenommen wird oder es eine andere Einigung gibt, wird Berlin aus der Tarifgemeinschaft ausgeschlossen.
Und das Berliner Arbeitsgericht stellte 2013 sogar fest, dass Berlin eigenständige Tarifverhandlungen mit der Gewerkschaft führen darf. Wir geben uns nicht damit zufrieden, dass der Arbeitgeberverband unser Tarifvorhaben für nicht umsetzbar hält. Die Geschichte der Tarifauseinandersetzungen lehrt uns: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg: von der Fünf-Tage-Woche bis zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Wir kämpfen für faire und gesunde Arbeitsbedingungen.
Ist die Forderung nicht unrealistisch bei dem Lehrkräftemangel?
Die Berliner Politik hat seit Jahren hat viel versprochen und nur wenig gehalten. Bis 2022 sollten jährlich 2.000 Absolvent*innen mit Lehramtsabschluss die Unis verlassen. Auch der Koalitionsvertrag sah das vor. Dieses Ziel wurde deutlich verfehlt. 2021 waren es gerade einmal 898 Absolvent*innen. 2022: 917 Absolvent*innen. Hätte der Senat sein Versprechen gehalten, hätten wir zum Schuljahr 2023/24 rund 6.600 Lehrkräfte mehr und damit ein Plus von 19 Prozent. Unsere Forderung nach kleineren Klassen hätte so problemlos erfüllt werden können. 3000 Lehrkräfte müsste Berlin jährlich ausbilden. Bis 2030 verlassen mehr als 10.000 Berliner Lehrkräfte aus Altersgründen den Beruf. Wer folgt ihnen nach, wenn die schlechten Bedingungen das Arbeits- und Lernklima belasten?
Darum brauchen wir einen Tarifvertrag. Nur ein Tarifvertrag bringt eine verbindliche und einklagbare Regelung. Der Arbeitgeber ist an den Tarifvertrag gebunden und kann sanktioniert werden. Über 80.000 Lehrkräfte könnten in Deutschland schon bald fehlen – während die Zahl der Schüler*innen weiter steigt. Schon jetzt sind mehr als 12.000 Stellen unbesetzt. Die Bundesländer werben sich gegenseitig die Lehrkräfte ab. Dabei rücken Arbeitsbedingungen und Klassenfrequenzen in den Fokus. Was es braucht, ist es massives Investment in den Beruf!