Gewerkschaft
Die Abwicklung der Wissenschaft in Ost-Berlin
1989 war ein aufregendes Jahr, auch für die Berliner Wissenschaftslandschaft. Unsere Autorin blickt zurück, wie in der Folge die Ostberliner Wissenschaft abgewickelt wurde – gegen den Widerstand der GEW BERLIN.
Die bundesweite GEW-Delegation zur Erarbeitung eines gemeinsamen Textes zur Friedenserziehung, der ich angehörte, musste im Sommer 1989 das Scheitern der Verhandlungen mit der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung der DDR feststellen. Daraufhin entschied sich die GEW dafür, einen eigenen Text in einer vollen Kirche in Ost-Berlin vorzustellen. Wegen unserer Kontakte zur unabhängigen Friedensbewegung in der DDR standen wir unter Stasi-Beobachtung, was ich jedes Mal am Grenzübergang zu spüren bekam, weil ich und auch alle anderen GEW-Mitglieder in dieser Gruppe einen »Verfolger« zur Seite gestellt bekamen.
Dann kam es Schlag auf Schlag: Am 9. November 1989 wird die Grenze geöffnet und noch Anfang Dezember kann ich das erste Mal die Humboldt-Universität betreten, um an einem Friedensforschungskolloquium teilzunehmen. Eröffnet wird das Kolloquium von Heinrich Fink, der 1990 als Rektor der Humboldt-Universität gewählt, vom Wissenschaftssenator abgesetzt und von dem später bekannt wird, dass er IM war. Nach einer turbulenten Zeit mit gemeinsamen Diskussionen und Beratungen mit Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen der DDR wird auf der Mai-LDV 1990 ein Beschluss zur Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Wissenschaft (GW) der DDR gefasst. Ich fahre nach Ost-Berlin, um mich mit der (letzten) GW-Vorsitzenden Larissa Klinzing zu treffen. Ihr Büro ist in einer noblen Adresse Unter den Linden. Wir verstehen uns auf Anhieb und vertiefen uns in eine Diskussion über die Lehrer*innenbildung in der DDR und in West-Berlin und in die Frage, wie es weitergehen wird mit der Zusammenarbeit.
Im Juni ruft die GEW BERLIN zum individuellen Beitritt in die GEW auf und kündigt an, eine eigene Abteilung Wissenschaft zu schaffen. Eine Verhandlungskommission soll den Beitritt der GW zur GEW vorbereiten, die Realisierung wird bis zum 1. Januar 1991 angestrebt.
Sorge um den Arbeitsplatz
Die Abteilung Wissenschaft wird eingerichtet und dafür die Satzung geändert. Die Abteilung Wissenschaft wird strukturell einem Bezirk gleichgestellt, mit eigenen Mitgliedern und Finanzen.
Zahlreiche Kolleg*innen aus dem Wissenschaftsbereich treten in die GEW ein und verbinden das mit vielen Hoffnungen auf eine Demokratisierung.
Aber die inhaltlichen Diskussionen werden schnell überlagert durch die Sorgen um den Arbeitsplatz, denn im Dezember 1990 fasst der Senat von Berlin weitreichende Beschlüsse zur Abwicklung von Fachbereichen der HU und von Instituten, bei denen eine DDR-nahe Grundeinstellung und Ideologie zu Recht angenommen wird, wie Jura, BWL, Marxismus-Leninismus, Kriminalistik. Damit wird klar, dass der Hochschulbereich der DDR in seiner Personalstruktur und bei Berufungen grundlegend umgekrempelt, bezeichnet als »Umgestaltung«, bei den Forschungsinstituten weitestgehend »abgewickelt« werden soll.
Abwehrkampf gegen Abwicklung
Nun müssen Proteste organisiert und Aufrufe verfasst werden, aber diese zeigen keine Wirkung. Zu fest ist der politische Wille, Westberliner (und westdeutsche) Strukturen auf Ostberlin zu erstrecken, was sich letztlich durch die Mantelgesetze, die nacheinander im Abgeordnetenhaus beschlossen werden, und durch den Einigungsvertrag vom 3. Oktober 1990 manifestiert. Noch am Vorabend der parlamentarischen Beschlussfassung fahre ich mit Hilde Schramm zu unserer ehemaligen Berliner GEW-Stellvertreterin Sybille Volkholz, jetzt Bildungssenatorin, ins Abgeordnetenhaus für ein Gespräch darüber, wie man die positiven Elemente der DDR-Lehrerausbildung (zum Beispiel die Praxiszeiten im fünften Jahr) retten könnte. Aber der Druck auf eine Übernahme sowohl der Schulstrukturen als auch der Lehrer*innenbildung ist zu groß, denn »sonst würde mit den Füßen abgestimmt werden«, so die eingängige Begründung.
Auch der neue Senat von Berlin entscheidet sich im Januar 1991 zur Schließung der Hochschule für Ökonomie sowie zahlreicher Fachbereiche der Humboldt-Universität. Für die Abteilung Wissenschaft hat das zur Folge, dass sich die Arbeit auf die Entwicklungen des Arbeitsmarktes und die Vorlage von Forderungen für Nachqualifizierungen und Sonderprogramme für die im Rahmen der Umstrukturierung arbeitslos gewordenen Akademiker*innen konzentriert.
Gespannt treffen wir uns im September 1991 mit dem Wissenschaftssenator Manfred Erhardt (CDU), um die Standpunkte der GEW BERLIN darzulegen: Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Einhaltung des Tarifvertrags BAT-O an den Ostberliner Hochschulen, Gründung neuer Fachhochschulen. Auch wenn die Atmosphäre freundlich ist, verspricht der Senator nichts.
Im Oktober 1991 findet die Mitgliederversammlung der Abteilung Wissenschaft mit 300 Teilnehmer*innen statt. Themen sind die Abwicklung der Akademie der Wissenschaften und das Personalüberleitungsgesetz, die Einhaltung des BAT-O, sowie die Forderung nach spezifischen Betreuungsmöglichkeiten bei der GEW für arbeitslos gewordene Akademiker*innen.
Und es geht weiter mit unserem Abwehrkampf, denn inzwischen werden die Empfehlungen der Kommission zur Zukunft der Berliner Hochschul- und Wissenschaftslandschaft durch einen Senatsbeschluss umgesetzt. Vorgesehen ist die Abwicklung der Fachbereiche Rechtswissenschaft, Wirtschaft, Geschichte, Erziehungswissenschaft, Philosophie und des Konferenzzentrums in Gosen. Die Sektion Marxismus-Leninismus an der HU hat sich inzwischen selbst aufgelöst. Diese vorgesehenen Abwicklungen – so eine Prognose – werden zu einem Abbau von 1.361 Stellen und 586 befristeten Stellen in drei Jahren führen, also zu einem gewaltigen Aderlass bei den Akademiker*innen des DDR-Hochschul- und Wissenschaftsbetriebes.
Starke Interessenvertretung notwendig
Im Januar 1992 hat die Abteilung Wissenschaft 3310 Mitglieder. Zum Vergleich: Im Jahr 1989 wurden zum Referat E 560 Mitglieder gezählt. Damit ist sie nun die mitgliederstärkste Untergliederung der GEW BERLIN. Darunter sind viele Studierende und arbeitslose Mitglieder, die von der GEW eine starke Interessenvertretung erwarten.
Im Oktober 1992 beginnt der Wahlkampf zu den Personalratswahlen im Hochschulbereich. Die Probleme der Personalübernahme gemäß Hochschulrahmengesetz (HRG) und die Kündigungen der nicht HRG-konformen Beschäftigungsverhältnisse stehen dabei im Mittelpunkt.
Im Januar 1993 wird der Personalrat der HU gewählt. Die GEW-Liste ist erfolgreich und erringt neun Sitze, sechs Sitze gehen an die ÖTV, damit kann die GEW den Vorsitz des Personalrates stellen, ein großer Erfolg für uns.
Im Oktober 1993 schlagen die drastischen Kürzungen für Arbeitslose und für vom Auslaufen der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bedrohte Kolleg*innen durch. Die Abteilung Wissenschaft verzeichnet jetzt 25 Prozent arbeitslose Mitglieder und konzentriert sich auf die Organisation von Beratungen und Schulungen.
Insgesamt war diese Zeit des Umbruchs vor allem eine Zeit des Kampfes gegen Abwicklungen von Wissenschaftseinrichtungen in Ostberlin und gegen die Arbeitslosigkeit von Ostberliner Kolleg*innen aus den Hochschulen und den Forschungseinrichtungen. Die Politik der CDU im Wissenschaftssenat hat dazu geführt, dass alle Strukturen im Wissenschaftssystem rigoros den westdeutschen Strukturen angepasst wurden und nicht nur aus ideologischen Gründen akademisches Personal in die Arbeitslosigkeit ohne Perspektiven auf eine Weiterbeschäftigung rutschte. Wo die GEW BERLIN konnte, hat sie dagegen protestiert und Hilfen in Form von Beratungen, Unterstützungen und öffentlichen Aktionen angeboten, wenn auch viel zu oft ohne Erfolg. Dennoch wurde sie in dieser Zeit als ernsthafter und qualifizierter Part in der politischen Debatte wahrgenommen, deshalb haben sich alle Bemühungen gelohnt. Der Einsatz der GEW für die Mitarbeiter*innen in Ost und West kann gar nicht genug gewürdigt werden.